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Eine Schule für alle

Die UN-Behindertenrechtskonvention von 2006 gibt Kindern einen Rechtsanspruch auf gemeinsames Lernen in der Regelschule - und zwar allen Kindern, ob behindert oder nicht. Für Deutschland heißt das: Regelschulen müssen ihren Unterricht anpassen, Sonderschulen stehen vor dem Aus.

Von Wibke Bergemann und Isabel Fannrich |
    Lesestunde in der Kiekemal-Grundschule im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf. In der Klasse 3c liest jeder Schüler entweder still für sich oder laut dem Tischnachbarn vor.

    Auch Jimi arbeitet sich durch die Geschichte vom Sams, dem rothaarigen Fantasiewesen. Weil die Schrift in dem Buch zu klein für das sehbehinderte Kind ist, hat die Lehrerin ihm den Text in Schriftgröße 36 auf den Laptop geladen. Um den Unterricht an der Tafel verfolgen zu können, benutzt der Junge eine Kamera mit großem Monitor.

    In der Klasse lernen 21 Kinder mit und ohne Behinderungen gemeinsam. Neben Jimi gehört auch ein autistischer Junge zu der 3c. Die Klassenlehrerin Beate Pabst versucht, den verschiedenen Fähigkeiten der Kinder gerecht zu werden. Ein Beispiel: Alle arbeiten an demselben Thema, aber wer schnell ist, soll mehr Seiten lesen als die anderen.

    "Wir haben hier das Gefühl, dass die Kinder sich untereinander sehr gut helfen können. Das sehbehinderte Kind sagt mir eines Tages, ich fühle mich ganz normal wie alle Kinder, dass es hier so behandelt wird, als hätte es keine, hm, Behinderung."

    Vor gut einem Jahr hat die Bundesrepublik die UN-Behindertenrechtskonvention von 2006 rechtsverbindlich anerkannt. Diese richtet sich gegen Ausgrenzung und Diskriminierung und sieht die volle gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen vor. Dazu gehört auch das Recht, eine allgemeinbildende Schule zu besuchen. Mit der Ratifikation hat sich die Bundesrepublik dazu verpflichtet, ein inklusives Bildungssystem aufzubauen, also eine Schule, die von der Unterschiedlichkeit der Schüler ausgeht, auf ihre individuellen Bedürfnisse eingeht und in der kein Kind ausgesondert wird.

    Die Inklusion geht weit über das hinaus, was man unter Integration Behinderter versteht, wie der Berliner Erziehungswissenschaftler Ulf Preuss-Lausitz erklärt:

    "Also der Begriff der Inklusion, der neue Begriff, er kommt aus dem englischen Sprachraum, wir haben ihn aus der internationalen Sprache übernommen. Und der Anspruch besteht, dass die Kinder von vorneherein dabei sind und nicht erst einbezogen werden müssen, sondern sie haben einen Rechtsanspruch auf gemeinsames Lernen in der Regelschule. Das ist die neue Situation. Und insofern ist es ein politischer Begriff. Der pädagogische aber heißt gemeinsames Lernen."


    "Der klassische Lehrer, der von allen die gleiche Aufgabe fordert, wird scheitern. Er wird Kinder frustrieren, die dieses Einheitsniveau nicht schaffen, und er wird Schüler, die zu mehr in der Lage sind, frustrieren, weil sie unterfordert sind","

    sagt Katrin Bloch, Leiterin der Kiekemal-Grundschule, die sich seit einem Jahr an dem Berliner Modellprojekt INKA beteiligt: Inklusion auf dem Weg. Stufenweise löst der Bezirk Marzahn-Hellersdorf eine Sonderschule für Kinder mit Lernschwierigkeiten auf. Die Schulanfänger gehen stattdessen auf die umliegenden Grundschulen.

    Inklusion bedeutet, dass die Regelschulen ihren Unterricht den neuen Mitschülern anpassen müssen, inhaltlich, aber auch in den Lehrmethoden. Statt im Frontalunterricht wird in Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit gelernt. Der gemeinsame Unterricht erfordert ein komplettes Umdenken bei Lehrern und Eltern:

    ""Sie wünschen sich manchmal noch zu vergleichen, aber eine Note auf dem macht es schwierig. Denn Max, der eine Zwei in Mathe hat, hat aber eine andere Zwei als eine Schülerin, die vielleicht auch eine Zwei hat, aber eben auf einem anderen Leistungsniveau. Ich muss bewerten, welche Leistungssprünge ein Kind macht, und nicht, kann er bis 100 rechnen oder kann er bis 1000 rechnen?"

