"Als Gott die Länder verteilte und alle Völker dafür zusammen kamen, feierten die Georgier gerade mal wieder ein Fest. Sie tranken und sangen und vergaßen ihre Verabredung mit Gott. Doch der war von ihrer Fröhlichkeit und ihre Lebensfreude so gerührt, dass er ihnen das Gebiet schenkte, das er eigentlich für sich reserviert hatte. Und so kam das georgische Volk zu seinem Land, das es Sakartvelo nannte – das Land der Kartvelier."
Die Georgier sind passionierte Erzähler – und dieser Gründungsmythos ist ihre Lieblingsgeschichte. So sehen sie sich selber gern – und sie haben viele Gründe auf ihrer Seite: ihren Gesang, ihren Wein, ihre Kochkunst, ihre Lebensfreude und die Schönheit ihrer Natur. Doch würde man hierzulande eine Straßenumfrage wagen, wer wüsste schon zu sagen; wo es liegt, dieses Georgien, das in diesem Jahr Gastland der Frankfurter Buchmesse ist? Wer wüsste darüber hinaus, was ein Name wie Sakartvelo bedeutet oder: dass die Hauptstadt Tiflis eigentlich Tbilissi heißt? Nur wenige Deutsche haben Bilder vor ihrem geistigen Auge, wenn sie "Georgien" hören. Am ehesten noch wissen sie, dass das Land im Kaukasus liegt, in der Nähe Armeniens und Aserbeidschans und im Westen an das Schwarze Meer grenzt. Das ist in Russland ganz anders. Als der amerikanische Autor und Journalist John Steinbeck kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gemeinsam mit dem Fotografen Robert Capa durch die Sowjetunion reiste, machte er folgende Erfahrung:
"Wo wir auch in Russland waren, stets fiel der magische Name Georgien. Menschen, die niemals dort gewesen waren und die wahrscheinlich niemals würden dorthin gehen können, sprachen von Georgien mit einer Art Sehnsucht und mit großer Bewunderung. In ihren Erzählungen waren die Georgier Übermenschen, große Trinker, große Tänzer, große Musiker, große Arbeiter und Liebhaber. Und sie sprachen von dem im Kaukasus und am Schwarzen Meer gelegenen Land als einer Art zweiter Himmel. Wir begannen tatsächlich zu glauben, dass die meisten Russen hoffen, wenn sie ein sehr anständiges und tugendhaftes Leben führten, kämen sie nach dem Tod nicht in den Himmel, sondern nach Georgien."
Buchtipp: John Steinbeck/John Capa: Die Russische Reise. Unionsverlag.
Die Geschichte Georgiens
Für die Autoren der griechischen und römischen Antike bestand das heutige Georgien aus zwei Ländern, Iberien im Osten und Kolchis im Westen, dem sagenhaften Land des Goldenen Vlieses und der so heilkundigen wie rachsüchtigen Medea. Der Name Sakartvelo, den die Georgier selbst bis heute benutzen, kommt im frühen Mittelalter auf und leitet sich vom mythischen Gründervater Kartlos ab, einem Nachkommen von Noahs Sohn Japheth. Und "Georgien", der Name, der sich weltweit durchgesetzt hat, geht auf das Persische zurück und bedeutet ursprünglich: "Das Land der Wölfe". Daraus machten die Kreuzritter Georgien, das Land des heiligen Georg. Sie dachten fälschlicherweise, dass dieser Heilige, der dort sehr verehrt wird, das Land christianisiert habe. Ähnlich fehlgeleitet, vermuteten europäische Reisende des 17. Jahrhunderts, der Name ginge auf das Griechische georgos, den Ackerbauern, zurück. In all diesen Bezeichnungen und Erklärungen, ob wahr oder nicht, versteckt sich jedoch ein tieferer Sinn: Die grandiose Wildheit der Berge des Kaukasus im "Land der Wölfe", die Fruchtbarkeit mit ihren Obstgärten und dem Weinbau im "Land der Bauern" und die christliche Tradition im "Land des Heiligen Georg" oder dem "Land der Kartvelier".
Um mehr über die frühe Geschichte der Georgier und ihre Kultur zu erfahren, treffen wir uns mit Zaal Andronikashvili. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin und Professor an der Staatlichen Ilia-Chavchavadze-Universität von Tiflis, oder, wie die Georgier selber sagen: Tbilissi. Die frühe Entscheidung für das Christentum im vierten Jahrhundert sei für die Identität und Kultur seines Landes prägend gewesen, sagt er, denn das kleine Georgien musste sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder überlegen, in welche Richtung es sich auf dieser Landbrücke zwischen Europa und Asien orientieren wollte, auf der es nun mal liegt.
"Das war eine dieser geschichtsträchtigen Auswahlentscheidungen zwischen Persien und Byzanz, also den damals beiden Großreichen. Und das Christentum hat im Grunde genommen georgische Kultur sehr tief geprägt, weil wir unsere Schrift dem Christentum verdanken. Diese Schrift ist entstanden überhaupt, um die Bibel ins Georgische zu übersetzen. Und es hat natürlich die Kultur dann mehr oder weniger nicht nur beflügelt, sondern überhaupt erst begründet."
