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Eine Stadt zum Staunen

David Wagner ist ein Stadtwanderer, der seit mehr als 20 Jahren Berlin kreuz und quer durchstreift. In seinem neuen Band beschreibt er die Entwicklung der vergangenen zehn Jahre, als die Hauptstadt nach den überdrehten 90ern in den Alltag zurückfand.

Von Volkmar Mühleis |
    "Wohltuend unambitioniert", so nennt David Wagner die Fotos von Markus
    Hurek zu Berlin, und "wohltuend unambitioniert" könnte man auch seine eigenen Essays zur Stadt nennen, die nun unter dem Titel "Welche Farbe hat Berlin" erschienen sind. Wie alle Bücher im Verbrecher Verlag ist der Band im handlichen Taschenformat gestaltet, doch hier lädt das Format gleich zum Einstecken des Buches für den Spaziergang ein, wenn man selbst die Hauptstadt erkunden mag, mit Wagners Anregungen in der Tasche.

    Zwei Wege führen aus einer womöglichen Idealisierung von Berlin heraus: entweder den Fokus zu erweitern und Berlin nur als Synonym für '"Großstadt an sich" zu verstehen oder den Fokus zu schärfen auf jedes Detail, das die Wirklichkeit dieser Stadt ausmacht. David Wagner wählt die zweite Möglichkeit und fokussiert jedes Detail. Ruhigen Schrittes, genau, sachlich beschreibt er seine Eindrücke, Straßenzüge, Peripheres und Bekanntes. Es ist die unaufgeregte Zeit nach den neunziger Jahren, nach all dem Trubel eines szenigen, hippen, weltstädtischen, magnetischen Berlin, das jeden anzog, der hoffte, etwas davon würde auf ihn abfärben.

    "Welche Farbe hat Berlin" ist einerseits eine Bestandsaufnahme davon, andererseits beschreibt es den Alltag in der Stadt. Bestandsaufnahme etwa der neuen Architektur, im Gang durch Peter Eisenmans "Mahnmal" oder Norman Fosters Eingriffe in die FU. Alltagsbeschreibung in dem Sinne, dass man sich manchmal auch fragt, was Berlin eigentlich von einer Stadt wie Düsseldorf zum Beispiel unterscheidet. Das Buch scheint eine Zäsur zu verdeutlichen: in der Abkehr vom übersteigerten Anspruch hin zur weithin bekannten Normalität. Wie klingt etwa die Beschreibung Wagners von einem der Herzstücke in Berlin-Mitte, dem Monbijou-Park? Der Autor gibt eine Kostprobe:

    "In den sechziger Jahren wurde in dem vom Schloss befreiten Garten das Kinderbad Monbijou erbaut, mit einem sehr flachen und einem weniger flachen Becken. Kopfsprünge vom Rand sind dort leider verboten. Es gibt keine Rutsche und keinen Sprungturm, trotzdem ist das Bad bei entsprechenden Zielgruppen – Kindern und ihren Eltern – sehr beliebt. Die Kinder, die da planschen, planschen quasi im Rohmaterial eines expressionistischen Großstadtgedichts: über ihnen rollen S-Bahnen und ICEs auf dem Stadtbahnviadukt, Ausflugsdampfer ziehen auf der Spree vorbei, der Fernsehturm ragt groß ins Bild und Flugzeuge zeigen sich am Himmel."

    War Berlin einst der Stoff für ein Großstadtgedicht, in den zwanziger Jahren, so ist die Stadt – in der sachlichen Abkühlung von heute – das verbliebene Rohmaterial dazu. Als Großstadtgedicht scheinen es in Wagners Buch eher die Touristen zu erfahren, die in Straßennamen wie der Oderberger Straße noch immer ein Versprechen von Authentizität sehen. Wagner lässt sich nicht blenden von den Namen, er lässt sich lieber von ihnen verführen – von der Prinzessinnenstraße etwa, am äußeren Rand von Berlin, wo, wie er schreibt, plötzlich ein Mädchen auf einem riesigen schwarzen Pferd erschienen sei. Das Versprechen liegt noch im Spiel mit der Poesie – warum nicht doch eine junge Reiterin in der Prinzessinnenstraße vermuten? –, wenn auch nicht mehr in der Großstadt als hymnischem Gedicht. Wie die Literatur selbst heute in der Hauptstadt inszeniert wird, beschreibt er in dem locker satirischen Seitenhieb "Schiller am Pariser Platz", in dem er die Festlichkeiten zum Schiller-Gedenken karikiert. Wie er sich denn selbst fühle, im Berliner Literaturbetrieb?

