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Eine Lange Nacht über Michel Foucault
Die Spur der Macht in uns allen

Als Michel Foucault 1984 im Alter von 57 Jahren stirbt, ist er längst zum internationalen Pop-Star der Wissenschaften vom Menschen geworden.

Von Christoph David Piorkowski |
    Der französische Philosoph und Schriftsteller Michel Foucault
    Der französische Philosoph und Schriftsteller Michel Foucault (dpa / picture alliance)
    Viele seiner Gedanken, Begriffe und Methoden sind in jene Gebiete der Kultur aufgenommen werden, die er zuvor kritisiert hatte. Foucaults Diskursanalyse, mit der er jene Strukturen herausarbeitete, die dem Denken und Handeln der Menschen in einer bestimmten Zeit ihr Gepräge geben, ist eine anerkannte Methode in etlichen wissenschaftlichen Disziplinen geworden: in der Soziologie, Ethnologie, Literatur- und Geschichtswissenschaft und in der Philosophie.
    Seine Schriften zu modernen Machttechniken zeigen, wie eng Macht mit Wissen und körperlich wirksamen Disziplinen verbunden ist. Sie haben einen neuen Typus wissenschaftlichen Denkens geprägt. Die intellektuelle und biografische Unrast des Michel Foucault machte es schon zu seinen Lebzeiten schwer, ihm einen Stempel zu verpassen. Wahlweise als Kommunist, Dandy, Reaktionär, Antihumanist oder Anarchist bezeichnet, wurde ihm keine dieser Zuschreibungen gerecht. Vor allem in seiner letzten Schaffensphase bestand er auf der Möglichkeit zur Wandlung der eigenen Gestalt und suchte jenseits des Zugriffs moderner Macht nach Formen der Selbstgestaltung.
    Bis zuletzt hat sich Foucault philosophisch wie politisch, im Hörsaal und auf der Straße bemüht, für jene zu sprechen, die in der herrschenden Ordnung keine Stimme haben - die Wahnsinnigen, die Inhaftierten, diejenigen, deren Begehren die Gesellschaft als pervers bezeichnet.

    Auszug aus dem Manuskript der Ersten Stunde: Die Verschränkung von Leben und Werk – Stationen einer Biografie
    Michel Foucault: "Was mich beeindruckt, wenn ich mir meine Kindheitseindrücke in Erinnerung zu rufen versuche, ist, dass beinahe alle meine gefühlsmäßig starken Reminiszenzen mit der politischen Situation verknüpft sind. Die Drohung des Krieges war unser Horizont, unser Existenzrahmen. Weitaus mehr als das Familienleben bilden die Ereignisse des 'Weltlaufs' die eigentliche Substanz unseres Erinnerungsvermögens. Ich sage 'unseres', weil ich sicher bin, dass die Mehrzahl der Jungen und Mädchen damals dieselbe Erfahrung machte. Unser Privatleben war wahrhaft bedroht. Und das ist wahrscheinlich der Grund, weswegen ich von der Geschichte und von der Beziehung zwischen persönlicher Erfahrung und jenen Ereignissen fasziniert bin, in die wir verstrickt sind. Ich glaube, das ist der Ausgangspunkt meiner theoretischen Neigung."
    Dieser autobiografische Splitter stammt aus einem der späten Gespräche, in denen Foucault bereitwilliger als in jüngeren Jahren über persönliche Belange Auskunft erteilt. Der Philosoph verortet den Ursprung seines Denkens hier in den Erfahrungen der Kindheit.
    Dass der Mensch in historische Lagen hineingeworfen ist, die seinen Horizont bestimmen, dass kontingente Verhältnisse die kollektive Wahrnehmung prägen, fasziniert schon den Schüler Foucault, der 1943 im von den Nazis besetzten Frankreich die Abiturprüfung ablegt. Die Bedrohung durch den Faschismus, diese "Pathologie der Macht", wie er später sagen wird, hat dem theoretischen wie dem politischen Leben schon früh eine Richtung gegeben.