Die georgische Kultur, meint Zaal Andronikashvili, musste sich schon immer im Spannungsfeld zwischen dem christlichen Byzanz, dem es aufgrund der Religion am nächsten stand, und dem muslimischen Persien, den Arabern und den Mongolen, die immer wieder ins Land einfielen, behaupten.
Shota Rustavelis Epos 'Der Recke im Tigerfell' ist bis heute berühmt: mit seinen beiden Liebespaaren, der arabischen Prinzessin Thinathin und dem georgischen General Awthandil sowie der indischen Prinzessin Nestan Daredschan und dem georgischen Prinzen Tariel, dem Recken im Tigerfell, zeigt es die tiefen kulturellen Verbindungen, die das Land auch in den Osten hinein besitzt. Bis ins 20 Jahrhundert hinein wurde die Geschichte um Prinz Tariel vor allem mündlich von Generation zu Generation weitergetragen, ist also nicht nur höfische, sondern auch wahre Volksdichtung.
Buchtipp: Schota Rustaweli: Der Held im Pardelfell. Nacherzählt von Tilman Spreckelsen. Galiani Verlag, Berlin.
Sie hat u.a. dafür gesorgt, dass Georgien auch unter widrigen Bedingungen ideell weiter existierten konnte: es hat die Pest und den Mongolensturm überlebt, die Übergriffe der Perser und Osmanen, die Eingliederung der georgischen Reiche und Fürstentümer in das Russische Reich nach 1801 und die Jahre der Sowjetunion. Laut Zaal Andronikashvili nicht zuletzt wegen eines besonderen Talents zur Freude:
"Es gab einen sehr guten georgischen Philosoph, georgisch-russischen, sowjetischen kann man auch so sagen: Merab Mamardashvili. Der hat diese Facette der georgischen Kultur "Talent der illegitimen Freude" genannt. Das ist etwas, das über die lange Dauer, ich würde sagen über 800 Jahre, 900 Jahre immer wieder in der georgischen Kultur auftaucht und dafür, was es zum Beispiel nicht gibt: es gibt kaum einen Sinn des Tragischen. Also es gibt keine georgische Tragödie. Anders als Griechen: sie sehen die Welt, also die Georgier sehen die Welt etwas untragisch. Ich würde nicht sagen komisch, also im Sinne der Komödie, aber es gibt immer so einen Grenzfall, der zwischen dem Tod und Leben, und auf diesem schmalen Grat sozusagen, versucht diese Kultur durchzugehen."
Diesen heiteren, weltzugewandten Sinn der Georgier hat auch John Steinbeck erfahren. Der amerikanische Nobelpreisträger reiste 1947 mit dem Fotografen Robert Capa durch die Sowjetunion.
"Wir fuhren über die flache, dürre Ebene zu einem Paß in den Bergen. Und in diesem Paß befindet sich Tiflis, eine wunderschöne Stadt, die seit vielen Jahrhunderten am Hauptreiseweg von Süd nach Nord liegt. Die Hügelketten auf beiden Seiten sind von historischen Befestigungsanlagen gesäumt, und sogar die Stadt wird von einer auf einem Hügelkamm liegenden Burg beherrscht. Auch auf der anderen Talseite liegt eine Festung, denn durch diesen schmalen Paß zwängten sich alle Volksgruppen hindurch – Perser, Iraner, Iraker aus dem Süden und Tataren und andere Marodeure aus dem Norden. Die Sommernächte in Tiflis waren wunderbar, die Luft mild und leicht und trocken. Junge Männer und Frauen schlenderten ziellos durch die Straßen und amüsierten sich. Von den hohen Balkonen der alten Häuser konnten wir in der Nacht seltsame Musik erklingen hören, leisen Gesang, von einem Zupfinstrument begleitet, das wie eine Mandoline klang, und gelegentlich ertönte in einer dunklen Straße eine Flöte. Die Georgier schienen uns entspannter zu sein als alle Menschen, die wir hier bisher erlebt hatten, entspannt und leidenschaftlich und voller Lebensfreude."
Ein georgisches Volkslied, gesungen von Hamlet Gonashvili, einem der Helden des georgischen Gesangs, und seinem Ensemble:
Georgien und die Musik
"Was die Georgier singen, ist wichtiger als alle Neuentdeckungen der modernen Musik. Es ist unvergleichlich und einfach. Ich habe nie etwas Besseres gehört…"
…meinte der russische Komponist Igor Strawinski. Damit meinte er weniger die einstimmig gesungenen Lieder eines Hamlet Gonashvili, den wir eben gehört haben, sondern den mehrstimmigen Gesang, der sich in Georgien über die Jahrhunderte entwickelt hat. Dieser polyphone georgische Gesang, ob in der Kirche oder bei Volksfesten und in der Familie gepflegt, gehört zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit.
