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Eine Lange Nacht über Irish Folk
Pathos, Punk und schwarzer Humor

In Dublin und anderen irischen Städten hat sich in den vergangenen Jahren eine neue dynamische Stilrichtung innerhalb der Folk- und Songwriting-Tradition entwickelt. Vor allem junge irische Bands wie Lynched, Moxie oder Skipper's Alley aus Dublin knüpfen mit ihren Liedern direkt an die gesellschaftskritischen Songs ihrer Vorväter an.

Von Arian Fariborz und Petra Tabeling |
    Traditionelle Band-Session im Pub "Hughes" in Dublin.
    Traditionelle Band-Session im Pub "Hughes" in Dublin. (Petra Tabeling)
    Der Urban Folk der Gegenwart verbindet traditionelle Musikkonzeptionen mit sozialkritischen Songinhalten. Es geht dabei um Themen wie Arbeitslosigkeit, Armut und Emigration, wie sie damals gang und gäbe waren und heute - im Zeichen der Wirtschaftskrise - wieder an Bedeutung für die jüngere Generation gewinnen.
    Danny Diamond, Musiker und Mitarbeiter des "Irish Traditional Music Archive" in Dublin.
    Danny Diamond, Musiker und Mitarbeiter des "Irish Traditional Music Archive" in Dublin. (Petra Tabeling)
    Eine "Lange Nacht" über aktuelle Trends im Irish-Folk, über Satire und schwarzen Humor in der traditionellen irischen Musik und die wechselvolle Geschichte dieses Genres.
    Die Band "Lynched" während eines Konzerts in der St Michan's Church in Dublin:
    Die Band "Lynched" während eines Konzerts in der St Michan's Church in Dublin. (Petra Tabeling)

    Wer heute die irische Hauptstadt oder andere Metropolen auf der "grünen Insel" besucht, mag sich verwundert die Augen reiben, wie viele junge Menschen in die alten, muffigen Pubs ihrer Väter und Großväter ziehen, um Folk-Musik zu hören – und vor allem selbst zu spielen. Die jüngere Generation entdeckt die traditionelle irische Musik wieder für sich, interpretiert sie aber auf ihre eigene Weise. Mit dem nostalgischen Irish-Folk ihrer Vorfahren hat das nichts mehr zu tun.
    Ein Beispiel ist die Dubliner Folkband "Lynched". Ihr Frontmann Ian Lynch sieht auf ersten Blick nicht wie jemand aus, den man für einen waschechten Irish-Folk-Musiker halten würde: Tattoos und Ringe an Ohren und Nase, ein schwarzer Kapuzenpullover im Graffiti-Look hängt lässig über den Schultern, eine olivgrüne Basecap thront auf dem kurz geschorenen Haar. Ian Lynch, 34 Jahre alt – Punk und Globalisierungskritiker, Autodidakt, Singer-Songwriter. Früh hat er sich für die traditionelle irische Musik begeistert – den "Trad", wie ihn viele Iren auch einfach nur nennen. Er experimentierte, er fremdelte mit der Tradition und ging schließlich neue musikalische Wege, um am Ende doch wieder beim Folk anzukommen. Die Wiederentdeckung der Tradition, wie er es nennt.
    Die Dubliner Band um den charismatischen Singer-Songwriter zählt heute zu den populärsten Gruppen innerhalb der jungen irischen "Trad"-Szene. Mit ihrem schwarzen Humor, ihrem spielerischen Elan und ausgefeilten Songkonzeptionen gelingt es den vier Musikern, vor allem viele junge Iren zu begeistern, die dem Genre bislang nicht viel abgewinnen konnten und eher als folkloristische Darbietung alter Männer ansahen.
    Urban-Folk-Bands wie "Lynched" kombinieren traditionelle Songkonzeptionen mit aktuellen, gesellschaftskritischen Texten zu Themen wie Arbeitslosigkeit, Globalisierung und Emigration im Zeichen der anhaltenden Wirtschaftskrise Irlands. Damit knüpfen sie an die Folk-Tradition ihrer Vorväter an, die damals auch das soziale Elend und die Misere der irischen Jugend besangen und der Folk-Musik Ende der 1960er Jahre zu ungeahnter Popularität verhalfen.