    Knapp 17 Jahre zuvor, am 15. Oktober 1926, kommt Paul-Michel Foucault in der französischen Provinzstadt Poitiers als Spross einer wohlhabenden Ärztefamilie zur Welt. Der erste der beiden Vornamen zitiert den ungeliebten Vater – nach Aussagen von Freunden der Grund, aus dem Foucault ihn ablegt, als er 1945 in Paris anlangt. Fortan nennt er sich bloß noch Michel.
    Nach einem Spießrutenlauf durch die der eigentlichen Universität vorgeschalteten Prüfungsinstitutionen zieht Foucault 1946 in die Elite-Hochschule École normale supérieure in der rue d'Ulm ein, um sein Studium der Philosophie und der Psychologie zu beginnen. Eine Zeit des Martyriums nimmt ihren Anfang.
    Dem 19-jährigen Michel will es nicht gelingen, sich in die Gemeinschaft der Normaliens einzufügen, zu deren früheren Jahrgängen so renommierte Gestalten wie Jean-Paul Sartre, Raymond Aron und Maurice Merleau-Ponty gehören. Eine von Leistungs- und Konkurrenzdruck geprägte Atmosphäre lastet auf den Schülern der École; Ehemalige, die anonym bleiben wollen, berichten, jeder Student habe seine eigene Neurose gehegt. Foucault zieht sich in die Einsamkeit zurück und bespöttelt seine Kameraden mit einer grausamen Intelligenz, die bald berüchtigt ist. Mit jedem, der es wissen will, gerät Foucault in Harnisch. Die Kommilitonen von einst beschreiben den jungen Michel als zynisch, aggressiv und psychisch äußerst instabil.
    Es existiert ein ganzer Strauß von Anekdoten über sein irrlichterndes Verhalten in den späten 40er-Jahren: Zum Beispiel findet ihn ein Lehrer auf dem Boden liegend, mit zerschnittener Brust und einer Rasierklinge in der Hand. Ein andermal sieht man ihn des Nachts durch die Gänge schleichen, einen Mitschüler mit einem Dolch verfolgend. Ein späterer Kollege, der ihn damals schon gut kannte, behauptet "dass er sein ganzes Leben dem Wahnsinn nahe war".
    Als er 1948 seinen ersten Suizidversuch unternimmt, wird Michel Foucault in das Hôpital Sainte Anne verwiesen. Etwas später wird er hier als Praktikant arbeiten und die andere Seite kennenlernen. Bei der ersten Begegnung mit der Institution Psychiatrie – deren Entstehung und Verfahren er in seinem frühen Werk "Wahnsinn und Gesellschaft" eindrücklich beschreiben wird – kommt Foucault jedoch die Rolle des Patienten zu. Jene an einem bestimmten Punkt in der Geschichte der abendländischen Vernunft gezogene Grenze, die den Irren vom Normalen scheidet, wird für Foucaults Arbeit von großer Bedeutung sein. Überschritten hat er diese Grenze nicht bloß in der Theorie.
    In einem 1978 geführten Interview mit dem italienischen Journalisten Ducio Trombadori kommt Foucault so unumwunden wie nie auf die Verschränkung von Leben und Werk zurück. Er erklärt:
    Michel Foucault: "Dass es kein Buch gibt, das ich nicht, wenigstens zum Teil, aus einer unmittelbaren persönlichen Erfahrung heraus geschrieben hätte. Ich habe ein kompliziertes persönliches Verhältnis zum Wahnsinn und zur psychiatrischen Institution gehabt. Ich habe zur Krankheit und auch zum Tod ein gewisses Verhältnis gehabt. Ich habe über die Geburt der Klinik und die Einführung des Todes in das medizinische Wissen zu einem Zeitpunkt geschrieben, als diese Dinge für mich eine gewisse Bedeutung hatten. Dasselbe gilt aus anderen Gründen für das Gefängnis und die Sexualität."