Das Besondere am georgischen Musiksystem: die Melodien unterliegen keiner bindenden Tonart und kennen eine größere Bandbreite von Zwischentönen als wir sie haben. Über Jahrhundert fast nur mündlich tradiert, verlangen Sie von den Musikern ein starkes Einfühlungsvermögen. Die einzelnen Sänger müssen sich in viel stärkerem Maße "aufeinander einlassen" als es in westlichen Chören der Brauch ist, denn es geht nicht darum, im Einklang zu sein, sondern den jeweils anderen Gesang passend zu begleiten ohne die Eigenständigkeit zu verlieren. Für "westliche" Ohren kann sich das ab und an auch dissonant anhören, sagt Rezo Kiknadze, Leiter des Tifliser Konservatoriums:
"Georgische Polyphonie ist modal, hat keine funktionelle und tonale Eigenschaften, so ist sie eher mit der älteren Zeit der europäischen Polyphonie ziemlich gut zu vergleichen. Es gibt sogar Neigung manchmal zu denken, dass dies alles, die Entwicklung, zusammen passierte. Nur dann blieb Georgien isoliert und musste mit eigenen, anthropologisch bedingten Neigungen zur Polyphonie und eigenen Vorstellungen über Harmonie weiterkommen, weil der Austausch nicht mehr stattfand durch politische Isolierung, also kochte es in eigener Soße, quasi."
Der Georgier an sich ist musikalisch, immer bereit zu Gesang und Tanz, ist das aber nicht auch ein Klischee? Rezo Kiknadze, der nicht nur der Rektor des Tifliser Konservatoriums ist, sondern auch ein international anerkannter Saxophonist, meint:
"Es ist ein Klischee, aber kein so schlechtes. Das heißt, wenn irgendein Starregisseur plötzlich irgendwo im Ausland mit diesem Satz prahlen darf, ist doch gar nicht Schlechtes dran. Ich war noch Teenager, glaub ich, oder vielleicht schon Student, weiß nicht mehr, als sehr sehr erfolgreiches Tournee von dem Rustaveli-Theater unter der Führung von Robert Sturua in England Furore gemacht hat, und da hat man gefragt, wie können alle Eure Schauspieler so gut singen und tanzen? Und er sagt, ja, Georgier singen alle und das gehört zu ihrem Alltag. Wenn man jetzt georgische Volksmusik - und das ist ein völlig anderer Begriff als der für Deutschland, ja? – wenn man georgische traditionelle Musik anguckt, sich ansieht, sieht man, dass wirklich jeder Lebensumstand mit der Musik begleitet wurde, aus dem Repertoire jetzt heraus. Vielleicht nicht alle heute in Tiflis, nicht alle singen ein "Sari" – das ist so ein Klagelied, im georgischen Gebirge, in Westgeorgien – oder manche "Lamenti", das ist dann vergleichbare Tradition in Ostgeorgien. Es wird vielleicht nicht überall gemacht, in jeder Familie in Tiflis, aber in den Dörfern ist diese Tradition noch sehr stark, immer noch sehr stark. Und georgische Ethnologie-Studenten und unsere Ethnologie-Abteilung hat jedes Jahr alle Handvoll zu tun, weil in den Dörfern kann man immer noch Varianten und Beispiele herausfischen, die noch nicht bekannt waren."
Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts hatten einige hingebungsvolle Priester, Musiker und Wissenschaftler damit begonnen, die traditionelle Musik mittels Phonographen zu dokumentieren. Und auch außerhalb Georgiens und Russlands interessierte man sich für diese Musik. Deutsche Forscher nahmen während des Ersten Weltkriegs die Lieder georgischer Kriegsgefangener auf Wachszylinder auf: Die wissenschaftliche Beschäftigung mit den georgischen Liedern sei wichtig gewesen, um ihre Vielfalt zu bewahren, so Rezo Kiknadze – nicht nur vor dem Zahn der Zeit, der in jedem Land Traditionen in Gefahr bringt, sondern auch vor der Unterdrückung der georgischen Kirche durch Russland. Der Kirchengesang war, wie der Volksgesang, polyphon und nur bruchstückhaft schriftlich niedergelegt. 1811 hatte man die Eigenständigkeit der georgisch-orthodoxen Kirche abgeschafft und sie der russisch-orthodoxen zugeschlagen. Auf der Strecke blieb die georgische Liturgie – und viele der farbenfrohen Fresken in den georgischen Kirchen, die weiß übertüncht wurden. Eines dieser betroffenen Gotteshäuser war die Kirche Maria Himmelfahrt in der Festung Ananuri an der so genannten Georgischen Heerstraße, dem historischen Fernweg nach Russland.
1917, kurz vor Ende des 1. Weltkrieges, hatte sich die georgische Kirche wieder für unabhängig erklärt, nahezu parallel zur ersten Deklaration einer demokratischen Georgischen Republik im Jahr 1918. Doch anders als diese überlebte die orthodoxe Kirche die Bolschewisierung und die Eingliederung des Landes in die Sowjetunion. Seit dem Ende der Sowjetunion lebt der georgische Kirchengesang wieder auf – befördert durch viele Einzelinitiativen – wie dem Anchiskhati-Chor aus Tbililisi, sprich Tiflis, benannt nach einer kleinen Kirche in der Altstadt, in der die Sänger regelmäßig auftreten. Seine Mitglieder, allesamt Berufsmusiker, haben sich die Pflege nicht nur der sakralen Chormusik, sondern auch der Volkslieder zur Aufgabe gemacht – mit internationalem Erfolg. In diesem Jahr traten sie u.a. auch in der Hamburger Elbphilharmonie auf.
