Im Rahmen des von Angelika Neuwirth geleiteten Forschungsprojekts "Corpus Coranicum" wird an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften der Koran einem mikroskopisch genauen Close reading unterzogen, das dank eines interdisziplinären Ansatzes sowie dank der Forschung im Kollektiv, wie es in den Naturwissenschaften längst üblich ist, ganz neue Wege beschreitet. "Europäischer Zugang" heißt: Wie würden wir diesen Text, den Koran, lesen, wenn wir ihn einmal losgelöst von seiner weiteren Geschichte betrachten, als Dokument einer religiösen Bewegung der Spätantike, deren weitere Zukunft als Weltreligion im Text selbst noch gar nicht absehbar ist.
Die ungewöhnliche Perspektive zeitigt einen erstaunlichen Effekt: Mit Angelika Neuwirth wird der Koran von der späteren islamischen Tradition befreit und in seinem Entstehungsprozess sichtbar. Er liest sich dann so, wie ihn die Zeitgenossen verstanden haben müssen: Zwar als Zeugnis intensiver theologischer Auseinandersetzungen auf der arabischen Halbinsel, aber in einem kulturellen und religiösen Umfeld, wie es auch den übrigen Mittelmeerraum im siebten Jahrhundert prägte – und damit letztlich die europäischen Glaubensvorstellungen bis heute. Neuwirth schreibt:
Dieser Band soll den Koran für westliche Leser wieder als das erkennbar machen, war er zur Zeit seiner Entstehung für die frühe Gemeinde war: Ein literarisch herausragender und intellektuell herausfordernder Text. Insofern der Koran aus der Auseinandersetzung mit spätantiken Diskursen hervorgegangen ist und sich selbst in jene vorgefundenen christlichen und jüdischen Traditionen eingeschrieben hat, ist er selbst Teil des historischen Vermächtnisses der Spätantike an Europa.
Diese Lesart taugt wohlgemerkt nur zu einem kleinen Teil dazu, den späteren Islam oder auch nur den heutigen Blick der Muslime auf den Koran zu erklären. Die Leistung dieses Ansatzes besteht vielmehr darin, mit all den Legenden und Missverständnissen aufzuräumen, die sich im Lauf der Jahrhunderte bei der Koranauslegung eingeschlichen haben – von Seiten der Muslime ebenso wie von Seiten der Islamwissenschaftler. Lange Zeit ging man davon aus, dass der Islam gleichsam aus dem Nichts entstanden sei, in allenfalls schwacher Reibung mit nicht näher bestimmbaren jüdisch-christlichen, vor allem aber alt-arabisch heidnischen Traditionen. Der Austausch mit dem kulturellen Umfeld war jedoch in Wahrheit sehr intensiv und lässt sich auch zu weiten Teilen nachzeichnen, sofern man den Koran nicht als das fertige Buch liest, als das er uns heute begegnet, sondern vielmehr als Mitschrift der Entstehung einer neuen religiösen Gemeinde.
Nicht ein Autor ist hinter dem Text anzunehmen, sondern eine sich über die gesamte Wirkungszeit des Verkünders hinziehende gemeindliche Diskussion. Worum es folglich gehen muss, ist nicht, den Koran rückblickend als das bereits homogenisierte und als göttlich gewollte Einheit begriffene Gründungsdokument der islamischen Religion zu beschreiben, sondern ihn in seiner Genese aus dem Zusammenspiel einer Vielzahl von Traditionen und Akteuren zu verfolgen.
Anstelle der herkömmlichen Annahme, dass es auf der einen Seite den Verkünder gab, der nach Art eines Autors, entweder von sich aus oder von göttlicher Inspiration geleitet, seine Zuhörer oder Leser mit dem Text konfrontiert, schlägt Neuwirth ein Alternativmodell vor, dass sich am Drama orientiert – ein dialogisches Prinzip also, in dem auch Gegenstimmen vernehmbar werden, die wiederum Reaktionen in Form neuer Koranverse hervorriefen.