    Auszug aus dem Manuskript der zweiten Stunde: Kein Ort nirgends – Die Globalität der Macht
    Den Auftakt zu Michel Foucaults wohl berühmtestem Buch "Überwachen und Strafen" bildet eine spektakuläre Hinrichtungsszene. Der Attentäters Robert-Francois Damiens, der Mitte des 18. Jahrhunderts vergeblich versucht hatte, seinen König zu ermorden, bekam die Rache des Souveräns auf grausame Weise zu spüren.
    Michel Foucault: "Am 2. März 1757 war Damiens dazu verurteilt worden, "vor dem Haupttor der Kirche von Paris öffentliche Abbitte zu tun, wohin er "in einem Stützkarren gefahren werden sollte, nackt bis auf ein Hemd und eine brennende zwei Pfund schwere Wachsfackel in der Hand; auf dem Grève-Platz sollte er dann im Stützkarren auf einem dort errichteten Gerüst an den Brustwarzen, Armen, Oberschenkeln und Waden mit glühenden Zangen gezwickt werden; seine rechte Hand sollte das Messer halten, mit dem er den Vatermord begangen hatte, und mit Schwefelfeuer gebrannt werden, und auf die mit Zangen gezwickten Stellen sollte geschmolzenes Blei, siedendes Öl, brennendes Pechharz und mit Schwefel geschmolzenes Wachs gegossen werden; dann sollte sein Körper von vier Pferden auseinandergezogen und zergliedert werden, seine Glieder und sein Körper sollten vom Feuer verzehrt und zu Asche gemacht, und seine Asche in den Wind gestreut werden."
    Das 1975 im Fahrwasser seines politischen Engagements entstandene Werk "Überwachen und Strafen" ist die erste längere Schrift, in der Foucault sein Denken der Macht entfaltet. Was meint dieses unheimliche Wort? Was ist das für ein Phänomen, von dem Foucault in den 70er-Jahren gleichsam besessen scheint und das er überall in der Gesellschaft wahrzunehmen meint? Mit welchen Techniken und Mitteln agiert die Macht? Wie wirkt sie und was richtet sie an in uns, die wir ihr ausgeliefert sind?
    Diese Fragen, die Foucault in Überwachen und Strafen aufwirft und kurze Zeit später in "Der Wille zum Wissen" weiterführt, sollen uns in der kommenden zweiten Stunde beschäftigen.
    Foucault überlegt in seiner Schrift zur Geburt des Gefängnisses, wie es kommt, dass die eingangs zitierte Hinrichtungsszene eine der letzten ihrer Art ist, die die Archive verzeichnen? Aus welchem Grund verschwindet die öffentliche Tortur, die peinliche Strafe, die sich bis dato unter tosendem Beifall in den Körper des Verurteilten brannte? Wieso beschneidet die Strafe bald nicht mehr den Leib, sondern nur noch die Freiheit des Delinquenten? Die ursprüngliche Deutung, dass mit der Aufklärung ein humanistisches Ideal auf den Plan trete, dass "mehr Milde, mehr Respekt und mehr Menschlichkeit" im Gefolge habe, kann Foucault nicht befriedigen.
    Schaut man auf das, was ihm im Zuge seiner Gefängnisaktivitäten in den 70er-Jahren widerfuhr, ist dieses Misstrauen gegenüber dem Siegeszug einer wohlmeinenden Menschlichkeit kaum verwunderlich. Die Polizeiknüppel waren mit erbarmungsloser Härte auf ihn und seine Mitstreiter niedergegangen. Bei den Gefängnisrevolten in Nancy und anderswo hatte die Staatsmacht mit brutaler Repression reagiert. Human – so die Erfahrung von Foucault und anderen Aktivisten – ging es weder auf der Straße noch in den Gefängnissen zu.
