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Eine Lange Nacht über Voodoo
Eine Reise zu den Geistern

In Hollywood-Filmen steht Voodoo für Mord und Grauen, aber es gab europäische Intellektuelle, die vom Voodoo fasziniert waren. Manche Ethnologen, die den Voodoo-Kult erforschen wollten, wurden zu seinen Adepten. Woher kommt diese Sehnsucht? Hat Europa durch die Aufklärung etwas verloren, was im Voodoo schillernd-schaurig weiterlebt?

Von Michael Weisfeld |
    Tänzer und Musiker beim "Festival der schwarzen Gottheiten", das alljährlich am Strand von Aného (Togo) stattfindet. Die zweite Stunde der Langen Nacht spielt ebenfalls in dieser Stadt.
    Tänzer und Musiker beim "Festival der schwarzen Gottheiten", das alljährlich am Strand von Aného (Togo) stattfindet. Die zweite Stunde der Langen Nacht spielt ebenfalls in dieser Stadt. (Michael Weisfeld)
    Im religiösen Untergrund Europas schlummern Vorstellungen, die an Voodoo erinnern: Gespenster und Geister, die man in Séancen beschwören kann. Oder die Angst vor zaubernden Hexen. Voodoo-Anhänger haben nie missioniert. Dennoch ist Voodoo heute so etwas wie eine Weltreligion. Von der 'Sklavenküste' Westafrikas verbreitete sich der Voodoo-Kult mit den Verschleppten in den Maghreb und nach Amerika, wo es den Sklaven gelang, den Kult trotz ihres Elends zu bewahren.
    Voodoopriester im Palast.
    Voodoopriester im Palast. (Abalo Lawson-Drackey)
    Heute ist er mit der weltweiten Migration auf dem Weg zu neuen Ufern. Einen lieben Gott, der Himmel und Erde erschuf, kennen die Voodoo-Anhänger ebenso wie Christen und Muslime. Aber die Welt des Voodoo ist zudem belebt von unzähligen kleineren Gottheiten, von den Geistern der Bäume und Felsen, von den Seelen der Verstorbenen. Zwar ist die Welt auch für Voodoo- Anhänger sichtbar - aber nur zu einem kleinen Teil. Mit den unsichtbaren, aber mächtigen Wesenheiten in Kontakt zu treten, darum geht es bei den Gesängen und Tänzen, bei Riten, Tieropfern und der Trance. Darum geht es auch in dieser "Langen Nacht".

    Voodoo ist ein seltsamer Sammelpunkt, an dem nicht nur die Einflüsse des traditionellen Schwarzafrika und der christlichen Welt zusammentreffen, sondern auch die Religion, die Magie, die Medizin, die Kunst der Plastik, das Theater, die Musik und der Tanz.
    Alfred Métraux, Voodoo-Forscher: "Tanz ist so eng mit dem Kult verbunden, dass man den Voodoo zu den getanzten Religionen zählen kann. Trommelrhythmen und Tänze ziehen die Geister an. Musik und Tanz nehmen die Geister so gefangen, weil sie selbst Tänzer sind und sich von der übernatürlichen Macht des Rhythmus hinreißen lassen. Sie erscheinen mit Vorliebe bei Tänzen, die zu ihren Ehren ausgeführt werden."
    Alfred Métraux: "Voodoo in Haiti"
    Vorw. v. Michel Leiris. Merlin's Bibliothek der geheimen Wissenschaften und magischen Künste
    2014 Merlin-Verlag, Vastorf
    An der Wiege der Menschheit standen nicht Jesus Christus oder der Papst, sondern die Götter Afrikas. Sie waren es, die den vom Schwarzen Kontinent nach Haiti verkauften Sklaven ihr qualvolles Schicksal zu ertragen und endlich abzuschütteln halfen. Die im Entsetzen der Revolution auf Haiti entstandenen Schreckensbilder einer aus Zauberei, Mord und grausamer Giftmischerei bestehenden Rachereligion werden zurechtgerückt und machen dem Bild einer zwar fremden, aber ebenso vitalen wie an ethischen Zielen orientierten Institution Platz.
    Im Palast der Könige von Aného
    Im Palast der Könige von Aného (Abalo Lawson-Drackey)
    Alfred Metraux (1902 - 1963) gilt als der bedeutendste französisch-schweizerische Ethnologe des Jahrhunderts. Der unqualifizierten Greuel- und Sensationsliteratur die ein irreführendes Bild des Voodoo-Kultes entwarf, setzte er gewissenhafte Recherchen entgegen. Michel Leiris, Kultfigur der Hippie-Generation, lässt in seinem Vorwort keinen Zweifel: Dieses Buch ist das bis heute unübertroffene Standardwerk zur Religion des Voodoo.
