Es ist nur ein winzig kleines Tattoo, das sich Simon hinter sein Ohr hat stechen lassen. Doch für seine Freundin Leo wird es zum Menetekel. Dieser Mann, mit dem sie seit Jahren eine Beziehung „wie aus dem Küchenkatalog“ führt, bricht plötzlich mit allem, was bisher als sicher galt. Seinen gut bezahlten Job im Designbüro gibt er auf, in der Wohnung stellt er die Möbel um, er schläft kaum noch und steigert sich in Wahnvorstellungen hinein. Es ist Leo, die uns in Lize Spits Roman „Ich bin nicht da“ davon erzählt, wie sich ein Abgrund zwischen ihr und Simon auftut. Dabei war er ihr einmal so nahe gewesen. Auch, weil sie sich in der Trauer um ihre früh verstorbenen Mütter gefunden hatten.
„Wir hatten beide bereits eine gute Portion Pech abbekommen, und das hatten wir verkraftet. Alles würde gut mit uns, solange wir zusammenblieben. Wir waren die beiden schiefgesackten Säulen, die, sobald man sie aneinander lehnte, fester stehen würden, als eine unversehrte, für sich stehende Säule es je könnte.“
Einsamkeit und Liebe
Die Ursache der wachsenden Kluft zwischen Leo und Simon wird nach und nach deutlich: Simon ist manisch-depressiv. Sehr detailliert beschreibt Lize Spit auf fast 600 Seiten, wie diese Krankheit die Beziehung auf die Probe stellt, wie Leo versucht zu helfen und doch scheitert, weil Simon schließlich in die Psychiatrie aufgenommen wird und völlig verändert wieder herauskommt.
Dass die Autorin dabei heftige Szenen und drastische Bilder findet, die schmerzhaft, manchmal sogar abstoßend, aber immer glaubhaft sind, liegt wohl an den eigenen Erfahrungen, die Lize Spit hat einfließen lassen.
„Ich hatte selbst über zwölf Jahre lang eine Beziehung mit einem Jungen, der sich letztendlich als manisch-depressiv erwies. Und es ist ganz sicher nicht so, dass dieses Buch autobiografisch ist oder genau davon handelt. Aber ich bin so lange und in der ersten Reihe Beobachterin davon gewesen, wie eine psychische Krankheit zwei Menschen zu Fremden machen kann und vor allem auch, welche große Rolle die Liebe dabei spielt und wie viel Kraft in der Liebe steckt, wie viel man mit der Liebe auch aushält in einer Beziehung.“
Leo hält es in der Beziehung mit Simon aus, weil sie sich ins Schreiben rettet. Erst sind es Kolumnen fürs Radio, später schreibt sie unter Pseudonym für eine Frauenzeitschrift über ihr Leben mit Simon. Während der immer mehr in seiner Krankheit verschwindet, erfährt Leo Anerkennung und Trost und kann zugleich darüber reflektieren, was gerade mit ihnen passiert.
„Ich hatte nicht nur Simon, sondern auch mich selbst verloren. Das war es, was Simon meinte, wenn er mir ‚ich vermisse dich‘ schrieb, obwohl ich nur im angrenzenden Zimmer mit etwas beschäftigt war. ‚Wir schaffen das schon‘ sagte Simon, er schlief ein, ich blieb wach liegen.“
Atemlose zwölf Minuten
Nur von Liebe und Krankheit zu lesen, wäre auf Dauer recht ermüdend, das muss der Autorin bewusst gewesen sein. Deshalb hat Lize Spit eine parallele, spannende Erzählung eingebaut, die den Roman strukturiert und vorantreibt. Denn Simon entführt in seinem Wahn das frisch geborene Baby eines befreundeten Paares. Leo rast auf dem Fahrrad von der Arbeit nach Hause, in der panischen Hoffnung, Simon und das Kind dort lebend anzutreffen. Es sind zwölf atemlose Minuten, die Lize Spit außerdem nutzt, um die existentielle Frage zu stellen, ob man einem psychisch kranken Menschen ein Kind anvertrauen kann. Die Antwort gibt sie am Ende mit einer herzzerreißenden Szene, die allein es schon wert ist, den hin und wieder ausufernden Roman nicht zur Seite zu legen. Dafür sorgt auch, dass Lize Spit sich nicht auf ihre privaten Erfahrungen verlassen hat. Sie hat Ärzte, Psychiater und Patienten getroffen und konnte so ihre hoch emotionale private Geschichte mit der nüchternen Klinik-Realität untermauern.
„Das ist wirklich sehr merkwürdig, dass man gar nicht hunderttausende Geschichten über manische Depressionen schreiben könnte, weil die Krankheit verrückterweise oft demselben Muster folgt und sich in denselben Weisen der Außenwelt präsentiert. Das fand ich auch beruhigend, dass ich dachte, ich kann sehr breit schauen, ich kann es untersuchen, aber eigentlich kann ich darauf vertrauen, dass ich alle Informationen bereits habe.“
Lize Spits Roman „Ich bin nicht da“ handelt von einer Liebe im Ausnahmezustand. Schonungslos wird hier von Schmerz und Scham erzählt, die eine psychische Krankheit auslösen, auch von Wut und Hilflosigkeit den Betroffenen gegenüber, gerade und vor allem, wenn man ihnen so nahe ist wie in einer Liebesbeziehung.
Das ist manchmal schwer zu ertragen, weil Lize Spit keine Körperflüssigkeit auslässt und auch verstörende Szenen präzise einfängt. Aber genau das macht die literarische Kraft des Romans aus. Als Leserin wird man in ein Drama hineingezogen, an dem niemand schuld ist, aber dessen zerstörerische Kraft vor nichts Halt macht.
Das ist manchmal schwer zu ertragen, weil Lize Spit keine Körperflüssigkeit auslässt und auch verstörende Szenen präzise einfängt. Aber genau das macht die literarische Kraft des Romans aus. Als Leserin wird man in ein Drama hineingezogen, an dem niemand schuld ist, aber dessen zerstörerische Kraft vor nichts Halt macht.
Lize Spit: „Ich bin nicht da“
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main. 576 Seiten, 26 Euro.
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main. 576 Seiten, 26 Euro.