Um der textgenerierenden Interaktion zwischen dem charismatischen Sprecher und seiner sich erst konstituierenden Gemeinde gerecht zu werden, wird man daher anstelle des herkömmlichen Autor-Leser Verhältnisses methodisch von einem dem Drama entlehnten Modell ausgehen müssen Wie bei einem mitgehörten Telefongespräch ist aus der einzig vernehmbaren Sprecherrede auch hier unschwer die Situation herauszuhören, in die hinein gesprochen wird.
Ein Beispiel dafür bietet die formelhafte Suren-Einleitung, die sogenannten Basmala. Übersetzt lautet sie: "Im Namen Gottes des Barmherzigen und des Erbarmers". Die Wiederholung "des Barmherzigen und des Erbarmers" klingt für unsere Ohren redundant, wie eine Illustration des Klischees vom blumigen Stils der Araber. Aber das ist falsch. Tatsächlich handelt es sich um eine Formulierung in Parallelität – und zugleich in scharfer Abgrenzung – gegenüber der bekannten christlichen Anrufung "Im Namen des Vaters, des Sohnes und den Heiligen Geistes". Die Basmala ist also weder schlechte Poesie, noch billige Kopie einer christlichen Formel, sondern sie verkündet eine theologische Neuerung: Mit ihr wird die Vorstellung von der Trinität ebenso aufgegeben wie die von Christus als Gottessohn.
Neuwirth liest den Koran mithin dynamisch, als einen offenen, sich entwickelnden Text. So wird verständlich, was zuvor oft nur verwirrend erschien. Es erweist sich beispielsweise, dass die heute allen Koranausgaben voranstehende erste Sure, die sogenannte Fatiha, nicht wie der übrige Koran zu den Offenbarungen des Propheten gezählt werden kann.
Dass die Fatiha – obwohl ein offenkundig mündlicher Gebetstext – in der Forschung bisher stets als ein Teil des Korans, als eine der Offenbarungen, wahrgenommen und nicht als erst redaktionell dem Kodex als eine Art Proömium vorangestellter Paralleltext zu ihm gesehen worden ist, erklärt sich aus der vorherrschenden Sicht auf den Koran als eines schriftlich verfassten Textes, nicht eines liturgischen Vortragstextes, der im Gottesdienst auf weitere komplementäre Texte angewiesen ist.
Dass der Koran ursprünglich und bis heute vor allem ein liturgischer Text ist, dessen ‘Sitz im Leben’ der islamische Gottesdienst ist, ist eine überaus plausible Grundannahme. Nach wie vor lebt der Koran vor allem von seiner Rezitation, verstanden als kultische Übung. Die bisherige Forschung hat diesen Aspekt für nebensächlich gehalten und war daher nicht in der Lage, die klanglich-ästhetischen Qualitäten des Korantextes zu würdigen und die dadurch bedingten Besonderheiten zu erklären.
Eines besseren belehrt wird auch, wer den Koran bisher für einen Text hielt, der einen zivilisatorischen Rückschritt darstellt und archaische, vom Christentum längst überholte Sitten wieder einführt. Sehr deutlich wird dies an der Funktion des Opfers. Das im Islam bis heute praktizierte Tieropfer ist aus theologischer Sicht alles andere als ein Rückschritt.
Im Koran fehlt – wie man ohne Übertreibung sagen kann – die Idee des Opfers als solche: Denn anders als im biblischen Kontext hat im Koran das Opfer keinerlei sühnende Wirkung. Dieser Unterschied ist keine rituelle Geringfügigkeit, sondern markiert eine entscheidende Weichenstellung für den gegenüber Judentum und Christentum grundsätzlich neuen Umgang mit Blut und Opfer.
