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Eine vergleichende Theorie des Fluchens

Wenn wir Deutschen schimpfen oder pöbeln, verwenden wir meist Ausdrücke, die sich auf Exkrementelles beziehen. Die Nachbarsprachen bevorzugen dagegen sexuelle Konnotationen. Das zeigt Hans-Martin Gauger in seiner "Kleinen Linguistik der vulgären Sprache".

Von Burkhard Müller-Ullrich | 17.03.2013
    Es geschieht nicht häufig, dass in einem wissenschaftlichen Sachbuch – und folglich auch in dessen Rezension – Ausdrücke wie Scheiße, Pisse, Fotze, Arsch und Ficken derart massiv vorkommen wie jetzt hier. Und wenngleich die Anstößigkeit dieser Begriffe nicht mehr so stark empfunden wird wie noch vor wenigen Jahrzehnten, kann man sich den Spaß ungefähr ausmalen, den der distinguierte Sprachforscher Hans-Martin Gauger nach seiner Emeritierung beim intensiven Beackern der obszönen Wortfelder hatte.

    Von diesem Transgressionsvergnügen abgesehen, birgt die Linguistik der vulgären Sprache aber auch eine Menge praktisch brauchbarer Erkenntnisse, wenn sie so komparatistisch daherkommt wie in diesem Fall. Vom Französischen, Spanischen, Italienischen und Portugiesischen, also den geistigen Heimatgefilden des Romanisten Gauger, geht es ins Englische, ins Türkische und bis zu den slawischen Sprachen; und im Deutschen eröffnen sich zusätzlich interessante Perspektiven beim regionalen Vergleich.

    Beginnen wir mit dem Grundwort des deutschen Fluchens: Scheiße. Auf RTL II gibt es inzwischen ganze Fernsehsendungen, die fast ausschließlich aus der ständigen Wiederholung dieses Wortes bestehen. Angesichts dieser Häufung (!) im Alltag hat es seinen braunen und breiigen Charakter weitgehend verloren und ist sozusagen geruchlos geworden. In der Tat besitzt es eine beachtliche Bedeutungsbandbreite; sie reicht vom Entsetzen bis zum Erstaunen, von der Angst bis zur Wut; die Verwendung erfolgt reaktiv oder provokativ, aber in jedem Fall bezeichnet Scheiße etwas Negatives.

    Was die Etymologie von scheißen angeht, erfahren wir überrascht, dass scheißen und scheiden zusammengehören. Die beiden Wörter sind, etymologisch gesehen, dasselbe Wort. Doch legt sich die Überraschung nach kurzer Überlegung, denn schon bei ausscheiden sind wir ja in evidenter Nähe, weshalb mich die Rede etwa von einem 'ausscheidenden Präsidenten' oder 'Minister' stört: man sollte 'der scheidende Präsident' oder 'Minister' sagen.

    Gauger lenkt nun unseren Blick auf die Entsprechungen in anderen Idiomen. Im Englischen drängt sich hier das ebenso universelle "fuck" auf. Es gibt fast alles wieder, was im Deutschen Scheiße ist. Nur – und darin besteht die Grundthese des Buchs – die englische Vokabel verweist auf Geschlechtsverkehr, die deutsche auf Verdauung. Dieser Unterschied – dort Sexuelles, hier Exkrementelles – ist der Ausgangspunkt von Gaugers vergleichender Theorie des Fluchens.

    Es geht (…) um das Vorherrschen solcher Ausdrücke. Es verhält sich keineswegs so, dass es im Deutschen Ausdrücke für Sexuelles in solcher Verwendung gar nicht oder dass es in den anderen genannten Sprachen nicht ebenfalls so verwendete Ausdrücke für Exkrementelles gäbe. Im Deutschen also stoßen wir auf eine sehr starke Dominanz des Exkrementellen und in den anderen Sprachen (abgesehen vom Schwedischen) auf eine mehr oder weniger starke des Sexuellen, wobei dann wieder im Französischen die Ausdrücke für Exkrementelles stärker hervortreten als in den anderen Sprachen – interessanterweise gilt dies für das Französische auch gerade im Vergleich mit den übrigen romanischen Sprachen. Der Vergleich zeigt uns, dass das Deutsche da eine Sonderstellung hat – da ist etwas wie ein "Sonderweg".