    Filme:
    • La Nuit de la Possession (Nacht der Besessenheit)
      arte-Dokumentation über den Gnaoua-Kult in Essaouira, Marokko, wo auch die erste Stunde der Langen Nacht spielt
    SWR-Film aus 2012 von Thomas Palzer über den deutschen Schriftsteller, der dem Voodoo-Kult in Afrika und Brasilien begegnete. Fichte kommt in der dritten Stunde der Langen Nacht vor.
    Auszug aus dem Manuskript:
    Der französische Fotograf und Forscher Pierre Verger bewegte sich 50 Jahre lang in der religiösen Welt der Yoruba. Um ihn und den deutschen Schriftsteller Hubert Fichte soll es zum Ende dieser Langen Nacht gehen. Verger stammte aus einer reichen Pariser Familie. Er reiste um die Welt, lieferte Fotos für angesehene Zeitschriften und wurde mit Mitte 40 in Salvador sesshaft, in der Brasilianischen Provinz "Bahia de Todos os Santos", zu deutsch: Allerheiligenbucht. In diese Bucht waren vom 16. bis weit ins 19. Jahrhundert hinein vier bis fünf Millionen Afrikaner deportiert worden, das waren 40 Prozent des gesamten Menschenhandels mit der Neuen Welt. Als Verger kurz nach dem zweiten Weltkrieg hier ankam, fühlte er sich willkommen.
    "Ich traf aufgeschlossene, nette Leute, richtige Freunde. Das erweckte in mir angenehme Erinnerungen an alte Zeiten in Paris, als ich karibische Tanzveranstaltungen besuchte, die "Bal Nègre" hießen. Ich bin samstags oft dahin gegangen, wo man all jene Hausangestellten, Kellnerinnen und Chauffeure traf, die sich die Woche über von öden Franzosen demütigen lassen mussten. Sie tranken Zuckerrohrschnaps und tanzten viel. Hier in Bahia fand ich diese Atmosphäre wieder, und ich fühlte mich wohl hier."
    Unbemerkt von den Weißen hatten es die Sklaven verstanden, ihre Religion wieder aufleben zu lassen. Zwar im Untergrund, denn alle Kulte außer dem der katholischen Kirche waren verboten, aber mit subtiler Wirkung. Candomblé, die brasilianischen Variante des Voodoo, verschaffe ihnen Selbstachtung und Respekt – sogar bei den Weißen.
    Verger: "Die afrikanische Religion gibt den Schwarzen eine große Würde. Respektvoll küsst man einer schwarzen Dame die Hand, die an der Straßenecke Krapfen verkauft, denn man weiß, dass sie zu einem Candomblé-Tempel gehört, und die Leute, auch die Weißen, fühlen sich geschmeichelt, wenn sie sich zu ihren Bekannten zählen dürfen. Überall sonst wäre der soziale Status dieser Frau viel bescheidener."
    Verger nimmt an den Candomblé-Feiern teil und lässt sich schließlich in einem der vielen Tempel initiieren. Von Bahia aus reist er mehr als 30 Mal nach Westafrika, meistens nach Benin, Togo und Nigeria, um die Herkunft des Candomblé zu erforschen. In den afrikanischen Tempeln wird er ganz selbstverständlich aufgenommen.
    Verger: "Als ich mit dem Halsschmuck von Xango ankam, den Dona Senhora mir angefertigt hatte, weil ich vor meiner Abreise eine Initiation bei ihr gemacht hatte, sahen die Leute, dass ich gewisse Dinge wusste. Vor den Altären der verschiedenen Gottheiten konnte ich die richtigen Formeln sagen. Das ermöglichte mir, mit den Leuten zusammenzuleben, ohne je etwas fragen zu müssen."
    Pierre Verger: "Schwarze Götter im Exil"
    Pierre Verger erforschte Voodoo-Kulte in Westafrika und Bahia, Brasilien. In diesem Fotobuch dokumentiert er die Ähnlichkeit der Kulturen auf beiden Seiten des Atlantiks. Bahia war eine Drehscheibe des Sklavenhandels. Hunderttausende verschleppte Afrikaner betraten hier amerikanischen Boden.