    Typisch Dublin: Eine Guiness Kneipe im Stadtteil Temple Bar in Dublin
    Typisch Dublin: Eine Guiness Kneipe im Stadtteil Temple Bar in Dublin (Imago / Rainer Unkel )
    Kennengelernt haben sich die Musiker von "Lynched" im traditionsreichen Pub "The Cobblestone" im Herzen Dublins. Und dort ist es auch, wo momentan das wohl angesagteste Musikevent der alternativen Folkszene stattfindet – und woran sich auch die Musiker von "Lynched" rege beteiligen: "Die Nacht, bevor der Larry gehenkt wurde" – so lautet der Titel der sogenannten "Singing Sessions", die musikalische Veranstaltungsserie und Entdeckungsreise zugleich sind. Zu diesen Sessions finden immer mehr Dubliner aus allen Teilen der Gesellschaft zusammen, um dort gemeinsam ihre Gesangskunst unter Beweis zu stellen – ob Folk-Musiker, Jugendliche aus sämtlichen sozialen Schichten, Punks oder Senioren. Gesungen wird querbeet. Zumeist sind es düstere Balladen, Wortspiele oder Gedichte der Vorfahren, die von schwarzem Humor nur so strotzen und bei einem Glas Guinness zum Besten gegeben werden.
    Dass junge Menschen sich heute wieder für Folk-Musik begeistern, hat sich indes lange angebahnt, meint Kieran Hanrahan, Musikdirektor des alljährlichen "Temple Bar TradFest" in Dublin. Er beobachtet diese Entwicklung schon seit Langem. Die jungen Iren wollen sich damit von der Globalisierung bewusst absetzten, meint er: "Sie haben zwar alle ihre Laptops, iPads und iPhones, aber sie wissen, dass sie sie jederzeit beiseitelegen und zu ihren traditionellen Musikinstrumenten greifen können."
    Das sei nicht wirklich ein Widerspruch, denkt Hanrahan. Es handelt sich vielmehr um eine Bereicherung ihres Lebens. Die traditionelle Musik hat sich über die Jahrzehnte etablieren können und ist heute ein wichtiger Teil der irischen Jugendkultur. Hierauf seien alle Iren heute stolz. Und sie seien glücklich, ihre Musik auch außerhalb der eigenen vier Wände spielen zu können.
    Lynched are a four-piece traditional folk group from Dublin, Ireland, who combine distinctive four-part vocal harmonies with arrangements of uilleann pipes, concertina, Russian accordion, fiddle and guitar. Their repertoire spans humorous Dublin music-hall ditties and street-songs, classic ballads from the Traveller tradition, traditional Irish and American dance tunes, and their own original material.
    Ian Lynch: "Mir sind traditionelle Songs bereits seit meiner frühen Kindheit geläufig. Das erste an das ich mich erinnern kann, waren die familiären Zusammenkünfte an Weihnachten oder zu anderen Gelegenheiten im Laufe des Jahres. Bei uns wurde immer viel gesungen. Nicht unbedingt traditionelle Lieder, sondern alles Mögliche. Das ist in unserer Familie bis heute so – wenn es eine Feier gibt oder irgendeinen anderen Anlass. Und eines Tages hörte ich den Song "Irish Rover”, den die "Dubliners" aufgenommen hatten. Mein Onkel begann daraufhin zu singen und meinte zu mir: ‚Mann, was für ein Song!‘ Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich meinem Bruder von diesem Song erzählte, in dem ein armer alter Hund vorkommt, der am Ende ertrinkt, und er konnte das nicht glauben. Ich war damals acht oder neun Jahre alt. Als ich Teenager war, interessierte ich mich für die "Pogues", die "Dubliners" und andere Folkbands. Dann fing ich an, Tin Whistle, eine einfache Blechflöte, zu spielen. Ich habe mir das Spielen selbst beigebracht. Einer meiner Cousins zeigte mir, wie ich auf der Flöte zu einer bestimmten Melodie spielen musste, zu einem Song von den Pogues: "Rainy Night in Soho” – ‚…daadooo, dadada dooodooo...!‘ Ich merkte mir genau, was er mir beibrachte, ich hatte die Melodie im Kopf und spielte dann immer nach Gehör. Als ich 12, 13 Jahre alt war, spielte ich dann neben der Tin Whistle noch Gitarre. Auch das habe ich mir selbst beigebracht. Ich hatte keinerlei musiktheoretische Bildung. Ich habe mir einfach nur bestimmte Songs herausgepickt und versucht, das nachzuspielen, was ich da gerade hörte."