    Ein Scheiß-Sonderweg gewissermaßen, der sich auch in der sprachlichen Verwendung der Defäkationsöffnung manifestiert: das Arschloch als das populärste deutsche Schimpfwort lässt sich auf englisch mit motherfucker oder cocksucker oder fucking cunt übersetzen, lauter Sexualbegriffen also, auf französisch mit con oder conard (weiblich: conasse), was ebenso wie cunt das weibliche Geschlechtsteil meint, und weder im Französischen, noch im Italienischen oder Spanischen verstünde man den Ausruf: "Was für ein Arsch!" anders als ein Zeichen der Begeisterung für das Hinterteil einer Frau, womit auch klar wird, dass in diesem ganzen Sprachbereich die Männerperspektive dominiert.

    Letzteres geht auch daraus hervor, dass die Bezeichnungen der männlichen Sexualorgane im Gegensatz zu den weiblichen oft nicht nur der Herabwürdigung dienen, sondern auch einen positiven Beiklang haben. Die Hoden beispielsweise, auf Vulgärenglisch "the balls", stehen für Mut, so wie im Deutschen die Eier, die jemand hat. Auf spanisch sind es die "cojones", die als Ausruf freudige Überraschung anzeigen oder als Aufforderung zum Gelingen einer Sache beitragen: "echar cojones a la cosa" – wörtlich: Hoden dazuschmeißen – heißt einfach, mutig darangehen.

    Im Französischen wiederum haben "les couilles" und alles, was damit zusammenhängt, diesen positiven Beiklang nicht: "Ne me casse pas les couilles!" heißt: "Geh mir nicht auf den Sack!" Ein "couillon"ist blöd oder dumm, und eine "couillonade" nichts anderes als Schwachsinn. Und da liegt eine große Schwierigkeit für Gaugers Theorie-Ansinnen: Sprachen sind nicht systematisch. Es gibt immer Ausnahmen und Ausnahmen von den Ausnahmen – bis ins dritte und vierte Glied. Viele Ausnahmen führt Gauger selbst an; manche allerdings nicht, obwohl sie wichtig wären. Das englische Wort "shit" zum Beispiel verwandelt sich trotz seines weiten Panoramas an Negativbedeutungen in Verbindung mit dem Artikel zu etwas ganz Vorzüglichem: etwas, das the "shit" ist, kann nur empfohlen werden.

    Ganz so weit dehnt sich das Französische nicht, obwohl "merde "dort sehr viele Rollen spielt – so viele, dass man selbst als Tourist kaum um das Wort "Cambronnes", "le mot de Cambronne", wie es vornehm genannt wird, herumkommt.

    Pierre Vicomte de Cambronne lebte von 1770 bis 1842. Er hatte an den Feldzügen der Revolutionszeit und des Kaiserreichs teilgenommen, Napoleon machte ihn 1813, spät also, zum General. In der Schlacht von Waterloo, Juni 1815, wurde er verwundet. Da kommandierte er das Garderegiment zu Fuß der Kaiserlichen Jäger. Victor Hugo, ein Dichter also, weshalb man vorsichtig sein muss, berichtet, man habe von Cambronne, als er aufgefordert wurde, sich zu ergeben (…), nur ein Wort gehört: "Merde!".

    Was hier nicht bloß ein Ausruf der Enttäuschung, sondern auch der Ablehnung ist. Genauso wie in der Formulierung: "Alors, tu viens, oui ou merde?" "Scheiße" für die Verneinung der Frage steht. Genauso gut kann "merde" aber auch Erstaunen und Bewunderung ausdrücken, und ganz widersprüchlich wird es bei dem Verb "emmerder": das bedeutet belästigen in allen Konjugationsformen außer in der ersten Person Singular; dann und nur dann bedeutet es etwas völlig anderes, nämlich: "Monsieur, je vous emmerde" – "Sie können mich mal, Sie sind mir scheißegal."

    Diese Betonung des Exkrementellen im Französischen steht freilich in einem gewissen Widerspruch zu Gaugers These von einem diesbezüglichen Sonderweg des Deutschen. Also verpasst er seinem Theoriegebäude einen Nebentrakt.