Das Opfer ist nämlich im Koran ein bloßes, das einstige Tieropfer Abrahams ins Gedächtnis der Gemeinde zurückrufende Ritual ohne tiefere symbolische oder als Erlösung zu begreifende Funktion. Gleichsam nebenbei zeigt Angelika Neuwirth mit diesem Buch, wie eine intelligente, aus fundiertem Wissen statt aus Vorurteilen geschöpfte Islamkritik – verstanden als Kritik an islamischen Dogmen und Vorurteilen – möglich ist. Leider muss man aber auch davon ausgehen, dass diese Forschungen bei vielen Muslimen, zumal strenggläubigen und religiös gebildeten, auf wenig Gegenliebe stoßen werden. Neuwirth bringt das Problem selbst auf den Punkt, wiegt sich aber zugleich in der Hoffnung, dass ihr Forschungsansatz Abhilfe schaffen wird:
Das wissenschaftspolitische Anliegen der Koranforschung (ist) die Überbrückung der gegenwärtigen Polarität zwischen muslimischen und westlichen Forschungsansätzen. Während noch in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen Rufe arabischer Universitäten an europäische Islamwissenschaftler ergehen konnten und sogar in den siebziger und achtziger Jahren Gastdozenturen deutscher Koranforscher in Jordanien und Ägypten willkommen waren, ist solche gegenseitige Neugierde und Offenheit heute Geschichte. In der gegebenen, an sich skandalösen Situation, in der sich zwei große Forschungstraditionen gegenüberstehen, ohne in einen kreativen Austausch zu treten, ist Koranforschung als solche neu zu überdenken.
Um in den Dialog auch mit Gläubigen Muslimen zu treten, müsste die Islamwissenschaft jedoch vermehrt aufzeigen, wie sich das orthodoxe muslimische Koranverständnis aus den offenen, dialogischen Anfängen des Korans entwickelt und dann dogmatisch verfestigt hat. Im vorliegenden Werk finden sich immerhin einige Beispiele dafür, etwa die Erklärung des Wortes kitâb, zu deutsch ‘Schrift’ oder ‘Buch’, im ersten Vers der zweiten Sure. Dieser Vers lautet:
Jene Schrift, kein Zweifel ist an ihr, ist eine Rechtleitung für die Gottesfürchtigen.
Während zur Lebenszeit Mohammeds, angesichts der Herausbildung der neuen Gemeinde, mit dem arabischen Wort kitâb eine Urschrift im Himmel gemeint war und keineswegs der damals ja erst im Entstehen begriffene Koran, schien sich das Wort kitâb für die nachfolgenden Muslime auf den Koran selbst zu beziehen, der damit gemäß dem späteren kanonischen Verständnis selbst zur himmlischen Urschrift wurde, zu einem immer schon fertig vorliegenden, göttlichen ‘Buch’, dessen Inhalt von Mohammed nur offenbart zu werden brauchte.
Die kanonische ‘Verlesung’ des wichtigen Verses [durch die späteren Muslime] ist nicht etwa willkürlich. Der Vers ist die erste Aussage des Koran. Es lässt sich leicht nachvollziehen, dass er, von der nach dem Tod des Propheten wirkenden Redaktion in diesem Sinne [, nämlich als fertiges Buch,] verstanden wurde.
So beeindruckend, innovativ und überzeugend die hier vorgelegte Zwischenbilanz der Forschergruppe um Angelika Neuwirth ist, so sehr geht sie an die Grenze dessen, was dem Nicht-Spezialisten noch zuzumuten ist. "Der Koran als Text der Spätantike" ist zwar in einem Verlag erschienen, der den allgemein interessierten Leser ansprechen will. Doch die mikroskopischen Erörterungen und Interpretationen kleinster Texteinheiten, so spannend sie für den Vorgebildeten sind, entziehen sich der Bewertung durch den allgemein interessierten Leser.
Als Einführung in den Koran taugt dieses Buch zwar nicht, aber sicher wird es die weitere islamwissenschaftliche Forschung und die Diskussion um das richtige Verständnis des Korans in den nächsten Jahren und Jahrzehnten bestimmen, nicht nur im Westen, sondern auch in der islamischen Welt. Gleichwohl würde man sich wünschen, dass die innovativen Ergebnisse der neuen deutschsprachigen Koranforschung auch in ein breiteres Publikum vermittelt werden. Denn sie hätten das Zeug, die verhärteten Fronten in unseren Islamdebatten ein gutes Stück weit aufzuweichen.