    Als experimentelles Folk-Punk-Duo traten Ian und Daragh Lynch Anfang 2004 in der Dubliner Musikszene in Erscheinung. Sie tourten später durch Mexiko und die USA. Ian spielte die irische Tin Whistle, Daragh begleitete auf der akustischen Gitarre. Ihr damaliges Songrepertoire: eine Mischung aus antikapitalistischen und globalisierungskritischen Protestsongs. Doch mit ihren Folk-Punk-Experimenten war es nach einer folgenreichen Begegnung in Dublins traditionsreichen Pub "The Cobblestone" endgültig vorbei. Dort war es, wo sie den Geiger Cormac Mac Diarmada und die Akkordeon-Spielerin Radie Peat trafen, mit denen sie wenig später die Folk-Band "Lynched" gründeten.
    Das "Cobblestone" im Dubliner Stadtteil Smithfielddieser Pub ist bis heute einer der wichtigsten Treffpunkte für die junge alternative Folk-Musik-Szene der Hauptstadt. Der Putz bröckelt hier gleich an mehreren Ecken von der Fassade, der dunkelgrüne schnörkelige Schriftzug musste unlängst neu gestrichen werden, da man den Namen des Pubs von außen kaum noch erkennen konnte. Gedämpftes Licht fällt auf die kleinen runden Tische im Inneren des Raums, an den ockerfarbenen Wänden hängt ein Sammelsurium verblichener Fotos alter Folk-Größen neben Bier-Reklame und Konzertplakaten. In einer Sitzecke, die ausschließlich für Musiker reserviert ist, sitzen einige junge Iren eng beieinander. In ihren Händen halten sie Dudelsack, Geige, Banjo oder die irische Rahmentrommel Bodhrán, vor ihnen stehen mehrere Gläser dunklen (Guinness-)Bieres. Die Instrumente werden kurz gestimmt, bevor ein Musiker die Initiative ergreift und anfängt zu spielen.
    Iren singen in einem Pub - einer spielt Geige
    Singen im Pub hat bei den Iren Tradition. Die junge Generation macht da jetzt weiter. (Imago / United Archives)
    Neben "Lynched” zählen Bands wie "Skipper’s Alley", "Landless", "Moxie" oder "This is How we Fly" heute zu den kreativsten Bandformationen der jungen Dubliner "Trad"-Musikszene. Seit einigen Jahren erfährt die traditionelle Musik in der irischen Hauptstadt einen bemerkenswerten Boom. Eine Neuheit sind die sogenannten "Singing Sessions", zu denen sich junge und alte Dubliner aus allen sozialen Schichten in Pubs und Musikclubs zusammenfinden, um dort gemeinsam ihre Gesangskunst unter Beweis zu stellen. Gesungen wird quer Beet. Oft sind es düstere Balladen der vergangenen Jahrhunderte, sarkastische Wortspiele oder Gedichte der Vorfahren, die von jeder Menge Galgenhumor zeugen. Die Singing-Session "Die Nacht, bevor Larry gehenkt wurde" zählt heute zu einem der beliebtesten alternativen Musikevents in Dublin.