Rezo Kiknadze, der Leiter des Tifliser Konservatoriums, war selbst in den Anfängen einer der Sänger im Anchiskhati-Chor und betont neben der Vielfalt des kulturellen Lebens im ländlichen Georgien auch die multikulturelle Musiktradition der Hauptstadt. Heute boomen in Tiflis die Jazz- und die Elektroszene. Und mit dem Bassiani-Club hat das Berghain in Berlin ernsthafte Konkurrenz im Kampf um die Aufmerksamkeit der internationalen Hipsterszene bekommen.
Georgien und Deutschland: eine starke Bindung
Maia Panjikidze ist zwei Jahre lang Außenministerin ihres Landes gewesen. Zuvor hat sie als Übersetzerin gearbeitet und hat u.a. Stücke von Thomas Bernhardt ins Georgische übertragen. Wie kam Sie zur Deutschen Sprache?
"Das hängt mit meiner Familie zusammen und auch der Tradition, die es in meiner Kindheit in Georgien gab. Sie wissen wahrscheinlich: vor 200 Jahren sind viele Deutsche, vor allem Schwaben, nach Georgien gekommen und die haben sich niedergelassen hier und sie hatten einen sehr guten Ruf, weil sie sehr schön gewirtschaftet haben hier, Straßen gebaut haben und Häuser und so. Die sich sehr von den Häusern und den Straßen usw. und dem Lebensstil im Allgemeinen der Einheimischen unterscheidet hat und die Enkelkinder und die Urenkelkinder von den ersten Aussiedlern, das waren v.a. Frauen, die natürlich noch sehr gut Deutsch sprachen und sie haben Privatunterricht gegeben hier."
Unter anderem dem Vater von Zaal Andronikashvili, dem wissenschaftlichen Mitarbeiter am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin und Professor an der Staatlichen Ilia-Chavchavadze-Universität von Tiflis:
"Bis zum 2. Weltkrieg gab es ja ungefähr 40.000 Deutsche. was sehr wichtig war: Sie haben deutsche Sprache vermittelt und dadurch deutsche Kultur. Als Privatlehrer oder Privatlehrerinnen. Die hießen "Tanten". Mein Vater hatte eine solche Lehrerin, ich hatte eine solche Lehrerin. Deutschlandbezug in meiner Familie ist erst über diese Beziehung entstanden. Bei vielen Familien in Georgien. Und da ist mein Vater keine große Ausnahme. Und so war Deutschland aus diesen sehr vielfältigen Gründen ein Bezugsland. Wenn man an Europa dachte, dachte man vielleicht vor allem an Deutschland. Leider wurden die meisten Deutschen im Krieg von Stalin deportiert. Es ist nur ein Bruchteil geblieben. Die Deutschen in Georgien sind kaum 2.000 wahrscheinlich, aus diesen 40. bis 50.000, die es noch 1940 gab. Das ist natürlich schade. Denn sie haben einen großen Beitrag geleistet und man erinnert sich oft und gern an sie."
Ihre Dörfer hießen Elisabethtal, Katharinenfeld und Marienfeld. Von ihrem Erbe ist kaum etwas geblieben - und auch im ehemals deutschen Viertel von Tiflis erinnern nur noch ein paar Namen an die dort ansässigen Händler und Kaufleute. Manch älterer Tifliser geht allerdings immer noch "zum Semmel", wenn er sagen will, dass er zur Apotheke geht. Eugen Semmel hieß einer der ersten Apotheker der Stadt. Zaal Andronikashvili:
"Letztes Jahr wurde ja gefeiert das 100. Jahr der schwäbischen Kolonisten. Und das hat so ein bisschen engere Beziehung mit begründet. Es gab deutsche Dörfer. Es gab ein deutsches Viertel in Tbilisi. Das war vielleicht so der erste Schritt. Der zweite Schritt war, dass sehr viele georgische Intellektuelle im 19. Jahrhundert in Deutschland studiert haben: Begründer der modernen georgischen philosophischen Schule, Begründer der modernen Historiographie, der hat hier in Berlin bei Harnack studiert, Begründer der georgischen Psychologie, usw. Also die Gründungsväter der Universität mehr oder weniger, die 1918 gegründet wurde, haben fast alle deutsche Erfahrungen. Für die war Deutschland, wie soll ich das sagen, akademisches Bezugsland. Deutsch war ihre akademische Sprache und sie haben im Grunde das deutsche Universitätsmodell übernommen. Das war der zweite große Link. Der dritte große Link war, dass es Georgien als Land, also die Georgische Demokratische Republik 1918 nicht gegeben hätte ohne die damalige Unterstützung des Deutschen Reiches. Das Deutsche Reich hat im Grunde genommen die Gründung Georgiens anerkannt, unterstützt gegenüber dem damaligen Verbündeten Türkei und es auch durchgesetzt."