Angelika Neuwirth: Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang.
Verlag der Weltreligionen, Berlin 2010
859 S., 39,90 Euro
Die ungewöhnliche Perspektive zeitigt einen erstaunlichen Effekt: Mit Angelika Neuwirth wird der Koran von der späteren islamischen Tradition befreit und in seinem Entstehungsprozess sichtbar. Er liest sich dann so, wie ihn die Zeitgenossen verstanden haben müssen: Zwar als Zeugnis intensiver theologischer Auseinandersetzungen auf der arabischen Halbinsel, aber in einem kulturellen und religiösen Umfeld, wie es auch den übrigen Mittelmeerraum im siebten Jahrhundert prägte – und damit letztlich die europäischen Glaubensvorstellungen bis heute. Neuwirth schreibt:
Dieser Band soll den Koran für westliche Leser wieder als das erkennbar machen, war er zur Zeit seiner Entstehung für die frühe Gemeinde war: Ein literarisch herausragender und intellektuell herausfordernder Text. Insofern der Koran aus der Auseinandersetzung mit spätantiken Diskursen hervorgegangen ist und sich selbst in jene vorgefundenen christlichen und jüdischen Traditionen eingeschrieben hat, ist er selbst Teil des historischen Vermächtnisses der Spätantike an Europa.
Diese Lesart taugt wohlgemerkt nur zu einem kleinen Teil dazu, den späteren Islam oder auch nur den heutigen Blick der Muslime auf den Koran zu erklären. Die Leistung dieses Ansatzes besteht vielmehr darin, mit all den Legenden und Missverständnissen aufzuräumen, die sich im Lauf der Jahrhunderte bei der Koranauslegung eingeschlichen haben – von Seiten der Muslime ebenso wie von Seiten der Islamwissenschaftler. Lange Zeit ging man davon aus, dass der Islam gleichsam aus dem Nichts entstanden sei, in allenfalls schwacher Reibung mit nicht näher bestimmbaren jüdisch-christlichen, vor allem aber alt-arabisch heidnischen Traditionen. Der Austausch mit dem kulturellen Umfeld war jedoch in Wahrheit sehr intensiv und lässt sich auch zu weiten Teilen nachzeichnen, sofern man den Koran nicht als das fertige Buch liest, als das er uns heute begegnet, sondern vielmehr als Mitschrift der Entstehung einer neuen religiösen Gemeinde.
Nicht ein Autor ist hinter dem Text anzunehmen, sondern eine sich über die gesamte Wirkungszeit des Verkünders hinziehende gemeindliche Diskussion. Worum es folglich gehen muss, ist nicht, den Koran rückblickend als das bereits homogenisierte und als göttlich gewollte Einheit begriffene Gründungsdokument der islamischen Religion zu beschreiben, sondern ihn in seiner Genese aus dem Zusammenspiel einer Vielzahl von Traditionen und Akteuren zu verfolgen.
Anstelle der herkömmlichen Annahme, dass es auf der einen Seite den Verkünder gab, der nach Art eines Autors, entweder von sich aus oder von göttlicher Inspiration geleitet, seine Zuhörer oder Leser mit dem Text konfrontiert, schlägt Neuwirth ein Alternativmodell vor, dass sich am Drama orientiert – ein dialogisches Prinzip also, in dem auch Gegenstimmen vernehmbar werden, die wiederum Reaktionen in Form neuer Koranverse hervorriefen.
Um der textgenerierenden Interaktion zwischen dem charismatischen Sprecher und seiner sich erst konstituierenden Gemeinde gerecht zu werden, wird man daher anstelle des herkömmlichen Autor-Leser Verhältnisses methodisch von einem dem Drama entlehnten Modell ausgehen müssen Wie bei einem mitgehörten Telefongespräch ist aus der einzig vernehmbaren Sprecherrede auch hier unschwer die Situation herauszuhören, in die hinein gesprochen wird.