    Das "Irish Traditional Music Archive" in Dublin
    Irish Traditional Music Archive a national public reference archive and resource centre for the traditional song, instrumental music and dance of Ireland
    Der bekannte irische Geiger und Mitarbeiter des "Irish Traditional Music Archive" in Dublin, Danny Diamond.: "Diese traditionellen "Singing Sessions" sind momentan vor allem in Dublin sehr beliebt. Insbesondere deswegen, weil sie sehr verschiedene Menschen zusammenbringen. Diese Form der "Trad"-Musik weist sowohl einen politischen als auch einen musikalischen Charakter auf: Sie ist die Musik des Volkes, gleichzeitig ist sie politisch links zu verorten. Und in den Augen vieler ist sie auch ein "sozialer Gleichmacher" – was man allein schon daran erkennen kann, dass die Leute, die zu diesen "Sessions kommen, verschiedenen Alters sind und unterschiedlichen Klassen angehören. Ich glaube, dass wir es hier mit einer recht neuen Erscheinung zu tun haben, die überhaupt nicht mit früher zu vergleichen ist. Vor einigen Jahren war Folkmusik meist noch recht altbacken und bei Weitem nicht so innovativ wie heute."
    Die keltische Harfe – bis heute ist sie das irische Nationalsymbol und ziert das Wappen der Republik Irland. Jahrhundertelang war sie das wichtigste Instrument der irischen Musik. Die Ursprünge der keltischen Harfe reichen ins 15. Und 16. Jahrhundert. Gespielt wurde sie im Mittelalter am Hofe des Königs für die erlesene aristokratische Gesellschaft oder auch für die "Clan Chiefs", die irischen Stammesführer. Das Spiel der Harfe stand von Anfang an in engem Zusammenhang mit der keltischen Dichtkunst, wie der Irlandkenner und Publizist Ralf Sotschek schreibt:
    Ralf Sotschek: "Die Harfe wurde solo gespielt oder zur Begleitung von langen epischen Gedichten eingesetzt, die von den Filí vorgetragen wurden, den Hofpoeten von hohem sozialen Rang. Harfenmusik war die Kunstmusik der keltischen Gesellschaft, die Musik der Oberschicht. Sie bestimmte – verbunden mit Tänzen und Gedichten – einen großen Teil des Lebens. Doch mit der Anglisierung Irlands begann der Niedergang der Harfner. Sie musizierten zunächst für beide Bevölkerungsgruppen, doch mit dem Ende der gälischen Gesellschaftsordnung nach Cromwells Sieg 1649 war auch ihr Untergang nicht mehr aufzuhalten."
    Das Instrument avancierte zum Symbol des Nationalismus und Widerstands gegen Fremdbestimmung und Unterdrückung. Daher waren den neuen irischen Machthabern die Harfner nach den Irischen Konföderationskriegen ein Dorn im Auge und politisch suspekt. Zwischen 1650 und 1660 ordnete Oliver Cromwell die Beseitigung aller Harfen an. Sie wurden kurzerhand verbrannt. Die einst angesehenen Harfner und Minnesänger durften sich fortan nicht mehr treffen und gemeinsam musizieren. Sie waren gezwungen, als verarmte Wandermusiker durchs Land zuziehen. Doch konnte der Bann der Harfe nicht verhindern, dass das Instrument den Nimbus patriotischen Aufbegehrens und kultureller Selbstvergewisserung behielt. Ein Zeugnis hierfür legt beispielsweise das in Irland bekannte Lied des 1779 in Dublin geborenen Dichters und Balladensängers Thomas Moore ab: "The Minstrel Boy" nimmt bis heute seinen festen Platz im musikalischen Repertoire der traditionellen irischen Musik ein, hier gesungen in der Version des irischen Tenors John McCormack.
    Für die neue Blütezeit der traditionellen irischen Musik in den1960er- und 70er-Jahren waren gleich mehrere Faktoren ausschlaggebend: Zum einen zahlten sich die Bemühungen von Einrichtungen und Organisationen aus, die sich die Bewahrung der irischen Musikkultur auf die Fahnen geschrieben hatten. Zu ihnen zählte die 1951 gegründete "Gesellschaft der irischen Musiker", Comhaltas Ceoltóirí Éireann. Bis heute veranstaltet sie regelmäßig lokale und landesweite Musikfestivals und Wettbewerbe, wie den populären Fleadh Cheoil, und fördert mit seinen Programmen gezielt die Elitenbildung innerhalb der traditionellen Musikszene.
