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Eine Zeit des Aufbruchs

Jugendkultur, Fitnessstudios, Globalisierung der Nahrungsströme, Medien, die Politiker ins Straucheln bringen - vieles von dem, was wir als kennzeichnend für die Gegenwart begreifen, hat es schon vor 1914 gegeben. Das ist die erstaunliche Erkenntnis von "Der taumelnde Kontinent", dem neuen Buch des Historikers Philipp Blom.

Von Martin Ebel |
    Das neue Jahrhundert ist schon neun Jahre alt; der Beginn des vorangegangenen scheint unendlich weit zurück zu liegen. Es war die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Viel fällt uns politisch zu ihr nicht ein; eine ruhige, statische, etwas langweilige Zeit muss das folglich gewesen sein, ein bisschen wie die Sanatoriumsruhe des "Zauberberg", der ja genau in jenen Jahren spielt. Alles falsch, es war eine Zeit des Aufbruchs, sagt der Historiker Philipp Blom in seinem Buch "The Vertigo Years", das jetzt unter dem Titel "Der taumelnde Kontinent" auch auf Deutsch erschienen ist - der zweisprachige Autor hat es selbst übersetzt.

    "Alles", schreibt Blom, "was im 20. Jahrhundert wichtig werden sollte - von der Quantenphysik bis zur Frauenrechtsbewegung, von abstrakter Kunst bis zur Genetik, von Kommunismus und Faschismus bis zur Konsumgesellschaft, vom industrialisierten Mord bis zur Macht der Medien -, all das entfaltete zwischen 1900 und 1914 erstmals seine Massenwirkung oder wurde sogar dann erfunden."

    Wenn es so ist - und Blom kann es überzeugend belegen -, dann verdient diese Zeit eine genauere Betrachtung. Dazu müssen wir uns allerdings erst einmal ein doppeltes Brett vor dem Kopf wegreißen. Nicht nur der Zweite Weltkrieg mitsamt dem Holocaust versperrt uns den Blick zurück, sondern auch der Erste, diese "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts". Wer historische Verhältnisse und Ereignisse aber nur als Ursachen oder Folgen betrachten kann, der verkennt, was sie als Ganzes ausmachen: Und das ist auch ihre grundsätzliche Offenheit. Wie sich Geschichte entwickelt und warum, weiß erst der Nachgeborene. Philipp Blom rekonstruiert nun diesen noch offenen Blick des Zeitgenossen, der anderes wahrnimmt, gerade weil er vieles noch nicht weiß.

    Blom ist Historiker, Schriftsteller und Journalist zugleich, und die Fähigkeiten, die man in diesen Berufen braucht, kommen seiner Darstellung zugute. Er hat für seine Betrachtung ein bestechendes Ordnungsprinzip gefunden: Jedes Kapitel geht von einem konkreten Ereignis aus, das in einem der Jahre von 1900 bis 1914 stattgefunden hat, und steigt, wie in einer guten Reportage, szenisch ein, um dann auf Grundsätzliches zu kommen.

    Das Ereignis ist etwa im Jahr 1901 der Tod der englischen Dauerqueen Victoria - woran sich eine Analyse des englischen Adels anschließt, dessen Reichtum auf Landbesitz und Lebensmittelproduktion beruhte. Durch die Erfindung der Kühlschiffe konnte Fleisch und anderes aus Übersee viel billiger eingeführt werden, was den englischen Adel tendenziell ruinierte. Im Jahr 1904, ein anderes Beispiel, gelangte ein Dossier auf den Tisch des englischen Außenministeriums, in dem die Untaten der Kolonialherren im Kongo aufgelistet sind, dem Privatbesitz des belgischen Königs Leopold II. Für Blom sind es "die vielleicht unmenschlichsten Gräueltaten, die die Welt je gesehen hatte": Ihnen fielen zehn Millionen Menschen zum Opfer. Jenes Dossier war Teil einer ganz neuen Bewegung von Aktivisten, die schließlich zum Ende des belgischen Kolonialreiches führte: Es war gewissermaßen die erste NGO.

    1905 dann verfolgen wir mit den Augen eines Zeitzeugen den friedlichen Marsch von 100.000 Demonstranten in St. Petersburg, der von zaristischer Polizei zusammengeschossen wird, und erfahren im Anschluss Erschütterndes über die entsetzlichen Lebensbedingungen der russischen Bauern und Fabrikarbeiter. 1906 wohnen wir dem Stapellauf des damals größten Kriegsschiffs bei, der "Dreadnought", und Blom schildert davon ausgehend das absurde Wettrüsten der Großmächte und die manchmal sehr persönlichen Motive seiner Betreiber.

    1911 eröffnet in Paris der größte Kinopalast der Welt mit 3400 Plätzen; Gelegenheit für Blom, vom sich entwickelnden Starkult zu erzählen, von neuen Formen der Massenunterhaltung, der Demokratisierung und Globalisierung von Alltag und Freizeit. Dass man zum Vergnügen shoppen ging, dass findige Manager den Einkauf zum Erlebnis gestalteten: Auch das ist schon ein Phänomen dieser Jahre.