    Jorge Amado ist ein Schriftsteller aus Bahia. Obwohl weiß, obwohl Sohn eines Kakao-Pflanzers, galt er als "der schwärzeste Weiße Bahias". In vielen seiner Romane schwingt die afro-brasilianische Kultur mit. Seine Helden nehmen an den Riten und Feiern des Candomblé teil, so heißt der Voodoo-Kult in Brasilien. Amado verteidigte Zeit seines Lebens das afrikanische Erbe der Kultur Brasiliens gegen rassistische Politiker und Intellektuelle. Candoblé ist eine Verschmelzung katholischer und afrikanischer Spiritualität, afrikanische Gottheiten leben in Personalunion mit katholischen Heiligen. So auch in Amados Roman
    Eine sehr wertvolle Statue der Heiligen wird von ihrer Kirche ausgeliehen. Ein Museum in Bahia will sie für ein paar Wochen ausstellen. Aber sie kommt dort nicht an! Große Aufregung in der Stadt. Polizei und Geheimdienst verdächtigen alle Welt, aber alle sind unschuldig. Denn die heilige Barbara hat ihre zweite Identität angenommen, sich in die Göttin Jansa verwandelt. Zwei Tage lang geht sie durch die Stadt und wirkt mit ihren Zauberkräften gute Werke – meistens im Dienst der Liebe. Dann steht sie als heilige Barbara im Museum – bis zum nächsten Mal.
    Weitere Romane Amados mit deutlichem Voodoo-Einschlag:
    • Jorge Amado: "Die Werkstatt der Wunder"
      Roman. Mit Nachw. v. Henry Thorau.
      2012 S. FISCHER
    Keiner kennt die Farben Brasiliens besser als Jorge Amado das Meer, die Plantagen, der Sertão und das, was unter den Dächern geschieht: okkulte Feste, afrikanische Rituale, der ungestüme Tanz der Menschen.
    Mit der "Werkstatt der Wunder" legte Amado sein Meisterwerk vor: Im Mittelpunkt steht der 100. Geburtstag von Pedro Archanjo, dessen ethnologisches Werk dem Dunkel entrissen werden soll. Doch statt als Akademiker entpuppt sich Archanjo als Apostel der Vermischung von Schwarz und Weiß, ein weiser Mestize, der getrieben von sinnlicher Neugier gerade das hervorbringt, was er beschreibt und liebt den wilden Karneval von Bahía.
    • Gabriele Lademann-Priemer: "Voodoo"
      Freiburg 2011
    Kaum eine religiöse Praxis ist derart geheimnisumwittert wie Voodoo. Doch worum handelt es sich dabei? Blutrünstige Magie oder Religion? Woher kommt Voodoo, wo ist der Kult verbreitet? Und wie manifestiert sich Voodoo in unserer Gesellschaft? Gabriele Lademann-Priemer, eine der wenigen Expertinnen im deutschsprachigen Raum, klärt auf.

    Tänzer und Musiker beim "Festival der schwarzen Gottheiten", das alljährlich am Strand von Aného (Togo) stattfindet.
    Tänzer und Musiker beim "Festival der schwarzen Gottheiten", das alljährlich am Strand von Aného (Togo) stattfindet. (Michael Weisfeld)
    Interview mit Ute Siewerts, Universität Bremen:
    Einen lieben Gott, der Himmel und Erde erschuf, kennen die Voodoo-Anhänger ebenso wie Christen und Muslime. Aber die Welt des Voodoo ist zudem belebt von unzähligen kleineren Gottheiten, von den Geistern der Bäume und Felsen, von den Seelen der Verstorbenen. Mit diesen Geistwesen wollen die Voodoo-Anhänger in Kontakt treten mit Gesängen und Tänzen, mit Zeremonien, Tieropfern und in der Trance. Wir aufgeklärten, nüchternen Europäer stehen selbstverständlich über solchen Dingen. Wir glauben – wenn überhaupt - an einen fernen Gott, dessen Reich mit den Fortschritt der Wissenschaft zusehens kleiner wird. Wir fürchten keine Geister, kennen keine Trance, hoffen nicht auf Wunder.
    Oder?
    Der Autor der Langen Nacht hat die Mittelalterforscherin Ute Siewerts von der Universität Bremen gefragt, ob es im Untergrund Europas nicht auch Geistwesen gibt.
    Ute Siewerts: Ja, unbedingt. Da gibt es sehr viele volkstümliche Vorstellungen davon. Dass beispielsweise zwischen Weihnachten und dem sechsten Januar, in den zwölf sogenannten Raunächten, Heerscharen von Seelen über die Lande ziehen und die Häuser heimsuchen. Es gibt auch die Variante, dass gute Frauen mit weißen Kleidern in dieser Zeit umher ziehen, und man ihnen in den Häusern den Tisch deckt, damit man im nächsten Jahr Wohlstand und immer genug zu essen hat. Und es gibt die Vorstellung, dass Tote zurückkommen und den Lebenden Botschaften überbringen, weil sie noch irgendwas gut zu machen haben. Oder weil die Lebenden für die Toten noch mal aktiv werden sollen.
