Kairo am 3. Juli dieses Jahres: Der ägyptische General Abdel Fattah al-Sissi erklärt Präsident Muhammad Mursi für abgesetzt. Nach nur einem Jahr ist die Regierung der Muslimbrüder gescheitert. Erlebt der politische Islam damit gerade den Anfang vom Ende? Debatten in der islamischen Welt über Reformen und Demokratie haben längst auch die Islamisten erreicht und verändert. Die ägyptischen Muslimbrüder nahmen 1994 erstmals an Parlamentswahlen teil. Die Politikwissenschaftlerin Ivesa Lübben von der Universität Marburg hält deren Bekenntnis zur Demokratie für glaubwürdig:
"Wo sie skeptisch waren, war gegenüber Parteien, politischen Parteien. Sie hatten in ihrer Frühphase eher ein Modell der direkten Demokratie, dass jeder Wahlkreis seinen Kandidaten wählt. Aber seitdem haben sie sich sehr intensiv damit auseinandersetzt und haben dann '94 ein Papier verabschiedet, in dem sie sich explizit zur Demokratie und zum Parteienpluralismus bekennen."
Im Praxistest allerdings sind die Muslimbrüder gescheitert - vor allem, weil sich ihr Demokratieverständnis als sehr formal erwiesen hat. Es beschränkte sich im Wesentlichen auf ein Bekenntnis zu freien Wahlen. Den Muslimbrüdern gelang es jedoch nicht, anderen politischen Lagern die Hand zu reichen. Die Islamisten misstrauen liberalen und säkularen Kräften - auch eine Folge der jahrzehntelangen Verfolgung unter Mubarak. Statt auf die Opposition zuzugehen, kopierten die Ikhwan, so der arabische Name der Muslimbrüder, die Herrschaftstechnik des gestürzten Diktators - für den Mursi-kritischen Politikwissenschaftler Ahmed Badawi aus Ägypten ein schwerer Fehler. Nicht eine Islamisierung des Landes sei das Problem gewesen, sondern eine Ikhwanisierung:
"Die Menschen haben es den Muslimbrüdern verübelt, dass sie versucht haben, überall ihre eigenen Leute zu installieren. Das war sehr ähnlich zu dem, was die alte Regierungspartei von Mubarak gemacht hat. Sie haben ein Patronage-System aufgebaut und ihre Leute an alle Schaltstellen gesetzt, von den Ministerien bis zu den lokalen Räten vor Ort."
Trotz intensiver Reformdebatten haben die Muslimbrüder auch den Dominanzanspruch des Islam nicht aufgeben. Sie tun sich schwer mit einem Staatsbürgerkonzept, bei dem jeder unabhängig von seiner Religion die gleichen Rechte und Pflichten besitzt. Ein christlicher Präsident ist für viele Islamisten undenkbar.
Politikwissenschaftlerin Lübben sieht beim Thema Religionsfreiheit offene Fragen:
"Auch die Muslimbrüder betonen das Recht auf Religionsfreiheit. Wobei da aber relativ unklar ist: Versteht man darunter nur das Recht von religiösen Minderheiten, dass sie ihre Religion frei ausüben dürfen? Oder gehört auch das individuelle Religionsrecht dazu? Das heißt also auch: Würde es auch implizieren, dass ein Muslim sagen kann, ich möchte jetzt zum Christentum konvertieren oder zu anderen Religionen konvertieren? Und hier, glaube ich, sind die Positionen noch sehr zurückhaltend."
Auch die Muslimbrüder fordern, dass die Scharia, das islamische Recht, eine Rolle bei der Gesetzgebung spielt. Allerdings treten sie dabei im Vergleich zu den noch konservativeren Salafisten moderater auf. In ihrem Parteiprogramm von 2007 hieß es, die Scharia gebe in wirtschaftlichen, politischen und sozialen Fragen lediglich allgemeine Prinzipien vor. Es sei dem Menschen überlassen, wie er die Scharia umsetze - damit greifen die Muslimbrüder auf ein typisches Argument von Reformdenkern zurück. Politikwissenschaftler Ahmed Badawi sieht prinzipiell keine Unverträglichkeit zwischen Demokratie und politischem Islam:
"Da steckt nichts in den Genen der Muslime oder des politischen Islam, was im Widerspruch zur Demokratie stehen würde. Die Frage lautet vielmehr, ob die existierenden islamistischen Parteien das politische Spiel lernen oder nicht."