    Die Beigabe, die den Befunden Foucaults zusätzliche Schärfe verleiht, ist die persönliche Begegnung mit dem Gefängnissystem. Seine Interviews mit Sträflingen und deren Familien, seine Gefängnisbesuche, sein Raufhandel mit der Polizei, seine eigenen kurzen Haftaufenthalte bilden den emotionalen Untergrund seiner sprachmächtigen Machtkritik.
    Mag es durchaus so scheinen, dass die Gefängnishaft die gegenüber der Marter menschlichere Strafe darstellt, verfolgt das Gefängnissystem laut Foucault doch weniger hehre Ziele.
    Die sich seit dem frühen 19. Jahrhundert verändernden Strafinstitutionen machen den Körper auf eine feinere Weise zur Zielscheibe der Macht als es die Folter- und Todespraktiken des alten Souveräns taten. Das gemeine Verbrechen, das lange Zeit vor allem als Unrecht gegen den König galt, wurde durch ein Fest der Qualen am Körper des Verurteilten gesühnt. Im vormodernen Rechtsverständnis sei es, so Foucault, vor allem darum gegangen, eine durch die Tat verrückte Ordnung wieder herzustellen. Die Macht des alten Souveräns ist eine rein negative Macht, die im Wesentlichen mit Verboten operiert. Das Maß ihrer Straftechnik ist der Grad an Verwüstung, dem der Körper des Verbrechers ausgesetzt wird.
    Im 18. Jahrhundert entwickelt sich mit den Reformjuristen eine neue Politik des Körpers. Die Bestrafung wird nicht länger in einem exzessiven Blutbad zelebriert. Vielmehr wird der Ruf nach einer nachvollziehbaren Bestrafung laut, die zum Verbrechen im Verhältnis steht. Das neue Strafrecht zielt laut Foucault auf die Seele des Individuums, insofern jeder Einzelne wissen soll, was genau ihn bei welchem Vergehen erwartet. Die tobende Rache des Souveräns wird durch die gerechte Strafe ersetzt.
    Seit 1810 erscheint die Macht der milden Mittel auf der historischen Bühne. Statt der Zerstörung des Körpers setzt sie unter dem Einfluss des sich entwickelnden Kapitalismus auf Dressur. Eine neue Technologie der Macht, die produktive, gleichsam positive Effekte zeitigt, bahnt sich langsam aber sicher ihren Weg. In ihrer mikrophysischen Variante brennt sich die Macht nicht länger mit Pomp und Pathos in den Körper des Verurteilten – sie schleicht sich in seine Falten hinein, sickert wie ein unsichtbarer Film durch die Haut hindurch ins Innere. Das öffentliche Zeremoniell weicht der stillen Unterweisung hinter geschlossenen Mauern. Es geht nicht länger darum, den Körper zu quälen, sondern darum, ihn produktiv zu machen, ihn zu disziplinieren. Der gefangene Mensch wird einem peniblen Tagesprogramm und einer rigiden Norm unterstellt. In "Überwachen und Strafen" schreibt Foucault:
    Michel Foucault: "Zweifellos aber lässt sich ein Gedanke festhalten: dass in unseren Gesellschaften die Strafsysteme in eine bestimmte "politische Ökonomie" des Körpers einzuordnen sind. Selbst wenn sie auf gewaltsame oder blutige Züchtigungen verzichten, selbst wenn sie die "milden" Methoden der Einsperrung oder Besserung verwenden, geht es doch immer um den Körper – um den Körper und seine Kräfte, um deren Nützlichkeit und Gelehrigkeit, um deren Anordnung und Unterwerfung."
    Auszug aus dem Manuskript der Dritten Stunde: Ethik des Selbst als Widerstand
    Michel Foucault: "Was mich erstaunt, ist, dass in unserer Gesellschaft die Kunst nur noch eine Beziehung mit den Objekten und nicht mit den Individuen oder mit dem Leben hat. Und auch, dass die Kunst ein spezialisierter Bereich ist, der Bereich von Experten nämlich, den Künstlern. Aber könnte nicht das Leben eines jeden Individuums ein Kunstwerk sein?"