    Die schrittweise Schließung von vier der insgesamt neun Sonderschulen in Marzahn-Hellersdorf verläuft unter teilweise heftigem Protest. Manche Eltern empfinden die Sonderschulen als Schutzraum für ihre Kinder: Die Klassen sind kleiner als an der Regelschule, die Sonderpädagogen auf den Umgang mit Behinderungen spezialisiert.

    Im Fall einer Sprachsonderschule klagten sechs Familien, damit ihre Kinder dort weiter unterrichtet werden - und bekamen recht. Das Berliner Verwaltungsgericht sah die ausreichende Förderung der Kinder mit Sprachschwierigkeiten auf einer Regelschule nicht gesichert. Stefan Komoß, Bezirksstadtrat für Bildung, SPD:

    "An dieser Stelle glaube ich gilt auch tatsächlich die Vermutung, dass man im Ostteil der Stadt eine historisch gewachsene stärker positive Belegung der Sonderschule hat. Also während in vielen Westberliner Bezirken tatsächlich die Sonderschule unbedingt gemieden wird, ist es hier in Marzahn-Hellersdorf gar nicht so. Da hat die Sonderschule einen durchaus berechtigten guten Ruf, weil die Kinder in der Schulzeit selber gut versorgt werden, und es wird weniger deutlich gesehen, dass da eine mangelhafte Perspektive im Anschluss vorhanden ist."

    In Deutschland lernen mehr als 400.000 Schülerinnen und Schüler in Sonder- oder Förderschulen - das sind 85 Prozent der behinderten Kinder. Der europäische Durchschnitt liegt bei nur 15 Prozent. In kaum einem anderen europäischen Land findet eine so starke Sortierung statt. In Italien beispielsweise hat man bereits vor über 30 Jahren die Sonderschulen komplett abgeschafft.

    Komoß: "Die eigentliche gesellschaftliche Frage, die sich stellt: Ist diese ein ausreichendes Argument, wenn man weiß, dass nach zehn Jahren diese Kinder ein nicht-selbstbestimmtes Leben haben werden, weil sie schon in 75 Prozent der Fälle ohne Schulabschluss die Schule verlassen und in einem noch höheren Ausmaße nicht in der Lage sein werden, selbst einen Beruf zu ergreifen und ihr Leben selbst zu gestalten."

    Preuss-Lausitz: "Wenn wir zehn Kinder mit Verhaltensproblemen in eine Lerngruppe tun, dann ist der Einzige, der kurzfristig keine Verhaltensprobleme hat, vielleicht die Lehrkraft. Aber alle anderen lernen voneinander, nämlich Verhaltensauffälligkeiten. Und die Leistungsergebnisse sind eine Katastrophe","

    kritisiert Preuss-Lausitz. In Deutschland spezialisieren sich Schulen auf zehn Förderschwerpunkte, darunter solche wie Hören oder Sprache, körperliche oder geistige Entwicklung. Eine im internationalen Vergleich einmalige Einrichtung sind die Sonderschulen für Lernbehinderte. Sie machen hierzulande den größten Anteil aus: Fast die Hälfte aller Kinder mit Förderbedarf haben Lernschwierigkeiten. Dabei sind die Grenzen fließend. Ab wann ist ein Kind, dem das Lernen schwerer fällt als anderen, ein behindertes Kind?

    In die Kritik geraten sind insbesondere die Verfahren zur Feststellung einer Behinderung. Die Zahlen schwanken erheblich von Bundesland zu Bundesland: In Rheinland-Pfalz bekommen lediglich 4,4 Prozent aller Schüler einen besonderen Förderbedarf attestiert, in Mecklenburg-Vorpommern sind es fast 11 Prozent. Komoß:

    ""Wir hatten nämlich immer schon rund 2.000 Kinder, denen dieser Förderbedarf diagnostiziert worden ist und das zu einer Zeit, Mitte der 90er-Jahre, als wir 60.000 Kinder hatten und genau die gleiche Anzahl gibt es immer noch, nachdem 15 Jahre später die Schülerzahl auf 20.000 gesunken ist. Und 2000 ist eben die Platzzahl in den sonderpädagogischen Förderzentren gewesen. Insofern spricht einiges dafür, dass ein Feststellungsverfahren, das sehr stark die sonderpädagogischen Förderzentren mit einbezieht, bei der Feststellung des Förderbedarfes immer dazu führen wird, dass genauso viel Kinder einen Förderbedarf haben, wie Plätze in der Förderschule vorhanden sind."