    Das sieht man ja an unzähligen Sagen. Von den Frauen etwa, die in Schlössern und Burgen spuken, weil ihr Kind gestorben ist, oder weil sie ihren Mann umgebracht haben, das ist ganz alltäglich bis ins 20 Jahrhundert hinein. Da hat fast jeder was zu erzählen von so einer Begegnung mit einem Toten. Sei es direkt als Gestalt, sei es durch Geräusche, dass ein Toter zum Beispiel jede Nacht um die gleiche Zeit an die Tür klopft, um auf sich aufmerksam zu machen, das ist immer noch verbreitet, dass Leute das glauben.
    Das gibt's auch schon in der Antike. In Ägypten glaubte man, dass ein Verstorbener eigentlich nicht tot ist, sondern im Jenseits ein eigenes neues Leben lebt.
    Vielleicht ist das so eine Art universale Vorstellung. Den Menschen war zu allen Zeiten bewusst, dass sie nicht nur aus Körper bestehen, und sie haben versucht, Lösungen zu finden, um das zu denken. Das ist eine weltweite Vorstellung, das gibt's überall, ohne dass man sagen könnte, das hat da und da angefangen.
    Michael Weisfeld: Der französische Ethnologe Alfred Métraux, der den Voodoo-Kult in Haiti beschrieben hat, fühlte sich dort an das griechische Altertum erinnert. Er schrieb:
    "Man kann die orgiastischen Gesellschaften der Antike mit den Kulten des Voodoo vergleichen. Die in Besessenheitszustände übergehenden Tänze, die Initiationsriten – das erinnert an die Demeter– und Dionysos-Kulte. Die Zeremonien des Voodoo berühren uns, weil sie an eine ferne und vertraute Vergangenheit erinnern, die sich auf unser altes, klassisches, heidnisches Mittelmeer bezieht."
    Siewerts: Immer wenn ich eine nicht-monotheistische Religion habe, wie die antiken Griechen mit ihrem Götterhimmel, dann habe ich viele verschiedene Ansprechpartner, übernatürliche, die ich mir gewogen machen muss. Mit Geschenken, mit Opfergaben, mit Ritualen, mit Beschwörungen.
    Weisfeld: Aber nur, wenn man glaubt, dass die Geister und Götter den Menschen im Grunde wohl gesonnen sind und einem schon helfen werden, wenn man sich ihnen freundlich zuwendet. Voodoo-Anhänger stellen sich die Geister und kleinen Götter als Diener des großen Schöpfergottes vor. Gibt es nicht auch böse Dämonen?
    Siewerts: In der europäisch-nahöstlichen Tradition sind Geister vornehmlich böse. Im europäischen Mittelalter gibt es Bilder, wo die Seele von Dämonen aus dem Mund des Verstorbenen herausgezogen und dann ins Fegefeuer verschleppt wird.
    Dämonen kennen wir zum Beispiel aus dem "Schlüssel Salomos". Das ist ein Text, der eine Apokryphe oder Ergänzung zum Alten Testament ist. Also ein biblischer Text, der nicht kanonisch geworden ist. Es ist darin von Dämonen die Rede, die Salomo beim Bau seines Tempels stören, indem sie seine Arbeiter quälen. Und dann bekommt Salomon direkt von Gott eine magische Aufgabe sozusagen, einen Siegelring, mit dem er die Dämonen beherrschen kann.
    Es gibt im "Schlüssel Salomos" eine Beschreibung, wo genau gesagt wird: Es muss das Schwert, das dazu gehört – es gehören oft Waffen zu so einer Zeremonie – das muss selbst geschmiedet sein, da müssen magische Symbole drauf sein, dann wird auf eine Art Mantel mit Blut das Siegel Salomos gezeichnet, der Magier selbst steht innerhalb eines Kreises, den er um sich zieht, damit er geschützt ist, wenn er die Dämonen herbeiruft, und dann werden auch noch aromatische Hölzer verbrannt oder Aloe, also Duftstoffe. Und dann müssen die Namen der Dämonen gesprochen werden. Weil Namen der Dämonen sind eigentlich geheim, und wenn man die weiß, hat man Macht über sie.
    Dämonen versucht man zu unterwerfen, also zu zwingen mit irgendwelchen Bannzaubern. Man zwingt sie, dem Menschen nützlich zu sein, aber die machen das nicht freiwillig. Und auch nicht gegen Geschenk sondern nur unter Androhung bösartiger Maßnahmen. Und die Wünsche, die der Mensch sich so erfüllt, sind oft fragwürdig: Wie werde ich reich und schön, oder wie bringe ich meinen Nachbarn dazu, dass er mir sein Land verkauft oder wie bringe ich die Frau meines Nachbarn dazu, dass sie mit mir ins Bett geht?