    Wer spricht dort? Ist das Michel Foucault, der Analytiker der Mikromächte? Jener Genealoge, der zeigen wollte, dass die Subjekte in historisch wandelbaren Wahrheitsspielen erst gebildet werden? Das Leben eines jeden Individuums ... ein Kunstwerk???
    Was sind das für merkwürdige Worte von einem Philosophen, der den Menschen als Produkt einer Machtordnung begreift? Wer die Existenz als künstlerisches Werk in Aussicht stellt, als etwas, das erschaffen und gestaltet werden kann – setzt der nicht notwendig ein gehöriges Quantum Freiheit voraus?
    Foucault hatte wie kaum ein Zweiter mit der Staatsmacht gestritten. Jahre lang ist er ein Kämpfer gewesen. Nicht von ungefähr sprach ein guter Freund, der Historiker Paul Veyne, in seinem Porträt vom "Philosophen als Samurai". Michel Foucault wurde in den 70er-Jahren von vielen als Widerstand in Person, als Ikone der Gegenmacht gefeiert.
    Auf dem Feld der Theorie aber waren seine Beiträge zur Emanzipation eher spärlich. Wie war es möglich, Formen des Widerstands zu denken, wenn es das Subjekt gar nicht geben sollte? In den vielen Interviews und Gesprächen, die uns aus jener Zeit geblieben sind, hat Foucault stets für die lokalen Revolten und sektoriellen Kämpfe geworben. Die großen Werke lassen den Leser im Hinblick auf die Möglichkeit zum Widerstand jedoch häufig ernüchtert zurück. In der Retrospektive hat sich Foucault entschieden gegen den Vorwurf gewehrt, dass die Idee von der Globalität der Macht jede Möglichkeit zum Aufbegehren von vornherein verhindert. In einem Gespräch, das in seinem Todesjahr geführt wurde, weist er auf die Unterscheidung von Macht und Herrschaft hin. Die Macht als eine mobile, umkehrbare und per Definitionem instabile Beziehung, setze die relative Freiheit der Individuen notwendig voraus.
    Michel Foucault: "Man sollte beachten, dass es Machtbeziehungen nur in dem Maße geben kann, in dem die Subjekte frei sind. Wenn einer von beiden vollständig der Verfügung des anderen unterstünde und zu dessen Sache geworden wäre, ein Gegenstand, über den dieser schrankenlose und unbegrenzte Gewalt ausüben könnte, dann gäbe es keine Machtbeziehungen. Damit eine Machtbeziehung bestehen kann, bedarf es also auf beiden Seiten einer bestimmten Form von Freiheit. Das heißt, dass es in Machtbeziehungen notwendigerweise Möglichkeiten des Widerstands gibt. Vor diesem allgemeinen Hintergrund weigere ich mich, die Frage zu beantworten, die man mir manchmal stellt: "Aber wenn die Macht überall ist, dann gibt es keinen Widerstand." Ich antworte: Wenn es Machtbeziehungen gibt, die das gesamte soziale Feld durchziehen, dann deshalb, weil es überall Freiheit gibt. Jetzt gibt es in der Tat Herrschaftszustände. In sehr vielen Fällen sind die Machtbeziehungen derart verfestigt, dass sie auf Dauer asymmetrisch sind und der Spielraum der Freiheit äußerst beschränkt ist. In diesen Fällen ökonomischer, sozialer, institutioneller oder sexueller Herrschaft besteht das Problem in der Tat darin, zu wissen, wo sich Widerstand formieren kann. Die Behauptung jedoch: "Sehen Sie, die Macht ist überall, folglich gibt es keinen Platz für die Freiheit" scheint mir absolut unangemessen. Man kann mir nicht die Vorstellung zuschreiben, dass Macht ein Herrschaftssystem darstellt, das alles kontrolliert und keinerlei Raum für Freiheit lässt."