    Ein weiterer Grund für die Revitalisierung der Musik und ihre qualitative Neuerung bestand im zunehmenden Einfluss irischer Auswanderer in die USA auf die traditionelle Musik in ihrer Heimat. Nach dem Exodus vieler Iren als Folge der großen Hungersnot von 1845 bis 1852 hatten sich viele Musiker in Städten wie New York, Boston und Chicago niedergelassen und ein Netzwerk aufgebaut. Bereits in den 1920er-Jahren traten namhafte Musiker, wie die irischen Geiger Michael Coleman, Paddy Killoran and the Uilleann Piper oder der Dudelsackspieler Patsy Tuohey in Erscheinung. Ihre Produktionen fanden in den nachfolgenden Jahrzehnten über die Schallplatte ein begeistertes Publikum in Irland. Doch damit nicht genug. Aus den USA kam noch eine weitere musikalische Inspiration, die der irischen Musik wieder zu neuem Leben verhalf, so der Publizist Ralf Sotschek:
    Ralf Sotschek: "Im Sog der Folk-Welle in Amerika entstanden zahlreiche Balladengruppen irischer Emigranten, die amerikanische Einflüsse mit ihren traditionellen Liedern kombinierten. Über diesen Umweg fand die irische Musik wieder zurück in ihre Heimat, wo sie nicht nur nachgespielt, sondern auch weiterentwickelt wurde."
    Der irische Flötist und ehemalige Dozent für traditionelle Musik an der Queen’s University in Belfast, Fintan Vallely:
    Fintan Vallely - Air & Reels
    He began to play Traditional music in the early 1960s, later studying horticulture at University College Dublin, then ethnomusicology at Queens University Belfast.
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    Fintan Vallely: "Weshalb Irish Folk bei den Deutschen so überaus populär wurde, kann man nicht mit Bestimmtheit sagen… Ich denke aber, dass deutscher Folk bei vielen in Deutschland Unbehagen auslöste, weil die Nazis im Dritten Reich diese Musik für ihre Zwecke missbraucht hatten. Als ich in den 70er-Jahren in Deutschland war, wollte keiner der jungen Leute etwas von deutscher Folkmusik wissen, weil das unangenehme Assoziationen bei ihnen wachrief. Doch für Irish Folk begeisterten sie sich alle….Die traditionelle irische Musik schien dieses Vakuum nach Identitätssuche bei der jungen deutschen Nachkriegsgeneration auszufüllen. Die jungen Leute suchten eine Verbindung zur Folk-Musik und die irische eröffnete ihnen die größte Bandbreite."
    Die irische Band "Clannad" 2013 in der Alten Oper Erfurt.
    Die irische Band "Clannad" 2013 in der Alten Oper Erfurt. (imago stock&people)
    Nicht ohne Grund bezeichnen viele Iren die 70er-Jahre auch als das "Goldene Zeitalter" des Irish Folk – begann sich die Musik von da an stärker für andere Trends und Genres zu öffnen, etwa für Jazz, Rock und Weltmusik. Die Experimentierfreudigkeit war groß. Zu den Pionieren und musikalischen Grenzgängern jener Zeit zählten "Clannad", "The Bothy Band" und vor allem "Planxty", die über die Inselrepublik hinaus bekannt und populär wurden.
    Gráinne Holland - live
    Gráinne Holland: "
    Ich heiße Gráinne Holland und bin eine traditionelle gälische Sängerin aus Belfast. Schon als Kind liebte ich den Gesang. Und das erste Lied, das ich lernte, war ein irisches. Ich hatte großes Glück, als junger Mensch die Chance zu bekommen, die irische Sprache, das Gälische, zu erlernen – im Gegensatz zu so vielen anderen Iren, die nicht die Möglichkeit dazu hatten. Es ist wie ein Segen. Ich bin auf eine gälischsprachige Schule gegangen und die ersten Songs, die ich gelernt habe, waren irisch. Unsere Lehrer haben uns das alte irische Liedgut beigebracht – Songs die besonders populär in den Gaeltacht-Regionen, im Westen Irlands, waren – alte, traditionelle Lieder. Die Songs, die ich singe sind zwar recht einfach, aber für mich bedeuten sie mehr: Sie sind Teil meines Erbes. Und jedes Mal, wenn ich eines dieser sehr alten Lieder singe, bringt es mich zurück in eine Zeit, die längst vergangen ist. Aber sie erinnern mich daran, wie Irland einmal gewesen ist und an den gewaltigen Wandel, den die Insel über Jahrhunderte hinweg erfahren hat – die vielen Kriege und kulturellen Veränderungen, auch in Hinblick auf die Sprache. Das stimmt mich dann sehr traurig."