Die Antwort wird in den einzelnen Ländern unterschiedlich ausfallen. In Tunesien zum Beispiel hat die größte islamistische Partei, die Ennahda, eine Koalition mit säkularen und linken Kräften geschlossen. Die Islamisten und ihr Vordenker Rachid al-Ghannouchi zeigen sich wesentlich moderater als die ägyptischen Muslimbrüder, sagt Ivesa Lübben:
"Es ist ein Teil der tunesischen Identität, dass man Teil des Mittelmeerraums ist, dass man offen ist zu den anderen Kulturen des Mittelmeerraums. Das teilen säkulare Tunesier wie auch islamistische Tunesier. Es ist völlig selbstverständlich, dass man sich mit anderen philosophischen Schulen, mit anderen soziologischen Schulen auseinandersetzt. Das tun auch die Ennahda-Leute. Ghanouchi war schon in den Achtzigerjahren einer der ersten islamischen Theoretiker, der sich intensiv mit Fragen von Demokratie auseinandergesetzt hat, mit der Frage, was bedeutet Demokratie, was bedeuten liberale Werte für einen modernen islamischen Staat."
Der Sturz von Präsident Mursi ist ein einschneidendes Ereignis - es wird die Islamisten verändern. Trotz des Scheiterns der Muslimbrüder sieht Politikwissenschaftler Ahmed Badawi Chancen, dass sich islamistische Parteien in gemäßigt religiös-politische Kräfte wandeln. Vorbild seien die AKP in der Türkei oder religiös fundierte Parteien in Israel.
"Wir können den politischen Islam nicht einfach abschreiben. Er wird bleiben. Aber wir erleben das Ende des traditionellen, engstirnigen politischen Islams, der die jahrelange Verfolgung durch mächtige Staatsmaschinerien überlebt hat. Sie hat einen pathologischen Islam geschaffen, dessen Ende jetzt eingeläutet worden ist."
Auf einem hoffnungswollen Weg sieht Badawi ausgerechnet die ägyptische Nur-Partei - also die eigentlich viel konservativeren Salafisten. Sie sind eng mit Saudi-Arabien verbunden und haben ein sehr puritanisches Islamverständnis. Die Nur-Partei gehörte auch zu jenem Bündnis, das Mursi nun gestürzt hat.
"Sie verhandeln und sind bereit zu Kompromissen. Sie sagen nicht, dass allein sie richtig liegen, weil es von Gott kommt. Sie sind bereit, eine gemeinsame Grundlage mit anderen politischen Kräften zu finden. Sie betrachten sich als Teil des politischen Spiels. Sie sind bereit, sich an die Regeln zu halten, die Menschen aufgestellt haben, und beharren nicht auf irgendwelchen Regeln, die von Gott kommen."
Schon bei der ersten Parlamentswahl in Ägypten nach Mubaraks Sturz hatten die Salafisten der Nur-Partei rund ein Viertel der Stimmen gewonnen. Sie könnten als einer der Gewinner aus der Krise hervorgehen. Das wäre alles andere als ein Ende des politischen Islam.
"Wo sie skeptisch waren, war gegenüber Parteien, politischen Parteien. Sie hatten in ihrer Frühphase eher ein Modell der direkten Demokratie, dass jeder Wahlkreis seinen Kandidaten wählt. Aber seitdem haben sie sich sehr intensiv damit auseinandersetzt und haben dann '94 ein Papier verabschiedet, in dem sie sich explizit zur Demokratie und zum Parteienpluralismus bekennen."
Im Praxistest allerdings sind die Muslimbrüder gescheitert - vor allem, weil sich ihr Demokratieverständnis als sehr formal erwiesen hat. Es beschränkte sich im Wesentlichen auf ein Bekenntnis zu freien Wahlen. Den Muslimbrüdern gelang es jedoch nicht, anderen politischen Lagern die Hand zu reichen. Die Islamisten misstrauen liberalen und säkularen Kräften - auch eine Folge der jahrzehntelangen Verfolgung unter Mubarak. Statt auf die Opposition zuzugehen, kopierten die Ikhwan, so der arabische Name der Muslimbrüder, die Herrschaftstechnik des gestürzten Diktators - für den Mursi-kritischen Politikwissenschaftler Ahmed Badawi aus Ägypten ein schwerer Fehler. Nicht eine Islamisierung des Landes sei das Problem gewesen, sondern eine Ikhwanisierung:
"Die Menschen haben es den Muslimbrüdern verübelt, dass sie versucht haben, überall ihre eigenen Leute zu installieren. Das war sehr ähnlich zu dem, was die alte Regierungspartei von Mubarak gemacht hat. Sie haben ein Patronage-System aufgebaut und ihre Leute an alle Schaltstellen gesetzt, von den Ministerien bis zu den lokalen Räten vor Ort."
Trotz intensiver Reformdebatten haben die Muslimbrüder auch den Dominanzanspruch des Islam nicht aufgeben. Sie tun sich schwer mit einem Staatsbürgerkonzept, bei dem jeder unabhängig von seiner Religion die gleichen Rechte und Pflichten besitzt. Ein christlicher Präsident ist für viele Islamisten undenkbar.