Georgien und Russland – ein schwieriges Verhältnis
Wie Georgien zu Beginn des 19.Jahrhundert zu Russland kam, ist nicht ganz leicht zu begreifen oder zu erzählen. Einen einheitlichen, starken georgischen Staat hatte es zuletzt im Mittelalter gegeben. Seit dem 13.Jahrhundert lagen verschiedene Königreiche und Fürstentümer fast durchgängig miteinander in blutigem Zwist. Zudem waren sie alle beinah immer in Abhängigkeit von mongolischen oder persischen Herrschern, die regelmäßig in Georgien einfielen und die Hauptstadt Tbilisi verwüsteten. Um eben das für die Zukunft zu verhindern, wandte sich der ostgeorgische König Erakli der II. 1783 mit der Bitte um Schutz an die russische Zarin Katharina II. Katharina, immerhin eine Schwester im orthodoxen Glauben, sollte Georgiens Sicherheit garantieren, die georgischen Herrscher aber auf ihrem Thron lassen. Ein Vertrag wurde unterzeichnet, doch seine Umsetzung erwies sich als schwierig. Zur Strafe für die Hinwendung zu Russland eroberte der persische Herrscher Aga Mohammed Khan Tbilisi 1795 ein letztes Mal. Er brannte die Stadt nieder und entführte 20.000 Menschen in die Sklaverei. 1801 ergriff Zar Alexander I dann die Gelegenheit und verleibte sich das schutzlose Ost-Georgien ein.
Militärische Gewalt war für den Anschluss kaum nötig. Trotzdem begann die Zaren-Herrschaft mit Gewalt und mit Versuchen, die georgische Kultur und Kirche zu unterdrücken. Die georgische Königs-Dynastie wurde abgesetzt und nach Russland deportiert, die Autonomie der georgisch-orthodoxen Kirche aufgehoben und die Verwendung der georgischen Sprache eingeschränkt. Mit dem Amtsantritt des aufgeklärten Generalgouverneurs Michail Worontsow 1845 änderte sich die rabiate russische Politik. Die georgische adlige Oberschicht wurde nun immer besser in die russische Oberschicht und ihre höfische Kultur integriert und schon bald waren die meisten georgischen Adligen nicht mehr widerstrebende Untertanen des russischen Zaren, sondern vollwertige und nützliche Akteure des Imperiums. Zum Beispiel waren georgische Soldaten und Offiziere unverzichtbar bei der Unterwerfung der widerständigen muslimischen Völker des Nordkaukasus nach 1850. Gleichzeitig entstand das moderne Tbilisi, die Stadt, wie wir sie heute kennen: 1876 hatte die Stadt 100.000 Einwohner. Allerdings: nur 20% davon waren Georgier. Es war eine kosmopolitische Stadt.
Ein sozialistisches Experiment
Russland und besonders seine Metropolen repräsentieren im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert für junge Georgier die Moderne, eine Verbindung nach Europa und eine reiche, vielfältige Kultur auf der Höhe der Zeit. Georgien war im Vergleich ein rückständiges Land. Gleichzeitig ist Russland ein repressiver Staat, in dem die Mehrheit der Bevölkerung von einer Minderheit unterdrückt wird: russische Bauern und Arbeiter genauso wie georgische. Genau wie für russische Altersgenossen sind es auch für georgische Studenten, Intellektuelle und Arbeiter immer häufiger sozialistische Ideen, die die besten Antworten auf die Probleme der Zeit zu bieten scheinen. Als Georgien 1918 mitten im Chaos von Weltkrieg und russischer Revolution die Chance ergreift und sich zu einer unabhängigen Republik erklärt, stecken dahinter ganz andere Ideen als 70 Jahre später am Ende der Sowjetunion. Es geht nicht um georgischen Nationalismus und nationale Unabhängigkeit, es geht um Sozialismus. Das Experiment einer unabhängigen sozialistischen Demokratie in Georgien wurde international aufmerksam beobachtet. Ihr gewalttätiges Ende durch den völkerrechtswidrigen Einmarsch der Roten Armee 1921 bestärkte u.a. den deutsch-tschechischen Sozialdemokraten Karl Kautsky in seiner Überzeugung, dass mit Kommunisten eine Zusammenarbeit grundsätzlich nicht möglich sei. Noch ein Jahr zuvor hatte die Regierung in Moskau das unabhängige Georgien per Vertrag anerkannt. Andere Länder standen offenbar vor einem ähnlichen Schritt. Doch es kam anders, wie der Literaturwissenschaftler Zaal Andronikashwili erklärt:
"Die Okkupation und die Besatzung folgte und das ist auch eine schwierige Geschichte, 1921, als die georgische demokratische Republik von den sowjetisch-russischen Truppen besetzt wurde. Diese Entscheidung war maßgeblich von Stalin, also einem gebürtigen Georgier und Ordschonikidze, einem weiteren gebürtigen Georgier, getragen. Die haben diese Armee mehr oder weniger angeführt, die Georgien besetzt hat und dann wurde Georgien 1922 zusammen mit Armenien und Aserbaidschan zu einem Teil der Sowjetunion gemacht. Das war nicht eine Entscheidung des Georgischen Volkes, es war eine Annexion, die einer militärischen Besatzung folgte. Es gab einen Aufstand 1924, aber es war jetzt keine große Resistance, später folgte dann der Stalin-Terror, da konnte man dann an Widerstand überhaupt nicht denken. … Und diese Erste Republik, die war schon sehr fortschrittlich, weil sie dann im Grunde genommen eine sozialistische Alternative zur Diktatur des Proletariats war. Ein sozialdemokratischer Staat, der eigentlich ein sehr großes Potential hatte – in vielen Hinsichten war die damalige Republik sehr viel basisdemokratischer als wir heute sind."