    Das traditionelle irische Liedgut ihrer Vorfahren nimmt in der Musik der 33-jährigen Sängerin Gráinne Holland aus West-Belfast bis heute einen zentralen Stellenwert ein – so sehr, dass sie auf englische Songs fast gänzlich verzichtet. Das Repertoire an traditionellen irischen Balladen, Legenden und alten Volksweisen sei derart unermesslich, dass sie bislang sogar auf eigens komponierte Lieder gänzlich verzichtet. Jedes Mal, wenn sie daran denke, eigene Songs auf Gälisch zu verfassen, falle ihr wieder ein neues beeindruckendes Lied aus vergangenen Zeiten in die Hände, so Holland. Dass sie heute sowohl einem katholischen als auch protestantischen Publikum diese traditionellen Klänge ihrer Heimat ins Gedächtnis ruft, wäre noch vor einem Jahrzehnt kaum denkbar gewesen. Denn der Nordirlandkonflikt hatte noch vor rund einem Jahrzehnt seine Schatten auch auf das kulturelle Leben der Iren geworfen. Allein die konfessionelle Zugehörigkeit oder der Wohnort in einem bestimmten Stadtteil Belfasts reichten aus, um der "einen oder der anderen Seite" anzugehören, Freund oder Feind zu sein. Im Jahr 2003 wurde Gráinne Holland von einem Loyalisten angegriffen und musste schwer verletzt in einem Krankenhaus behandelt werden. Die gälische Sprache als Politikum, als identitätsstiftendes Symbol und Instrument im anglo-irischen Kulturkampf? So lautete jedenfalls der Vorwurf vieler radikaler Unionisten nicht nur gegen die Sängerin, sondern grundsätzlich gegen alle nordirischen Kulturschaffenden, die sich mit der gälischen Sprache auseinandersetzten. Eine Unterstellung und Fehlwahrnehmung, meint Gráinne Holland.
    Gráinne Holland: " Die irische Sprache und Kultur ist in keinster Weise politisch. Auch wenn einige Leute behaupten, dass wenn man aus diesem oder jenem Gebiet kommt oder wenn man Gälisch spricht, habe man zwangsläufig auch einen bestimmten politischen Hintergrund. Das ist nur insofern zutreffend, da es tatsächlich nur einen Teil der nordirischen Bevölkerung gab, der Wert auf die gälische Sprache legte und "irisch" sein wollte. Anders als meine Generation war die meiner Eltern politisch ambitioniert. Sie revoltierte gegen die englische Besatzung, sie kämpfte für ihre irische Identität und wollte sich nicht bevormunden lassen, ihre Kultur und Sprache nicht praktizieren zu dürfen. Es gab damals nur wenige kulturelle Spielräume. Doch das alles hat sich inzwischen gewandelt – die irische Sprache nimmt heute in Nordirland einen größeren Stellenwert ein als früher. Die Situation hat sich definitiv gebessert. Heute kommen Leute aus beiden Communities zu meinen Auftritten, also auch Menschen aus den loyalistischen, pro-britischen Gegenden, die früher nicht zu meinen Konzerten gegangen sind, da sie das als politisch anrüchig oder als Verrat an Großbritannien betrachteten. Doch das war der Fall, als die Zeiten noch schwierig waren und die "Troubles" anhielten. Doch seit dem Friedensabkommen sind die Protestanten offener gegenüber der irischen Sprache geworden. Mittlerweile erkennen sie an, dass das Gälische auch Teil ihres eigenen kulturellen Erbes ist. Das Gälische ist also nicht politisch, sondern eine wundervolle Sprache, die wir Iren miteinander teilen."