Politikwissenschaftlerin Lübben sieht beim Thema Religionsfreiheit offene Fragen:
"Auch die Muslimbrüder betonen das Recht auf Religionsfreiheit. Wobei da aber relativ unklar ist: Versteht man darunter nur das Recht von religiösen Minderheiten, dass sie ihre Religion frei ausüben dürfen? Oder gehört auch das individuelle Religionsrecht dazu? Das heißt also auch: Würde es auch implizieren, dass ein Muslim sagen kann, ich möchte jetzt zum Christentum konvertieren oder zu anderen Religionen konvertieren? Und hier, glaube ich, sind die Positionen noch sehr zurückhaltend."
Auch die Muslimbrüder fordern, dass die Scharia, das islamische Recht, eine Rolle bei der Gesetzgebung spielt. Allerdings treten sie dabei im Vergleich zu den noch konservativeren Salafisten moderater auf. In ihrem Parteiprogramm von 2007 hieß es, die Scharia gebe in wirtschaftlichen, politischen und sozialen Fragen lediglich allgemeine Prinzipien vor. Es sei dem Menschen überlassen, wie er die Scharia umsetze - damit greifen die Muslimbrüder auf ein typisches Argument von Reformdenkern zurück. Politikwissenschaftler Ahmed Badawi sieht prinzipiell keine Unverträglichkeit zwischen Demokratie und politischem Islam:
"Da steckt nichts in den Genen der Muslime oder des politischen Islam, was im Widerspruch zur Demokratie stehen würde. Die Frage lautet vielmehr, ob die existierenden islamistischen Parteien das politische Spiel lernen oder nicht."
Die Antwort wird in den einzelnen Ländern unterschiedlich ausfallen. In Tunesien zum Beispiel hat die größte islamistische Partei, die Ennahda, eine Koalition mit säkularen und linken Kräften geschlossen. Die Islamisten und ihr Vordenker Rachid al-Ghannouchi zeigen sich wesentlich moderater als die ägyptischen Muslimbrüder, sagt Ivesa Lübben:
"Es ist ein Teil der tunesischen Identität, dass man Teil des Mittelmeerraums ist, dass man offen ist zu den anderen Kulturen des Mittelmeerraums. Das teilen säkulare Tunesier wie auch islamistische Tunesier. Es ist völlig selbstverständlich, dass man sich mit anderen philosophischen Schulen, mit anderen soziologischen Schulen auseinandersetzt. Das tun auch die Ennahda-Leute. Ghanouchi war schon in den Achtzigerjahren einer der ersten islamischen Theoretiker, der sich intensiv mit Fragen von Demokratie auseinandergesetzt hat, mit der Frage, was bedeutet Demokratie, was bedeuten liberale Werte für einen modernen islamischen Staat."
Der Sturz von Präsident Mursi ist ein einschneidendes Ereignis - es wird die Islamisten verändern. Trotz des Scheiterns der Muslimbrüder sieht Politikwissenschaftler Ahmed Badawi Chancen, dass sich islamistische Parteien in gemäßigt religiös-politische Kräfte wandeln. Vorbild seien die AKP in der Türkei oder religiös fundierte Parteien in Israel.
"Wir können den politischen Islam nicht einfach abschreiben. Er wird bleiben. Aber wir erleben das Ende des traditionellen, engstirnigen politischen Islams, der die jahrelange Verfolgung durch mächtige Staatsmaschinerien überlebt hat. Sie hat einen pathologischen Islam geschaffen, dessen Ende jetzt eingeläutet worden ist."
Auf einem hoffnungswollen Weg sieht Badawi ausgerechnet die ägyptische Nur-Partei - also die eigentlich viel konservativeren Salafisten. Sie sind eng mit Saudi-Arabien verbunden und haben ein sehr puritanisches Islamverständnis. Die Nur-Partei gehörte auch zu jenem Bündnis, das Mursi nun gestürzt hat.
"Sie verhandeln und sind bereit zu Kompromissen. Sie sagen nicht, dass allein sie richtig liegen, weil es von Gott kommt. Sie sind bereit, eine gemeinsame Grundlage mit anderen politischen Kräften zu finden. Sie betrachten sich als Teil des politischen Spiels. Sie sind bereit, sich an die Regeln zu halten, die Menschen aufgestellt haben, und beharren nicht auf irgendwelchen Regeln, die von Gott kommen."
Schon bei der ersten Parlamentswahl in Ägypten nach Mubaraks Sturz hatten die Salafisten der Nur-Partei rund ein Viertel der Stimmen gewonnen. Sie könnten als einer der Gewinner aus der Krise hervorgehen. Das wäre alles andere als ein Ende des politischen Islam.