Die gewählte georgische Regierung musste ins Ausland fliehen. Grigol Robakidse beteiligte sich am Widerstand gegen die neuen kommunistischen Machthaber, der noch einige Jahre lang immer wieder aufflammte. Aber es nützte nichts: Georgien war wieder Teil eines Imperiums. Dessen Zentrum lag nicht mehr in St.Petersburg, sondern in Moskau. Doch ein ethnisch russisch dominiertes Imperium war auch die neue Sowjetunion nicht. Zu ihrer Führung gehören von Anfang sehr viel Georgier, allen voran Josef Stalin. Die georgische Sowjetrepublik selbst wurde ohnehin immer von Georgiern regiert. Georgisch war offizielle Amtssprache und auch die Schlächter, die 1937 in Georgien wüteten und große Teile der georgischen Intelligenz töteten, waren Georgier.
Unter Sowjet-Herrschaft
Die Sowjetunion war kein Imperium, in dem die Interessen und die Kultur nationaler Minderheiten zugunsten der russischen Mehrheit unterdrückt wurden. Eher trifft das Gegenteil zu, zumindest für Völker wie die Georgier, die über eine eigene Republik verfügten und anders als zum Beispiel die Wolgadeutschen im Zweiten Weltkrieg nie im Verdacht standen, eine Gefahr für die sowjetische Ordnung zu sein. Die georgische Nation war kein Opfer des sowjetischen Imperiums, sie war in vielem erst sein Produkt.
Die Sowjetunion hatte eine ländliche, weitgehend analphabetische Gesellschaft verwandelt in eine der am besten gebildeten Nationen der Welt. Aber die Errungenschaften der sowjetischen Intelligenzija steigerten nur ihre Unzufriedenheit mit den Parteibürokraten, die das Land regierten und auch in intellektuellen Fragen die letzten Entscheidungen trafen. … Georgiens zahlenmäßig große Intelligenz war ein Produkt des sowjetischen Staates, doch ihre Ambitionen provozierten Ende der 80er Jahre eine machtvolle Bewegung gegen das Imperium.
Die Hoffnung der sowjetischen Führung, dass es gelingen würde, die nationale Kultur der Georgier in den Dienst ihrer Ziele zu stellen, verkehrte sich genau in dem Moment in ihr Gegenteil, als das sowjetische Projekt in sich zusammenfiel. Die entscheidende Rolle spielte dabei das Geschichtsbild, dass die offizielle Sowjetunion für beinah jedes der in ihr lebenden Völker entwickelt hatte.
Die von Michail Gorbatschows Perestroika ausgelösten Demokratiebewegungen in den verschiedenen Sowjetrepubliken verwandelten sich nicht deshalb schnell in nationale Unabhängigkeitsbewegungen, weil die Sowjetunion ihre nationalen Minderheiten so massiv unterdrückt hatte. Die Demokratiebewegungen verwandelten sich in nationale oder nationalistische
Georgien nach der Sowjetzeit
Unabhängigkeitsbewegungen, weil die Nation eine Kategorie des Denkens war, die von der sowjetischen Kultur- und Geschichtspolitik über Jahrzehnte kultiviert worden war. Die Nation erschien als einzige Alternative zum verhassten sowjetischen System, der unabhängige Nationalstaat als Alternative zum Imperium. Wie stark das Denken in Kategorien von Nation und Volk Ende der 80er Jahre war, verdeutlicht eine Erzählung der Schriftstellerin Lana Gogoberidse. Gogoberidse war am 9. April 1989 Augenzeugin, als das sowjetische Militär eine friedliche Demonstration brutal auflöste. 19 Menschen starben in einer Massenpanik, die von mit Spaten bewaffneten Soldaten und dem Einsatz von Giftgas ausgelöst wurde.