    Woher diese Sonderstellung Frankreichs, die Nähe in diesem Punkt zu Deutschland und zum Deutschen' Wurde die Frage je gestellt' Der Befund jedenfalls, der sich nun wirklich aufdrängt, ist unzweideutig. Hier darf man schon daran denken, dass Frankreich und ganz sicher (da kann man es konkret und wissenschaftlich zeigen) die französische Sprache sehr stark, viel stärker als irgendein anderes romanisches Land und irgendeine andere romanische Sprache, durch Germanen geprägt worden sind. Unter diesen sind vor allem die ‹Franken› zu nennen, die vom vierten Jahrhundert an in das nördliche Gallien eindrangen und es in abnehmender Dichte nach Süden bis ungefähr zur Loire hin besiedelten. Die Franken haben ja schließlich auch dem Land ihren Namen gegeben, und so ist Frankreich das einzige romanischsprachige Land mit einem germanischen Namen: "Francia", 'Frankenland', 'Land der Franken' (eine eigentlich ungerechte Bezeichnung, denn die Franken waren ja in Gallien die Minderheit).

    Man fragt sich, ob das nicht ein bisschen weit hergeholt ist zur Erklärung eines Phänomens, das als solches durchaus zweifelhaft erscheint. Denn Gaugers Unterscheidung zwischen Sprachkulturen mit sexuellem Schwerpunkt und solchen mit einer Vorliebe fürs Fäkale hat einen Haken: sie ist aufgeladen mit moralischen Bewertungen aus dem Vorrat deutscher oder mitteleuropäischer Sittengeschichte. Dementsprechend wird der Liebesakt als etwas Schönes, Helles, Freundliches, der Stuhlgang hingegen als etwas Widriges und Schmutziges betrachtet. Ist aber nicht auch die Toilette ein geheimer Lust-Ort? Gehört nicht auch das Pissen seit Menschengedenken zu den erotischen Praktiken? Und sollte sich von diesen Dingen nicht gerade im sprachlichen Untergrund des Vulgären eine Spur finden?

    Vielleicht hängen die Schwierigkeiten, die Gauger beim Sortieren seines Materials hat – Schwierigkeiten, die er sehr wohl eingesteht und mit seinem meist witzigen, manchmal bemüht wirkenden Plauderton umspielt – schlicht und einfach damit zusammen, dass sich das Sexuelle und das Exkrementelle gar nicht sinnvoll trennen lassen: es sind, so wie 'vorn' oder 'hinten', 'Pipi' oder 'Kacke', Genital- oder Analverkehr, Penetration oder Blow Job, bloß Segmente eines einzigen großen, durch Schamgefühle aufgeheizten und aufgereizten Bereichs. Die Schamgefühle sind es, die den vulgären Vokabeln den besonderen Glanz geben, und natürlich richtet sich jede Sprache in diesem obszönen Bereich ein bisschen anders ein.

    Doch wie kommt ein sonst so strikt dem Sammeln und Beobachten verpflichteter Wissenschaftler auf derart schwurbelige Schlusssentenzen?

    Was nun unseren Gegenstand angeht, so muss es zuallermindest erlaubt sein, die negativen Bewertungen, die das Deutsche hier erfahren hat, zurückweisen. Denn was wir im Deutschen vorfinden, ist doch schließlich von biederer, solider, geradliniger, beinahe hätte ich gesagt (es geht aber zu weit), deutscher Redlichkeit. So erleben wir uns ja selbst ein wenig: wir halten uns nicht für fein, eher für grob, aber für geradeaus und redlich. Wir ziehen zur Bezeichnung von Negativem etwas evident Negatives heran und tun dies nahezu ausschließlich: wir bezeichnen, auf gut deutsch gesagt, ‹Scheiße› mit Scheiße. Wir vermeiden es, etwas an sich Positives, hier das Sexuelle, dadurch, dass es zur Metapher für Negatives wird, selbst ins Negative zu ziehen.