    Die relationale Machttheorie erklärt den Widerstand zu ihrer notwendigen Bedingung. Gerade die Idee von der Allgegenwart der Macht im sozialen Raum hatte die lokalen Widerstandszellen beflügelt. So suchte man nicht mehr nach dem Feind Nummer Eins, der sich in den Präsidentenpalästen oder in den Türmen des Kapitals verborgen hält, sondern zielte auf den unmittelbaren Gegner, dem man ausgeliefert war. Auf diesem Weg hatten Michel Foucault und Gilles Deleuze auch den "totalen Intellektuellen" à la Sartre verabschiedet und das Zeitalter des "lokalen Intellektuellen" ausgerufen, als dessen Verkörperung sie sich selbst verstanden.
    Dennoch: Die Entrüstung, mit der Foucault sich im eben zitierten Gespräch verteidigt, deutet darauf hin, dass die Frage nach dem Widerstand einen wunden Punkt getroffen hat.
    So liest Foucault 1984 seine Arbeiten der 70er-Jahre von einem veränderten Standpunkt aus. Er interpretiert einiges von dem, was ihn in der Gegenwart beschäftigt, in seine Vergangenheit hinein und nimmt nachträgliche Korrekturen vor. Mag man auch den fundamentalen Beziehungscharakter seines Machtbegriffs in Rechnung stellen – trotzdem bleibt die Frage, wer sich da eigentlich befreien soll, wenn das Subjekt im Moment seiner Entstehung schon ein Resultat von Unterwerfung ist. Hatte Foucault nicht selbst das Begehrenssubjekt, zu dessen Befreiung die sexuelle Revolution angetreten war, als Produkt des Wissensregimes entlarvt?
    Der eingangs zitierte Gedanke über das Leben als Kunstwerk überrascht Freunde und Feinde gleichermaßen – aus dem einfachen Grund, dass das Subjekt am Tisch der foucaultschen Denkfiguren bislang keinen eigenen Platz besaß. Bei allen Verbindungslinien, die sich vom Spätwerk her zu seinen früheren Arbeiten ziehen lassen, kann man sagen, dass Foucault dem Subjekt gegen Ende der 70er-Jahre eine neue Bedeutung verleiht.
    Bei seiner Analyse des modernen Regierungswesens geht ihm ein Licht auf. Er stellt fest, dass Subjekte nicht bloß von außen zugerichtet werden, sondern sich in einer Mischung aus Fremd- und Selbsttechniken konstituieren. Statt auf die Praktiken der Unterwerfung richtet der Foucault der 80er-Jahre sein Augenmerk auf die Praktiken der Freiheit. Das Ethos der Selbstformung, die niemals abgeschlossene Bearbeitung der eigenen Gestalt deutet Foucault als Widerstandspraxis gegen die Zuschreibungen des Wissensregimes. Das gewandelte Antlitz, mit dem uns der vielgesichtige Philosoph in seiner letzten Lebens- und Werkphase entgegenblickt, ist also ein wichtiges Thema.
    Es ist die Zeit, in der sich Foucault immer häufiger in den USA aufhält. Er überlegt sogar, dem alten Fernweh nachzugeben und sich jenseits des Atlantiks niederzulassen. In San Francisco erlebt Foucault eine erotische Kultur, die er so nicht gekannt hatte. Theoretisch sucht er in der griechischen Antike nach Anknüpfungspunkten für eine Ethik der Gegenwart. Praktisch experimentiert er in Kalifornien mit alternativen Lebensformen.
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    • Interview in La Quinzaine littéraire, 1. März 1968, zitiert nach: Didier Eribon, Michel Foucault. Eine Biografie / Michel Foucault (1926-1984), übers. v. Hans-Horst Henschen, (suhrkamp taschenbuch 3086), Frankfurt a.M. 1999.
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