Als Folge der blutigen Ereignisse vom 9. April radikalisierte sich die georgische Unabhängigkeitsbewegung weiter. Während zu Beginn der Perestroika noch liberale Intellektuelle wie zum Beispiel der Filmregisseur Tengis Abuladse mit seinem berühmten Film "Reue" die Diskussionen im Lande dominiert hatten, übernahmen nun zunehmend nationalistische Hardliner das Ruder. Die Führer der georgischen Unabhängigkeitsbewegung waren zwei Intellektuelle: der Literaturwissenschaftler Zviad Gamsachurdia und Merab Kostava, der am Konservatorium studiert hatte. Für beide gab es nur einen Ausweg aus der spätsowjetischen Krise: eine Rückkehr zum angeblich reinen, uralten kulturellen Erbe Georgiens, zu dessen Inbegriffen der polyphone Gesang, Rustaweli und vor allem die orthodoxe Kirche wurden. Die Nation sollte die Zukunft sein. Verstanden allerdings nicht als modernes, inklusives politisches Projekt, sondern als eine durch uralte Blutsbande unverbrüchlich existierende biologische Volksgemeinschaft. Das richtete sich nicht nur gegen die Sowjetunion und nicht nur gegen Russen, sondern gegen jede andere Volksgruppe, die in Georgien lebte. Hunderttausende Nichtgeorgier verließen in den folgenden Jahren das Land.
Die verheerenden Kriege um Abchasien und Süd-Osstetien vom Beginn der 90er-Jahre und der Krieg von 2008 prägen Georgien und das Verhältnis zu Russland bis heute. Die Situation ist verfahren, an den Grenzen kommt es häufig zu Entführungen und kleineren Konflikten, gegenseitige Schuldzuweisungen sind Routine. Eines scheint offensichtlich: Wenn Russland die beiden abtrünnigen Republiken nicht unterstützen würde, wäre es Georgien wohl schon gelungen, das wieder herzustellen, was es als seine rechtmäßige territoriale Integrität betrachtet. Doch auch unabhängig von russischen Provokationen sind die Unabhängigkeitsbestrebungen von Abchasen und Osseten kein Phänomen der nachsowjetischen Ära und können nicht nur mit russischem Imperialismus erklärt werden. Zumal der Konflikt auch den georgischen Eliten nützt: Antirussische Rhetorik eignet sich als Bindemittel für die eigene Gesellschaft und als Begründung für die vielen Probleme, die es beim Nation-Building gibt. Und Russland tut, was es immer schon gut konnte: Es liefert Gründe für antirussische Ressentiments. Aber bringt der scheinbare endlose Konflikt Georgien und seine in der großen Mehrheit bettelarme Bevölkerung voran?
Der Bildhauer, der 1981 den Mann mit der Sonne errichtete, den man auf dem Weg vom Flughafen hinein nach Tbilisi sieht, hieß übrigens Surab Zereteli. Er ist heute 84 Jahre alt. Vielleicht bietet seine erstaunliche Karriere Hoffnung auf Versöhnung und Ausgleich. 1983 errichtete Surab Zereteli gleich zwei riesige Monumente, die anlässlich des 200. Jahrestages des Vertrages von 1783 die georgisch-russische Freundschaft feiern sollten. Eins in Moskau und eins am Rand von Tbilisi. Das Moskauer Denkmal steht bis heute, das georgische wurde 1991 auf Anweisung von Zviad Gamsachurdia zerstört. Aber die Geschichte ging weiter. In den 90er Jahren wurde der als Kitsch-König verschriene Georgier Zereteli zum Lieblingsbildhauer des Moskauer Bürgermeisters Luschkow und zum Präsidenten der russischen Akademie der Künste. Doch seit einigen Jahren ist Zereteli auch wieder in seiner Heimat aktiv. Vor den Toren Tbilisis steht auf einem Hügel seine gigantische Komposition zur Geschichte Georgiens. Manche Besucher erinnert sie an Stone Henge. Und mitten im Zentrum von Tbilisi auf dem Freiheitsplatz steht Zeretelis Heiliger Georg. Dort, wo früher Lenin stand, das zentrale Symbol sowjetischer Macht.
Frauen in Georgien
Georgische Frauen leben in einem Land, das seine patriarchalen Strukturen jetzt erst abzustreifen beginnt. Eine jener modernen, international orientierten georgischen Frauen, die man in Tiflis überall trifft, ist Tamar Tandashvili. Sie ist Psychologin, Buchautorin und Aktivistin für die schwul-lesbische Szene. In ihren viel beachteten Romanen verarbeitet sie das, was sie in ihrer psychologischen Praxis erzählt bekommt – oft genug ist und war das Gewalt gegen Frauen. "Löwenzahnwirbelsturm in Orange" hieß ihr erstes Buch.
"Der Löwenzahn ist eine sehr interessante Blume. Er hat eine wunderbare Struktur. Die reife Blüte sieht zunächst stabil aus, ist aber fragil. Sie ist wie ein Dom, der von allen Teilen gehalten wird, doch wenn man sie anbläst, löst sie sich auf und ihre Einzelteile sind kaum noch sichtbar. Der Löwenzahn steht für einen geschichtlichen Bruch. Und für mich ist er vor allem ein Symbol dafür, wie Frauen in meinem Land wahrgenommen werden. Wissen Sie, hier gibt es diese Kategorie dafür, wie eine Frau zu sein hat. Sie wirkt auf den ersten Blick handfest und sehr stabil, doch wenn das Patriarchat entscheidet, dass es dich nicht in einer stabilen Position haben möchte, dann kann sich diese in Millisekunden in Luft auflösen – und keiner weiß mehr, wie Du eigentlich mal ausgesehen hast. Ich spreche hier über alle möglichen Formen von Gewalt, die Frauen gegenüber begangen wurden und immer noch begangen werden."