Ein Beispiel dafür bietet die formelhafte Suren-Einleitung, die sogenannten Basmala. Übersetzt lautet sie: "Im Namen Gottes des Barmherzigen und des Erbarmers". Die Wiederholung "des Barmherzigen und des Erbarmers" klingt für unsere Ohren redundant, wie eine Illustration des Klischees vom blumigen Stils der Araber. Aber das ist falsch. Tatsächlich handelt es sich um eine Formulierung in Parallelität – und zugleich in scharfer Abgrenzung – gegenüber der bekannten christlichen Anrufung "Im Namen des Vaters, des Sohnes und den Heiligen Geistes". Die Basmala ist also weder schlechte Poesie, noch billige Kopie einer christlichen Formel, sondern sie verkündet eine theologische Neuerung: Mit ihr wird die Vorstellung von der Trinität ebenso aufgegeben wie die von Christus als Gottessohn.
Neuwirth liest den Koran mithin dynamisch, als einen offenen, sich entwickelnden Text. So wird verständlich, was zuvor oft nur verwirrend erschien. Es erweist sich beispielsweise, dass die heute allen Koranausgaben voranstehende erste Sure, die sogenannte Fatiha, nicht wie der übrige Koran zu den Offenbarungen des Propheten gezählt werden kann.
Dass die Fatiha – obwohl ein offenkundig mündlicher Gebetstext – in der Forschung bisher stets als ein Teil des Korans, als eine der Offenbarungen, wahrgenommen und nicht als erst redaktionell dem Kodex als eine Art Proömium vorangestellter Paralleltext zu ihm gesehen worden ist, erklärt sich aus der vorherrschenden Sicht auf den Koran als eines schriftlich verfassten Textes, nicht eines liturgischen Vortragstextes, der im Gottesdienst auf weitere komplementäre Texte angewiesen ist.
Dass der Koran ursprünglich und bis heute vor allem ein liturgischer Text ist, dessen ‘Sitz im Leben’ der islamische Gottesdienst ist, ist eine überaus plausible Grundannahme. Nach wie vor lebt der Koran vor allem von seiner Rezitation, verstanden als kultische Übung. Die bisherige Forschung hat diesen Aspekt für nebensächlich gehalten und war daher nicht in der Lage, die klanglich-ästhetischen Qualitäten des Korantextes zu würdigen und die dadurch bedingten Besonderheiten zu erklären.
Eines besseren belehrt wird auch, wer den Koran bisher für einen Text hielt, der einen zivilisatorischen Rückschritt darstellt und archaische, vom Christentum längst überholte Sitten wieder einführt. Sehr deutlich wird dies an der Funktion des Opfers. Das im Islam bis heute praktizierte Tieropfer ist aus theologischer Sicht alles andere als ein Rückschritt.
Im Koran fehlt – wie man ohne Übertreibung sagen kann – die Idee des Opfers als solche: Denn anders als im biblischen Kontext hat im Koran das Opfer keinerlei sühnende Wirkung. Dieser Unterschied ist keine rituelle Geringfügigkeit, sondern markiert eine entscheidende Weichenstellung für den gegenüber Judentum und Christentum grundsätzlich neuen Umgang mit Blut und Opfer.