    Putain!, möchte man rufen; wodurch ist dem sonst so verschmitzt schreibenden Groß-Romanisten Gauger die phänomenologische Coolness, die sein Buch weitgehend auszeichnet, am Ende abhanden gekommen? Glücklicherweise sind seine Thesen vom sprachlichen Charakterbild der Völker dem Gebrauchswert dieses Werks kein bisschen abträglich. Der liegt nämlich ganz woanders und wird durch eine hübsche Anekdote illustriert, die pietätvollerweise in einer Fußnote versteckt ist:

    In seinen schönen und witzigen Erinnerungen berichtet der Theaterkritiker Georg Hensel von seinen zahlreichen Besuchen in Spanien in Altea an der Ostküste. Da freundete er sich mit einem gewissen Paco an: (Zitat) "Paco kannte Deutschland, er definierte es mit dem Satz: 'Viel Kartoffel und Spinat, nix Wein, nix Olive'. Wenn es uns gelang, ihn zu verblüffen, sagte er: 'Ich kack in Meer', es war keine Drohung, es war der Ausdruck seiner Bewunderung."

    "Me cago en la mar" lässt sich aber nicht so übersetzen. Es ist erstens eine euphemistische Abwandlung von "Me cago en tu madre", was wörtlich 'Ich scheiße auf deine Mutter' heißt, zweitens jedoch gerade nicht wörtlich verstanden werden kann, weil die Mutter hier bloß sinnfrei verstärkend zu dem Fäkalausdruck hinzutritt, der selber nur ein Ausruf des Erstaunens, der Abwehr oder der gespielten Abwehr, also fast schon Zustimmung, ist.

    Jedenfalls zeigt sich hier, dass man ohne genaue Kenntnis der spezifischen Bedeutungen verloren ist. Zusammenreimen geht meistens schief, zumal es im vulgären Vokabular jede Menge hermeneutische Kippfiguren gibt, die je nach Kontext und Betonung plötzlich für das Gegenteil des normalerweise damit Bezeichneten stehen.

    Auch wer eine Fremdsprache gut beherrscht, tut sich in dieser Zone meistens schwer. Die allgemeinen Wörterbücher sind unzulänglich, im Unterricht bleibt das Derbe weitestgehend ausgespart, und wenn man nicht vertraute Gewährsleute hat, kommt man auch im Lande selbst nicht weiter. So schlittert man in lustige Missverständnisse wie das hier angeführte.

    Das Missverstehen erstreckt sich dabei nicht nur auf einzelne Begriffe, sondern auch auf die Sprachmilieus, zu denen sie gehören: die Wörter haben ja eine Ausstrahlung, eine Aura, ein Parfum, die viel schwerer zu erfassen sind als das rein Lexikalische. Hier liegt Gaugers Stärke: er thematisiert die sozialen Zusammenhänge hinter dem jeweiligen Sprachgebrauch auf eine sympathisch unsystematische Weise – er erzählt von ihnen. Beispiel: die Verwendung der sogenannten "tacos" im Spanischen. "Taco" bedeutet ursprünglich Dübel, Pflock oder Zapfen (ein sexuell grundiertes Wort also), es bezeichnet aber auch einen Stapel Blätter, einen Happen Essen und nicht zuletzt eine verbale Ausfälligkeit.

    Es gibt oder gab bis vor kurzem in Spanien eine spezifische Männersprache, die sich durch solche ritualisierten tacos, ganz vorwiegend sexuelle Kraftausdrücke also, kennzeichnete. Und das für uns Überraschende daran war, dass sich dies gerade nicht nur in der Unterschicht fand, sondern dass auch hochgebildete Männer, wenn sie unter sich waren, also keine Frau in der Nähe war, mit großer Selbstverständlichkeit solche tacos gebrauchten. Konkret also etwa auch Professorenkollegen nach getaner Arbeit am Tresen in der Bar (da ist nun freilich auch ein typischer kultureller Unterschied zwischen spanischen und deutschen Professoren: am Tresen werden Fachgespräche nicht oder nur sehr zurückhaltend fortgesetzt). Als Fremder hatte man bei solchem Taco- oder Dübel- Diskurs unvermeidlich den Eindruck, es müsse da auf diese Weise normale sich selbst affirmierende Männlichkeit gezeigt werden. Dies wäre aber eine Täuschung, denn dieses Reden geschah mit großer und sozusagen sachlicher Selbstverständlichkeit. Es war einfach da. Diese 'Männersprache' ist in den letzten Jahrzehnten auch deshalb dahingeschwunden (oder es blieben von ihr nur Reste), weil die Frauen, eine Form der Emanzipation, diese tacos in ihr Sprechen aufnahmen, wodurch die Abgrenzung (jetzt sind wir entspannt, auch gerade weil wir nur unter uns sind) hinfällig wurde. Ich kenne da im Deutschen keine Parallele.