    "Ich glaube, dass die traditionelle Musik im Grunde genommen keine verschiedenen Nationalitäten kennt."
    Daragh Lynch:
    "Ich glaube, dass die traditionelle Musik im Grunde genommen keine verschiedenen Nationalitäten kennt. Folk-Musik aus England, Irland, Schottland und Wales ist sich doch sehr ähnlich. Es ist also nicht so, dass sich die traditionellen irischen Songs großartig von den anderen unterscheiden würden…"

    Ian Lynch:
    "… Ich nehme an, dass die Leute früher dachten, dass sie verschieden sein müssten. Das ist zweifellos das Erbe der irischen Nationalisten des 20. Jahrhunderts mit ihren romantischen, verklärten Vorstellungen von einer einheitlichen irischen Kultur und einer strikt getrennten irischen Identität. Ich glaube, wenn es um Folk-Songs in englischer Sprache geht, kann man Irland und Schottland als eins betrachten…"

    Daragh Lynch:
    "…Und wenn man wiederum nach Amerika schaut, kann man viele traditionelle Einflüsse in der Musik zurück nach Irland, England und Wales zurückverfolgen. Der Klang und die Worte mögen zwar etwas verschieden sein, doch der Ursprung der Songs ist der gleiche."
    So ist es denn auch kein Zufall, dass sich das Song-Repertoire der Brüder Ian und Daragh Lynch aus historisch überlieferten Balladen und Gedichten aus dem gesamten englischsprachigen Raum zusammensetzt. Es sind oft atmosphärische, düstere, bisweilen sarkastische Stücke, die sich auf dem neuen Album der Dubliner Folk-Band "Lynched" finden. Einen besonderen Stellenwert nimmt bei ihnen die Musik der "Tinker", des fahrenden Volkes, ein.
    Ian Lynch: "Es gibt einige Songs, die wir aus den Traditionen des fahrenden Volkes in Irland übernommen haben. Es ist sehr aufschlussreich, sich mit ihrer Kultur zu befassen, da sie über einen langen Zeitraum ihre alten klassischen Balladen bewahrt und von Generation zu Generation weitergegeben haben. Diese Musiktradition pflegen sie bis heute. Sie hatten in Irland ja erst sehr viel später Zugang zu Strom, Radio- oder Fernsehgeräten, weil sie in ihren alten Bauwagen lebten und über das Land fuhren. Diese Lebensart hat diese alte Songtradition bis in die 60er- und 70er-Jahre erhalten und gefördert.
    Komik und Satire in irischen Folk-Songs
    Fintan Vallely:
    "Es gab schon immer viel Komik und Satire in irischen Folk-Songs. Solche Lieder sind bis zu einem gewissen Grad witzig, sofern man mit der Art der Ironie klar kommt. Die Satire-Tradition reicht zurück bis in die Zeit der frühen irischen Poesie und beeinflusst bis heute nicht nur die Songkultur, sondern auch allgemein die irische Literatur. Ich selbst habe eine Menge Songs geschrieben, die auf die eine oder andere Weise satirisch sind. Ich habe mich früher auch sehr ernsthaft darum bemüht, politische Songs zu schreiben. Doch sie klangen alle total daneben – völlig langweilig, sentimental und unseriös. Durch einen Zufall entdeckte ich dann, dass Humor die beste Methode ist, bestimmte Ideen auszudrücken. Also nutzte ich fortan die Satire als Mittel, um bestimmte Ideen und Meinungen kundzutun. Die Folk-Band "The Dubliners" hatte zum Beispiel mal einen Song, der sich "The Button Pusher" nannte. Er handelt von einem Mann, der die alleinige Verantwortung trägt, den roten Knopf zu drücken und damit einen Nuklearkrieg auszulösen. Es ist ein sehr cleverer Song. Durch Witz und Ironie wird hier eine sehr ernste Aussage über die Gefahren des nuklearen Holocausts zu Zeiten des Kalten Krieges getroffen.