Das Opfer ist nämlich im Koran ein bloßes, das einstige Tieropfer Abrahams ins Gedächtnis der Gemeinde zurückrufende Ritual ohne tiefere symbolische oder als Erlösung zu begreifende Funktion. Gleichsam nebenbei zeigt Angelika Neuwirth mit diesem Buch, wie eine intelligente, aus fundiertem Wissen statt aus Vorurteilen geschöpfte Islamkritik – verstanden als Kritik an islamischen Dogmen und Vorurteilen – möglich ist. Leider muss man aber auch davon ausgehen, dass diese Forschungen bei vielen Muslimen, zumal strenggläubigen und religiös gebildeten, auf wenig Gegenliebe stoßen werden. Neuwirth bringt das Problem selbst auf den Punkt, wiegt sich aber zugleich in der Hoffnung, dass ihr Forschungsansatz Abhilfe schaffen wird:
Das wissenschaftspolitische Anliegen der Koranforschung (ist) die Überbrückung der gegenwärtigen Polarität zwischen muslimischen und westlichen Forschungsansätzen. Während noch in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen Rufe arabischer Universitäten an europäische Islamwissenschaftler ergehen konnten und sogar in den siebziger und achtziger Jahren Gastdozenturen deutscher Koranforscher in Jordanien und Ägypten willkommen waren, ist solche gegenseitige Neugierde und Offenheit heute Geschichte. In der gegebenen, an sich skandalösen Situation, in der sich zwei große Forschungstraditionen gegenüberstehen, ohne in einen kreativen Austausch zu treten, ist Koranforschung als solche neu zu überdenken.
Um in den Dialog auch mit Gläubigen Muslimen zu treten, müsste die Islamwissenschaft jedoch vermehrt aufzeigen, wie sich das orthodoxe muslimische Koranverständnis aus den offenen, dialogischen Anfängen des Korans entwickelt und dann dogmatisch verfestigt hat. Im vorliegenden Werk finden sich immerhin einige Beispiele dafür, etwa die Erklärung des Wortes kitâb, zu deutsch ‘Schrift’ oder ‘Buch’, im ersten Vers der zweiten Sure. Dieser Vers lautet:
Jene Schrift, kein Zweifel ist an ihr, ist eine Rechtleitung für die Gottesfürchtigen.
Während zur Lebenszeit Mohammeds, angesichts der Herausbildung der neuen Gemeinde, mit dem arabischen Wort kitâb eine Urschrift im Himmel gemeint war und keineswegs der damals ja erst im Entstehen begriffene Koran, schien sich das Wort kitâb für die nachfolgenden Muslime auf den Koran selbst zu beziehen, der damit gemäß dem späteren kanonischen Verständnis selbst zur himmlischen Urschrift wurde, zu einem immer schon fertig vorliegenden, göttlichen ‘Buch’, dessen Inhalt von Mohammed nur offenbart zu werden brauchte.
Die kanonische ‘Verlesung’ des wichtigen Verses [durch die späteren Muslime] ist nicht etwa willkürlich. Der Vers ist die erste Aussage des Koran. Es lässt sich leicht nachvollziehen, dass er, von der nach dem Tod des Propheten wirkenden Redaktion in diesem Sinne [, nämlich als fertiges Buch,] verstanden wurde.
So beeindruckend, innovativ und überzeugend die hier vorgelegte Zwischenbilanz der Forschergruppe um Angelika Neuwirth ist, so sehr geht sie an die Grenze dessen, was dem Nicht-Spezialisten noch zuzumuten ist. "Der Koran als Text der Spätantike" ist zwar in einem Verlag erschienen, der den allgemein interessierten Leser ansprechen will. Doch die mikroskopischen Erörterungen und Interpretationen kleinster Texteinheiten, so spannend sie für den Vorgebildeten sind, entziehen sich der Bewertung durch den allgemein interessierten Leser.
Als Einführung in den Koran taugt dieses Buch zwar nicht, aber sicher wird es die weitere islamwissenschaftliche Forschung und die Diskussion um das richtige Verständnis des Korans in den nächsten Jahren und Jahrzehnten bestimmen, nicht nur im Westen, sondern auch in der islamischen Welt. Gleichwohl würde man sich wünschen, dass die innovativen Ergebnisse der neuen deutschsprachigen Koranforschung auch in ein breiteres Publikum vermittelt werden. Denn sie hätten das Zeug, die verhärteten Fronten in unseren Islamdebatten ein gutes Stück weit aufzuweichen.
Angelika Neuwirth: Der Koran als Text der Spätantike. Ein europäischer Zugang.
Verlag der Weltreligionen, Berlin 2010
859 S., 39,90 Euro