    Allenfalls das Russische bietet etwas Vergleichbares, und zwar die "mat" genannte Vulgärsprache, wobei das Wort "mat" kurioserweise auf die Mutter verweist. Also eine Muttersprache des Fluchens, die früher den Männern vorbehalten war, was sich aber seit dem Ende der Sowjetzeit stark ändert, denn die gesellschaftlichen Umbrüche, die das Land seither erlebt, spiegeln sich auch auf dem Gebiet der Sittlichkeit wider.

    Wenn die Frauen sich die Männersprache aneignen, ist das natürlich etwas anderes als das Erlernen einer Fremdsprache. Doch in beiden Fällen ergibt sich das prekäre Phänomen, dass ein und dieselben Begriffe, je nachdem wer sie verwendet, verschieden gefärbt erscheinen, als wäre ihre Bedeutung gar nicht in ihnen verankert, sondern träte bloß fallweise durch den Mund des (oder der) Sprechenden hinzu. So weist Gauger ganz richtig darauf hin,

    … dass man als Fremdsprachiger, was man in Rechnung stellen muss, anders bewertet wird von denen, die die Sprache als Muttersprache reden, was man als ungerecht empfinden mag – es ist aber so. Das Gleiche ist da also nicht das Gleiche. Auch ist es für einen, der von außen kommt, schwerer zu entscheiden, ob ein Ausdruck in einer bestimmten Situation gerade noch geht.

    Die subtile Entscheidung, was jeweils gerade noch geht, oder – um es mit einer von Gaugers Lieblingsformulierungen zu sagen – bis wohin man zu weit gehen kann, bildet überhaupt den Hintergrund dieses gleichsam von einem akademischen Tourette-Syndrom geprägten Buchs. Dass Sexualität und Sprache generell nicht gut zusammen gehen, ist eine Binsenweisheit. Dass das Wort Vagína im Deutschen immer falsch betont wird, verrät schon, wie verkorkst unser Reden von dieser Sache generell ist. Gauger zitiert den Psychoanalytiker Jacques Lacan mit dem Satz:

    Insoweit das Subjekt von Sexualität redet, stammelt es.

    Das liegt natürlich an den Schamschranken, die das Gebiet umgeben, wie Lacan nur zu gut wusste: immerhin war er der Besitzer von Gustave Courbets inzwischen weltberühmtem Gemälde "L'Origine du monde"; er hielt es hinter einem Vorhang in seinem Ferienhaus versteckt und zeigte es nur ausgewählten Freunden.

    Das Stammeln kommt laut Gauger aber noch von einer anderen Schwierigkeit:

    Es ist im Sexuellen etwas nicht wirklich Mitteilbares – wie wenn die Sprache hier streikte oder eben, denn 'streiken' kann sie ja nicht, nicht wirklich mitkäme. Aber dies, muss man sich dann klarmachen, geschieht ihr auch bei anderem, wo Scham oder Ähnliches überhaupt nicht ins Spiel kommen können: zum Beispiel beim Versuch der Wiedergabe von Geschmacksempfindungen (…).

    Der Sprachwissenschaftler hält sich gerade noch zurück, an dieser Stelle über die Sagbarkeit der Dinge, besonders der seelischen, zu philosophieren, aber man merkt: jucken tut es ihn schon. Und das ist einer der großen Vorzüge dieses Buchs: es geht immer ein bisschen über seinen eigentlichen Horizont hinaus.

    Wenn einem alles bewusst wäre, was beim Sprechen und Schreiben und beim Verstehen im Spiel ist, kämen das Sprechen und Schreiben und auch das Verstehen des Gesprochenen und Geschriebenen ins Stocken. Vieles in der Sprache ist uns nur latent bewusst. Eigentlich gilt es für die ganze Grammatik. Da kennen wir oder besser: da ‹können› wir etwas, dessen wir uns nicht bewusst sind.

    Hans-Martin Gauger: Das Feuchte und das Schmutzige.
    Kleine Linguistik der vulgären Sprache.
    C. H. Beck Verlag, 283 Seiten, ISBN 978-3-406-62989-1