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"Eine Menge Frustration in Brüssel"

Die Aussage Günter Oettingers, Europa sei ein Sanierungsfall, ist ein Ausdruck von Frustration, meint der Europaparlamentarier Jo Leinen (SPD). Die Krise hätte tatsächlich für eine gewisse Lähmung in der EU gesorgt. Er fordert von den Mitgliedstaaten mehr Solidarität, damit Europa nicht auseinanderfalle.

Jo Leinen im Gespräch mit Jürgen Liminski |
    Dirk Müller: Die Europäische Union, ein Sanierungsfall, das ist die These von EU-Kommissar Günther Oettinger. Darüber hat mein Kollege Jürgen Liminski mit dem sozialdemokratischen Europaabgeordneten Jo Leinen gesprochen. Seine erste Frage: Ist Europa tatsächlich ein Sanierungsfall?

    Jo Leinen: Der deutsche Kommissar hat sicherlich eine Menge Frustration in Brüssel. Er hat ein Ressort, wo es nicht richtig vorangeht, in der Energiepolitik. Der Energiebinnenmarkt kommt nicht voran, die Mitgliedsländer machen, was sie wollen bei den Energieträgern, und wenn man sich die Pipelinesituation im Osten ansieht, da spielt auch ein EU-Land gegen das andere. Also es ist eine Menge Frust in seiner Äußerung, dass die EU ein Sanierungsfall ist – sein Bereich ist ein Sanierungsfall.

    Jürgen Liminski: Aber hat er in der Sache nicht doch auch recht, denn in den großen Linien versagt die EU, zum Beispiel in der Außenpolitik, Stichwort Syrien, aber beim Regeln der kleinen Angelegenheiten ist sie ganz groß, Stichwort Ölkännchen oder Bananenkrümmung.

    Leinen: Ja, in der Tat gibt es eine gewisse Lähmung durch diese große Krise, die wir seit drei Jahren haben. Die Krise, die ist so ein bisschen wie ein Spaltpilz, wie ein Sprengsatz, und es gibt eine gewisse Verwirrung auch in der Europapolitik. Man sieht, dass bei den großen Themen der Außen- und Sicherheitspolitik nicht viel geht, im Gegenteil, die EU ist mit sich selbst beschäftigt, und auf den eingeübten Feldern des Verbraucherschutzes, da wird dann bis ins Kleinklein hinein geregelt. Man kann das so sehen, darf aber doch nicht das Kind mit dem Bade ausschütten, wenn ich sehe, dass die EU nach wie vor der größte Handelsblock in der Welt ist, wir Freihandelsabkommen machen mit Japan, mit Indien, jetzt mit den USA als großen transatlantischen Markt. Es gibt auch positive Sachen, aber man kann die Kritik durchaus stehen lassen, dass die EU zurzeit etwas orientierungslos ist.

    Liminski: Eine andere Baustelle der EU ist das Verhältnis zu Bulgarien und Rumänien. Hat Oettinger recht, wenn er sagt, diese Länder seien unregierbar? Immerhin schlittern sie ja auch von einer Krise in die andere.

    Leinen: Bulgarien und Rumänien sind sicherlich etwas zu früh in die EU gekommen. Da gab es dann dennoch die Hoffnung, dass als Mitgliedsland der großen Familie Europäische Union schnell Fortschritte gemacht werden, das sieht nicht danach aus. Die politische Klasse in den Ländern muss sich erheblich am Riemen reißen und besser werden, die Korruption grassiert an dieser Ecke Europas nach wie vor. Also dort kämpft so quasi ein anderer Teil Europas mit dem alten Europa, was Kultur, politische Kultur, was Einhaltung von Regeln angeht. Man sieht, dass in Südosteuropa, im Balkan und dahinter, es andere Gesetze gibt, andere Regeln gibt, und damit haben wir in der Tat zu kämpfen, das muss man sagen.

    Liminski: Herr Leinen, Sie waren Mitglied im Verfassungskonvent und Vorsitzender des Verfassungsausschusses. Das Projekt Verfassung ist gescheitert, kann man sagen, kämen wir mit einer neuen Verfassung und institutionellen Reformen einer Sanierung näher, oder ist es nicht so, dass letztlich die Interessen der einzelnen Länder, also wenigstens der großen und größeren, auch historisch gewachsenen – Deutschland, Frankreich, Italien, Großbritannien, Spanien, Polen – auf Jahrzehnte hinaus stärker empfunden werden als die Gemeinschaftsinteressen?

    Leinen: Ja, diese Finanzkrise ist ein Rückschlag. Es waren ja nicht die Europa-Hauptstädte Brüssel und Straßburg, die agiert haben, sondern die nationalen Hauptstädte, im Wesentlichen Berlin und Paris, und die Instrumente sind auch mehrheitlich intergouvernementale Abmachungen, wie der Rettungsschirm ESM oder der Fiskalpakt, und das ist aber auch zur gleichen Zeit eine Riesengefahr. Alle zeigen mit dem Finger auf Deutschland, das kann uns überhaupt nicht recht sein, und wir müssen zurück zu der Gemeinschaftsmethode, also auch zu den EU-Institutionen. Das ist die Exekutive in Form der Kommission, und das ist die Legislative in Form des Europaparlaments. Wir müssen noch mal den Weg zurück nach Europa finden. Wir und auch ich schlage vor, dass wir uns auf einen neuen Konvent vorbereiten, also eine gemeinsame Plattform der Parlamente und der Regierungen in der EU. Wir müssen uns vorbereiten auf eine inhaltliche Agenda, wie wir jetzt zu einer echten Wirtschafts- und Finanzunion kommen, wie wir die demokratische Kontrolle und die Beteiligung der Bürger verbessern, also mehr Solidarität und mehr Demokratie wären die Oberbegriffe für einen neuen, gemeinsamen Anlauf, Europa nicht auseinanderfallen zu lassen, sondern durch die Krise auch gestärkt enger zusammenzuschnüren.

    Müller: Mein Kollege Jürgen Liminski im Gespräch mit dem sozialdemokratischen Europaparlamentarier Jo Leinen.


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