    Denn auch in Marzahn-Hellersdorf prüfte bislang diejenige sonderpädagogische Einrichtung den Förderbedarf, die das Kind im Fall eines positiven Bescheids dann aufnahm. Der Erziehungswissenschaftler Ulf Preuss-Lausitz sieht einen Interessenkonflikt:

    "Es gibt auch Verbandsinteressen. Es gibt ganz klar ein massives Interesse, dass die Sonderschulen, die inzwischen zum Teil Förderschulen heißen, dass die aufrecht erhalten werden bzw. neue Titel bekommen, zum Beispiel Kompetenzzentrum Sonderpädagogik und dann im Grund genommen, das unter Inklusion läuft. Das halte ich für eine Täuschung der Öffentlichkeit, auch für einen Etikettenschwindel."

    Gegen den Vorwurf, dass die Sonderpädagogen aus Angst um ihren Berufsstand die Förderzentren schützen wollen, wehrt sich Jürgen Heuel. Als Leiter des "Verbands Sonderpädagogen" in Berlin begrüße auch er die Einführung der inklusiven Schule:

    "Es wäre auch völlig unmoralisch, etwas anderes zu tun, weil es geht ja schließlich um Teilhabe am Leben, an Gesellschaft. Wir haben aber sonderpädagogische Standards entwickelt, Qualitätsstandards, und zwar für alle zehn Förderschwerpunkte, die wir in Deutschland haben. Wenn die nicht eingehalten werden, dann hat das zu einer Verschlechterung der Bildungssituation von Kindern, die es schwerer haben, geführt. Und das können wir nicht tolerieren."

    Heuel leitet im Ostberliner Bezirk Lichtenberg eine Grundschule, in der Regelschüler und lernbehinderte Kinder unter einem Dach lernen - in zwei getrennten, aber durchlässigen Bereichen. Der Sonderpädagoge weiß aus der Praxis, dass gerade Kinder mit Lernproblemen in zu großen Klassen häufig untergehen.

    "Ich denke eine gute Inklusion kann gelingen, wenn man eine Klassengröße hat, die sich um die 20 bewegt. Das ist eine Zahl, über die kann man reden. Und dann sollte mit etwa der Hälfte der Stunden ein zweiter Pädagoge mit in der Klasse sein. Und der aber auch vertreten werden muss, wenn er krank ist. Weil auch die Leute werden mal krank und dann ist die arme Regelschullehrerin ganz alleine und hat da vielleicht noch ein körperbehindertes Kind und ein lernbehindertes Kind und noch eins mit Verhaltensauffälligkeiten in der Klasse."

    Der Sonderpädagoge befürchtet, dass die Inklusion daran scheitert, dass es zu wenig Personal für die gemischten Klassen geben wird. Er nennt die Negativbeispiele: Wenn Sonderpädagogen, die eigentlich die Lehrkräfte in der Klasse unterstützen sollen, als Vertretungslehrer für kranke Kollegen zweckentfremdet werden. Oder wenn sie vor allem damit beschäftigt sind, Eltern zu beraten oder Diagnosen zu erstellen, statt sich um die Kinder zu kümmern. Inklusion sei ein sehr hochtrabendes Ziel, so Heuel:

    "Das ist ein Fernziel, was eine wunderbare Utopie ist. Aber wir bewegen uns in Zeiten mit knappen Ressourcen und ich glaube, dass man es in den nächsten Jahren auf gar keinen Fall, aber wahrscheinlich auch nicht in zehn oder zwanzig Jahren erreichen kann."

    Der Erziehungswissenschaftler Preuss-Lausitz dagegen glaubt, dass mittelfristig kein Weg daran vorbei führt, die Sonderschulen zu schließen:

    "Denn wir haben ja auch einen Kinderrückgang, einen generellen, von etwa 10 bis 20 Prozent, je nach Stadt oder Land, in allen Bundesländern in den nächsten 20 Jahren. Und das bedeutet für die Sonderschulen, die ja ohnehin manchmal einzügig, manchmal zweizügig sind - also nie riesige Schulen sind - dass die entweder weniger Kinder haben, wenn die Wahlfreiheit genutzt wird. Etwa die Hälfte geht dann gleich in die Integration, die anderen bleiben vielleicht noch dort. Dann lohnt sich eigentlich der Unterricht in diesen Minischulen nicht mehr. Auch nicht für die Schulträger, das ist teuer."