    Blom gelingt es mit diesem Verfahren, zeitliche und thematische Schnitte in ein im Prinzip unerschöpfliches Material zu setzen und zugleich vom Einzelnen zum Allgemeinen zu gelangen, vom Kuriosum zu den großen Tendenzen. Dadurch fühlt sich der Leser weder aufdringlich belehrt, noch verliert er sich im Wust des Detailwissens. Dennoch ist das Erzählte von einer geradezu überwältigenden Fülle, sodass man nicht übel Lust hat, das Buch gleich ein zweites Mal zu lesen - was gibt es über ein Geschichtswerk Schöneres zu sagen?

    Zwei Bereiche sind dem Autor so wichtig, dass er in mehreren Kapiteln auf sie zurückkommt. Das Erste ist eine Krise der Männlichkeit, die er an verschiedenen Phänomenen festmacht. Die Industrialisierung der Arbeit macht Körperkraft - durch die sich der Mann bis dahin legitimierte - zusehends überflüssig; später wird auch die kriegerische Potenz des Mannes in den Stahlgewittern der Schützengräben untergehen. Der verunsicherte Mann pocht um so mehr auf seine Männlichkeit, trägt Uniform auch im Frieden und duelliert sich so oft wie nie.

    Die moderne Welt überfordert viele Menschen; es zeigen sich neue Krankheitssymptome, die bald unter dem Begriff "Neurasthenie" gefasst werden - eine andere Bezeichnung jener Tage lautete "Newyorkitis". Die psychiatrischen Anstalten füllten sich, und zwar überwiegend mit Männern. Zugleich gab es eine breite Diskussion über abnehmende Fortpflanzungsraten, auf der anderen Seite emanzipierten sich die Frauen, forderten gleiche politische Rechte und mehr. Unter allen Veränderungen jener veränderungsstarken Zeit hält Blom das Verhältnis zwischen Mann und Frau für das folgenreichste. Auch wenn sich die Folgen erst später zeigen sollten.

    Die Verunsicherung betrifft aber nicht nur die Männlichkeit, sondern das Fundament der menschlichen Selbstwahrnehmung überhaupt. Die Grundlagen der Erfahrung taugen nichts, wie die bahnbrechenden Erkenntnisse der Naturwissenschaft jener Zeit beweisen: Weder Raum noch Zeit sind fixe Kategorien, und auch die Materie ist im Grunde nichts als leerer Raum, in dem winzige, elektrisch geladene Teilchen umherrasen. Der Radius des Menschen erweitert sich mit den neuen Verkehrs- und Kommunikationsmitteln Fahrrad und Auto, Telefon und Telegraf, dazu kommen Schallplatte und Fotoapparat, die den einzigartigen Moment beliebig speichern und vervielfältigen können.

    Zugleich kommt es in der Arbeitswelt zu einem ungeheuren Rationalisierungsschub. Die Produktion wird in viele Einzelschritte zerlegt, der Mensch wird diesen Schritten zugeteilt, selbst in ein Werkzeug verwandelt. Standardisierung und Vermassung finden auch beim Konsum statt. "Die paradox anmutende Spannung", schreibt Philipp Blom, "zwischen dem individuellen Glücksanspruch und der statistischen Basis der Marktwirtschaft, zwischen dem Kult des Ich und der gleichzeitigen Existenz als Konfektionsgröße oder Versicherungsnummer wurde zum zentralen Widerspruch der modernen Identität."

    Diese Verunsicherung produziert ihrerseits Gegenreaktionen; antimoderne Bewegungen spielen eine große Rolle in Bloms Darstellung, von künstlerischen Avantgarden bis hin zum pseudowissenschaftlichen Rassismus, dessen fürchterlichste Folgen sich erst jenseits des hier betrachteten Zeitraums zeigen. Sehr zu Recht weist Blom darauf hin, dass die Juden für die Anforderungen der modernen Zeit besonders gut gerüstet waren - und somit als Opfer antimoderner Aggressionen herhalten mussten.

    "Der taumelnde Kontinent" ist ein Buch, bei dessen Lektüre man sich manchmal die Augen reibt: So vieles, was wir als kennzeichnend für unsere Jahre begreifen möchten, hat es schon vor 1914 gegeben. Devotionalienhandel um Filmstars. Globalisierung der Nahrungsströme. Politiker, die durch Medienkampagnen abgeschossen werden. Jugendkultur. Fitnessstudios. Alles andere, glaubt man Blom nun, hat damals wenigstens seinen Anfang genommen. Und da drängt sich dem Leser die Frage auf: Hätte man nicht unsere Gegenwart auch anders haben können, auf sanft-evolutionärem Wege, ohne Revolutionen, Diktaturen, Weltkriege und Massenmorde? Man hätte durchaus. Eine andere Geschichte - auch das lehrt die Lektüre Philipp Bloms - ist immer vorstellbar. 1914 war sie sogar noch möglich.

    Philipp Blom: Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914. Hanser, München 2009. 528 S., 25.90 Euro