1965 erschienen in Frankreich zwei bahnbrechende Bücher mit einer neuen Marx-Lektüre: "Für Marx" und "Das Kapital lesen" von Louis Althusser und seinen Mitarbeitern. Sie waren der Versuch, sich das Marxsche Werk neu anzueignen. Dies in einer Zeit der ideologischen Spaltung der Welt, die Karl Marx (1818 - 1883) der sowjetisch geprägten Sichtweise überlassen hatte.
Nun ein neuer Blick von französischen Philosophen: Mit einem selbständigen Studium nahmen sie den ganzen Marx, seine Frühschriften, die Varianten seines Werks und die Originalquellen (auf Deutsch) in den Blick.
So entstand eine Interpretation, die Marx als Gesellschaftswissenschaftler und Sozialphilosophen erfasste und in die Diskussion mit kontroversen Positionen (Max Webers, Martin Heideggers, der Hermeneutik, des Strukturalismus) einbrachte. Die neue Marx-Lektüre gab den Anstoß dafür, den bestehenden Herrschaftsverhältnissen eine "befreiende Alternative abzuringen" (F.O. Wolf).
In Deutschland wurde diese Neuentdeckung mit Begeisterung aufgenommen – drei Jahre vor 1968.
Der Deutschlandfunk lud in Zusammenarbeit mit dem Centre Marc Bloch ein zu einer Diskussion über den "französischen Marx": Mit Étienne Balibar (Paris), Rahel Jaeggi (Humboldt-Universität) sowie den Publizisten Mathias Greffrath und Uwe Wittstock (Moderation).
Christian Brückner liest Original-Marx-Zitate sowie Auszüge aus dem neuen Buch von Uwe Wittstock: "Karl Marx beim Barbier", das gerade im Blessing-Verlag erschienen ist.
Debatte über Karl Marx (1. und 2. Stunde)
Moderator Uwe Wittstock über die Diskussion im Centre Marc Bloch:
Karl Marx gibt keine Ruhe. Auch zu seinem 200. Geburtstag am 5. Mai ist er noch immer einer der umstrittensten Denker der europäischen Geistesgeschichte: Für die einen der Ideologe, der wesentlich dazu beitrug, das 20. Jahrhundert zu einer der blutigsten Epoche der Menschheitsgeschichte zu machen. Für andere ein Visionär, der wie kein anderer die bestehenden kapitalistischen Wirtschafts- und Machtverhältnisse analysierte und Wege wies, wie sie in Richtung einer tatsächlich humanen, gerechten Welt zu verändern sei.
Die Lange Nacht Marx aus Frankreich leuchtet dieses bis heute virulente Spannungsfeld aus in der Geburtstagsnacht vom 5. zum 6. Mai.
Der französische Philosoph Louis Althusser (1918-1990) war es, der vor rund 60 Jahren begann, den Marxismus von der Vereinnahmung durch die Machthaber des Realen Sozialismus zu befreien, denen er als Rechtfertigungs-Ideologie ihrer diktatorischen Herrschaft diente. Althusser brach mit der orthodoxen Lesart der marxistische Theorien und brachte sie so in die philosophischen, aber auch in die politischen Diskussionen des Westens zurück. Der moderne Marx, der den Eurokommunismus und die Studentenbewegung von 1968 inspirierte, war ein "Marx aus Frankreich".
Einer der wichtigsten Weggefährten Althussers, Étienne Balibar, berichtete in der Langen Nacht von dieser Renaissance des Marxismus, in einer Diskussion mit Mathias Greffrath, einem der wichtigen intellektuellen Protagonisten der 68er-Bewegung in Deutschland und der Rechts- und Sozialphilosophin Rahel Jaeggi, einer der Hauptorganisatorinnen der internationalen Konferenz "Re-Thinking Marx". Geleitet wurde das Gespräch von Uwe Wittstock, dessen jüngstes Buch "Karl Marx beim Barbier" aus biografischer Sicht ein neues Licht auf Marx wirft.
Welchen Weg nahm das marxistische Denken nach der Wende, die ihm Althusser gab? Welche Bedeutung hat es heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, für philosophische und politische Debatten? Sind Marx’ ökonomische Theorien widerlegt durch das Scheitern des Realen Sozialismus? Welche Perspektiven eröffnet sein Werk angesichts von Neoliberalismus und Globalisierung, die gegenwärtig die Fundamente der liberalen Gesellschaften des Westens erschüttern? Haben die Banken- und Finanzkrisen der jüngsten Vergangenheit gezeigt, dass inzwischen die Kapitalisten zu den gefährlichsten Feinden des Kapitalismus geworden sind – viel gefährlicher als es die Arbeiterbewegung je war? Fragen wie diese bestimmten die Diskussion.
Christian Brückner liest aus dem Buch "Karl Marx beim Barbier" von Uwe Wittstock (3. Stunde)
Zu den verblüffenden Zufällen der Geschichte gehört, dass Louis Althusser, der Erneuerer des Marxismus, aus Algier stammte, also aus der Stadt, in die Karl Marx zu seiner letzten Reise aufbrach. Ein Jahr vor seinem Tod verbrachte Marx dort als schwerkranker Mann 10 Wochen in großer Zurückgezogenheit. Dokumente lassen erkennen, welche vielfältigen Veränderungen er hier erlebte. Äußeren Ausdruck fanden diese Veränderungen in einem für Marx einmaligen Akt: Er ließ sich in Algier im Alter von 62 Jahren seinen Vollbart rasieren, den er seit Studentenzeiten getragen und immer als Ehrenzeichen des Revolutionärs betrachtet hatte.
Die Lange Nacht Marx aus Frankreich wird deshalb beschlossen mit einer Lesung von Christian Brückner aus dem Buch "Karl Marx beim Barbier", in dem Uwe Wittstock diesen Aufenthalt in Algier erzählerisch vergegenwärtigt und biografisch als eine überraschend selbstkritische Wandlung von Marx gegen Ende seines Lebens deutet.
Uwe Wittstock über sein Buch "Karl Marx beim Barbier":
Über Uwe Wittstock:
Der Journalist und Autor Uwe Wittstock war lange Literaturredakteur beim "Focus", der "Welt" und der "FAZ". Er wurde für seine Arbeit mit dem Theodor-Wolff-Journalistenpreis ausgezeichnet. Sein Buch "Karl Marx beim Barbier" ist im März 2018 im Blessing Verlag erschienen (ISBN: 978-3-89667-612-2) und dort für 20,00 Euro erhältlich.
Der Journalist und Autor Uwe Wittstock war lange Literaturredakteur beim "Focus", der "Welt" und der "FAZ". Er wurde für seine Arbeit mit dem Theodor-Wolff-Journalistenpreis ausgezeichnet. Sein Buch "Karl Marx beim Barbier" ist im März 2018 im Blessing Verlag erschienen (ISBN: 978-3-89667-612-2) und dort für 20,00 Euro erhältlich.