    "Ich glaube, zu diesem Stück 'Schiller am Pariser Platz', das ragt natürlich ein bisschen heraus, aus dem Konvolut dieser Texte. Aber ich glaube, das ist halt ein Beispieltext für Berliner Gesellschaft und wie sie eben auch funktioniert, mit ihren Eitelkeiten und Darstellungen und Darstellern dieser Gesellschaft. Deswegen war mir das eigentlich ganz lieb, diesen Text da drin zu haben. Das gehört natürlich auch dazu – zu der Stadt gehören nicht nur romantische, menschenleere Straßen und zugewachsene Stadien und was weiß ich, die Stadt besteht eben auch aus vielen eitlen Menschen, und die zu beobachten macht sehr viel Spaß. Und der Literaturbetrieb ist natürlich auch ein eitler Betrieb, und da gehört Darstellung auch dazu, und so ganz und gar kann man sich selbst da natürlich nicht ausnehmen."

    Von der Erfassung durch sein Handy kann sich der Spaziergänger auch nicht mehr ausnehmen, der Flaneur bewegt sich durch ein Netz koordinierter Daten, wenn er es dabei hat. Im Grunewald fällt dem Erzähler auf einmal ein, dass er ganz vergessen habe, sein Telefon die Route aufzeichnen zu lassen. Zum Spiel mit der Kartografie meint Wagner:

    "Ich interessiere mich natürlich für diese neuen Dinger, und ich finde es eigentlich ganz phänomenal, dass man heute losgehen kann, und man steckt sein Telefon oder Smartphone in die Tasche, und es zeichnet genau auf, wo man gegangen ist, welche Route man genommen hat und wo man gewartet hat, und kann sich zu Hause das später auf dem Schirm anschauen. Nicht, dass ich das jedes Mal so mache. Aber allein diese technische Möglichkeit dieser Totalaufzeichnung finde ich schon interessant. Weil ich in gewissem Sinne, wenn ich durch die Stadt gehe, etwas Ähnliches mache. Da bin ich das Aufzeichnungssystem und sehe und schaue mir alles an. Ich mein, ich merk mir auch so, wo ich überall lang gegangen bin, und kann das auf der Karte dann nachvollziehen, aber das Wichtige ist ja, wenn man durch die Stadt spaziert, dass man in gewissem Sinne auch gar nicht weiß, wo man ist. Also deshalb stell ich das Telefon dann gar nicht an oder guck nicht nach, wo ich gerade bin, weil ich möchte mich ja verlieren und möchte irgendwas entdecken und irgendwo hineingehen, wo ich nicht dachte, dass ich da hingehe, und dann irgendetwas sehen und beeindruckt sein und staunen, das ist das Wichtige, staunen möchte man ja in der Stadt, und das ermöglicht die Stadt eigentlich in ganz großem Maße."

    Vielleicht gibt es ja bald ein E-Book, in dem nicht nur der Text von David Wagner, sondern ein Routenplaner seiner Spaziergänge gleich mitgeliefert wird. Der technischen Wunderwelt und ihrer Erlebnisversprechen sind schließlich – allem Anschein nach – keine Grenzen gesetzt. Und der Literatur? Sie bewegt sich immer noch entlang der Worte, im jeweiligen Stil ihres Autors. Und darin findet David Wagner eine Form, die entspannt, einladend, nüchtern und ironisch davon erzählt, was Berlin nicht alles sein kann, wenn es sich nicht selbst repräsentieren muss.

    David Wagner: Welche Farbe hat Berlin. Betrachtungen
    Verbrecher Verlag 2011, 224 Seiten, 14 Euro