    Tatsächlich ist umstritten, wie viel es kostet, inklusive Schulen anstelle von Förderschulen einzurichten. Die teuerste Option wäre Preuss-Lausitz zufolge ein Parallelsystem, in dem beide Formen bestehen blieben. Für das Bundesland Bremen hat der Inklusionsexperte ein Gutachten erstellt, wie Schulen kostenneutral umgestellt werden können. Er geht davon aus, dass beim Unterhalt der Gebäude und bei der Beförderung erheblich gespart werden kann. Allein der Stadtstaat Bremen gebe jährlich rund 2,5 Millionen Euro dafür aus, Schüler zu weit entfernten Sonderschulen zu transportieren.

    Die Bremer Schulsenatorin Renate Jürgens-Pieper, SPD, weist den Vorwurf von Lehrern und Eltern zurück, der arme Stadtstaat wolle durch die geplanten Schließungen von Sonderschulen Geld sparen - ganz im Gegenteil:

    "Es wird teurer. Es wird teurer, weil man dezentral arbeitet, es kommen auch noch räumliche Fragen dazu, wir haben noch längst nicht alle Schulen barrierefrei."

    Um körperbehinderte Kinder aufnehmen zu können, müssen die Schulen auch baulich besser ausgestattet werden. Der Berliner Sonderpädagoge Heuel geht ebenfalls davon, dass es teurer wird:

    "Inklusion kann nicht kostenneutral gelingen, geht überhaupt nicht. Da muss man die Ressourcen für steigern. Weil die Kinder brauchen in der Tat häufiger mal eine Sonderpädagogin im Unterricht, die denen hilft."

    In den einzelnen Bundesländern verläuft die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention mit sehr unterschiedlichem Tempo. Erst wenige haben die Wahlfreiheit in ihre Landesschulgesetze aufgenommen, darunter Schleswig-Holstein, Hamburg und Berlin. Das heißt, Eltern können wählen, ob sie ihr Kind auf eine Regel- oder eine Förderschule schicken. In anderen Bundesländern müssen sich Eltern behinderter Kinder weiterhin in die Schule ihrer Wahl einklagen. Allerdings scheitern diese Klagen bislang häufig, weil die Schulbehörden sich darauf berufen, dass sie die notwendige sonderpädagogische Unterstützung oder die räumlichen Voraussetzungen nicht gewährleisten können.

    Elke Gerdes, Mitbegründerin der Bremer Elterninitiative "Eine Schule für alle" hat eine Tochter mit Downsyndrom:

    "Ich finde einfach dieses Einsortieren in eine Schule, wo ich nicht bestimmen kann, dass sie auf die gleiche Schule geht wie mein Sohn. Das kommt für uns einfach nicht infrage. Das akzeptieren wir nicht. Viele Eltern haben das jahrzehntelang akzeptieren müssen, trotzdem, ich kann mir das nicht vorstellen, dass sie zum Förderzentrum geht."

    Preuss-Lausitz: "Erstens: Es gibt eine unterschiedliche Interpretation in den verschiedenen Bundesländern, was eigentlich in der UN-Konvention überhaupt steht und wie das gemeint ist. Zweitens: Es gibt unterschiedliche politische Interessen der Bundesländer."

    Bereits vor der Ratifizierung der UN-Konvention gab es große Unterschiede: Während in Niedersachsen bislang nur fünf Prozent der förderbedürftigen Schüler in eine Regelschule integriert waren, sind es in Bremen bereits 45 Prozent. In der kommenden Woche treffen sich in der Stadt die Kultusminister der Länder, um über ein einheitliches Vorgehen bei der Umsetzung der Konvention zu beraten. Bis zum Ende des Jahres wollen sie sich auf ein gemeinsames Papier einigen. Doch die Positionen liegen weit auseinander. Die Bremer Schulsenatorin Renate Jürgens-Pieper:

    "Im Ziel müssen wir eine Formulierung finden, dass wir alle am Ende Inklusion wollen. Das wird nicht einfach, das zeigt sich schon im Vorfeld an den Papieren, die erstellt werden für die Tagung. Weil die Inklusion letztlich den Kern des deutschen Schulwesens aushöhlt, nämlich die Gliederung und die Einsortierung von Kindern."

    Das bayrische Kultusministerium sieht die inklusive Schule schon durch das sogenannte Kooperationsmodell verwirklicht. Dagegen bestehen in Bremen Kooperationsklassen bereits seit Ende der 80er-Jahre: Dort werden zum Beispiel geistig behinderte Schüler innerhalb einer Regelschule in kleinen Schwerpunkt-Klassen unterrichtet, haben aber mit einer Partnerklasse gemeinsamen Sport-, Kunst- oder Musikunterricht. In Bremen ist das nur der Anfang.

    Jürgens-Pieper: "Wir wollen aus dem Kooperationsmodell raus, das ist jetzt Schulwirklichkeit. Und wir wollen ein mehr erreichen, werden aber auch in diesem Entwicklungsprozess in Richtung Inklusion sehen, wo sind die Grenzen. Das hat noch kein Land ausprobiert."

    Als erstes Bundesland hat Bremen die Inklusion in sein Schulgesetz aufgenommen. Vor allem Kinder mit Lern- und Sprachschwierigkeiten oder Verhaltensauffälligkeiten sollen nun an Regelschulen untergebracht werden. Zum neuen Schuljahr wurden die Eltern angeschrieben, welche Schule sie für ihr Kind bevorzugen. Das Ergebnis überraschte alle Beteiligten: Knapp zwei Drittel der Eltern entschieden sich, ihr Kinder zur fünften Klasse an eine normale Oberschule zu geben. Das bedeutet, fast jede Oberschule in Bremen wird im neuen fünften Jahrgang zusätzlich fünf Schüler mit Förderbedarf aufnehmen.

    "Man kann sagen, boah, so viele für die Regelschule. Das hat hier auch viele überrascht. So nach dem Motto, oh Gott, die Geister, die ich rief, jetzt kommen die auch noch. Das hat für ziemlich viel Unruhe gesorgt, dass die Anwärterzahlen für die Regelschulen so hoch waren. Man kann aber auch sagen, warum sagen denn nicht alle, super, endlich kann ich mein Kind in die Regelschule bringen?"

    Als Mutter kann Elke Gerdes die Ängste der Eltern nachvollziehen, dass ihre Kinder auf der Regelschule untergehen könnten:

    "Ich denk, was nötig ist, dass Eltern verantwortbare Risiken mit ihren Kindern eingehen. Um das Ganze voranzutreiben und für alle Kinder erlebbar zu machen,, muss man mit dem Kind da auch hingehen und nicht sagen, ich will im Schutzraum Förderzentrum bleiben."

    Petra Perplies Voet, Schulleiterin an der Bremer Wilhem-Olbers-Schule, kennt aber auch die Skepsis auf der anderen Seite: bei den Eltern, die ihre nicht-behinderten Kinder auf die Regelschule schicken.

    "Natürlich wird es bei Eltern Berührungsängste geben. Nämlich bei all den Eltern, die Angst haben, dass ihrem Kind etwas verloren geht, wenn jemand dazu kommt, der schwierig ist. Eltern wollen ja immer das Beste für ihr Kind. Nur auf der anderen Seite ist es ganz klar, es ist das Schulgesetz, das setzen wir jetzt um, und da wird es für Eltern nicht die Möglichkeit geben zu sagen: Aber ohne mein Kind!"

    Doch auch in Bremen werden nicht alle Sonderschulen geschlossen: Für schwerst mehrfach behinderte Schüler bleiben Förderschulen ebenso erhalten wie für Seh- und Hörbehinderte, die vor allem mit Brailleschrift oder Gebärdensprache arbeiten.
    Die Lehrer an den künftig gemeinsamen Oberschulen fühlen sich trotzdem überrumpelt. Das Kollegium der Gesamtschule Bremen-Mitte fordert in einem offenen Brief an die Schulsenatorin kleinere Klassen mit höchstens 16 Schülern und eine ausreichende Betreuung mit Sonderpädagogen. Lehrer Jürgen Hadtstein kennt den Unterricht in Integrationsklassen:

    "Also das ist uns überhaupt nicht fremd. Aber was jetzt auf uns zukommt, das sind ja vor allem lernbehinderte und verhaltensauffällige Kinder, die wir natürlich auch können, die aber, wenn es nicht mehr weiter ging an der Schule, zu Förderzentren geschickt werden konnten. Und jetzt kommen sie zu uns. Wir haben einfach Befürchtungen, dass wir diesen Kindern nicht gerecht werden können.

    Bei verhaltensauffälligen Kindern ist es häufig so, dass die wirklich eine Eins-zu-eins-Betreuung benötigen, da muss ich mich wirklich danebensetzen, sonst klappt das oft nicht, das ist total schwer."

    Die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention steckt in den Anfängen. Eine konsequente Inklusion würde das deutsche Bildungssystem ähnlich stark verändern wie die Bildungsreformen der 70er-Jahre. Sie stellt eine pädagogische und politische Herausforderung dar, denn das gegliederte Schulsystem hat sich in den Köpfen festgesetzt. Ob die Schule für alle gelingt, wird vor allem davon abhängen, ob ausreichend Mittel zur Verfügung gestellt werden. Wird die Inklusion die Schule für alle Schüler verbessern? Oder wird sie zu einem Sparpaket?