Buchtipp: Tamar Tandashvili: Löwenzahnwirbelsturm in Orange. Residenz Verlag.
In Georgien sind die Frauen aus Europa und die Männer aus Asien, so ein beliebter Spruch im Land. Will heißen: die Männer halten gerne an der Tradition des Paschas fest und an der der Großfamilie. Was aber passiert, wenn Frauen sich von diesen Ansprüchen überfordert fühlen? Im Film "Meine glückliche Familie", mit der die Berlinale 2017 eröffnet wurde, zieht die 52-jährige Manana einfach von zu Hause aus. Der konsternierten Verwandtschaft, die noch den kleinsten Winkel der gemeinsamen Wohnung belegt hat, verweigert sie jegliche Erklärung. Man muss dazu wissen, dass zu einer "richtigen" georgischen Familie nicht nur Vater, Mutter, Kind gehören, sondern auch Oma, Opa, Tanten, Onkel, Verlobte und natürlich sämtliche Freunde. Und alle haben selbstverständlich zu allem eine Meinung – die auch jederzeit geäußert werden muss. Vor allem die Männer, in jeder Lebenslage zu einem Gesangs-Ständchen bereit, wollen immer nur ihr Bestes, nämlich sie vor anderen Männern beschützen. Manana aber will doch einfach nur ihre Ruhe.
Immernoch sehr einflussreich: die Kirche
Das Vertrauen der Georgier in ihre staatlichen Institutionen und in die Politik ist nicht besonders groß. Bei der Kirche aber sieht das anders aus. Und das bewirkt einen Teil ihrer Macht. Der Jurist und Diplomat Levan Bodzashvili:
"Die Kirche hat hier schon immer eine wichtige Rolle gespielt. Obwohl wir gerade einen sicheren Staat aufzubauen versuchen, war die Kirche immer der Orientierungspunkt für eine größere Öffentlichkeit - wegen der Einstellung der Leute und weil unser Land wirtschaftlich so schwach ist. In unserer Verfassung steht geschrieben, dass die Georgisch-Orthodoxe Kirche der wichtigste Teil der georgischen Gesellschaft ist und seine Rolle und seine Taten in der Geschichte immer anerkannt werden sollen. Umfragen zeigen, dass mehr als 80 Prozent der Bürger sich mit ihrer Kirche identifizieren. Das ist auch einer dieser Gründe, warum wir Europäer sind, auch wenn wir geographisch so weit weg sind. In unserer Seele und in unserem Geist sind wir Christen und Europäer."
Doch zu den westlich-europäischen Standards - wenn wir denn den Begriff westlich-europäisch mit dem der Europäischen Union gleichsetzen – gehört auch die Gleichstellung von Mann und Frau. Hier vertritt die Kirche eine nicht ganz eindeutige Haltung und das, obwohl die Heilige Nino, die Urmutter des georgischen Christentums, als Heilerin und Missionarin eine durch und durch emanzipierte Frau war. Frauenrechtlerinnen beklagen: geht es um Gewalt in der Ehe, dann ziehen sich die Priester gerne auf den Satz zurück "Der Mann gehorcht Gott, die Frau gehorcht dem Ehemann".
In Georgien ist die Religion präsenter als in Deutschland und das zeigt sich auch an der Zahl der Gotteshäuser. Wer als Georgier eine Kirche betritt, wird sich spätestens vor einer der Ikonen bekreuzigen. Frauen zünden Kerzen an, obwohl sie eigentlich nur auf dem Weg zum Einkaufen vorbei gekommen sind. Selbst Georgier, die sich als nicht-religiös bezeichnen, haben Tränen in den Augen, wenn der polyphone Kirchengesang anhebt. Ohne Frage: das georgisch-orthodoxe Christentum bildet die "innere Mitte" des Landes.
Georgien und der Tourismus
Ein Fünftel der georgischen Bevölkerung lebt nicht in Georgien. Die wirtschaftliche Lage und Perspektivlosigkeit führen dazu, dass immer mehr ihr Glück im - vor allem westlichen - Ausland suchen. Etwa 100.000 Menschen verlassen Georgien jedes Jahr. Die meisten Emigranten gehen nach Russland.
Hingegen boomt der Tourismus. Die absolute Visa-Freiheit, die das Land gewährt, macht es möglich. Nicht nur die immer noch in Georgien verliebten Russen, auch Iraner, Armenier, Araber, Inder, Pakistani, Israelis und Europäer strömen ins Land, besuchen die Ausgrabungsstätten der ersten Hominiden des Kontinents, wandern im Kaukasus, baden an der Schwarzmeerküste, zocken in den Spielcasinos oder besuchen die unterirdischen Schwefelbäder, von denen schon Puschkin schwärmte.
"Von Kind an habe ich weder in Russland noch in der Türkei etwas Herrlicheres erlebt als das Bad von Tiflis."
Buchtipp: Georgien. Eine literarische Reise. Frankfurter Verlagsanstalt.
Manuskripte zum Download: