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Einfach wirklich leben. Brigitte Reimann - eine Biographie

Ihr Leben liegt wie ein aufgeschlagenes Buch vor uns: mehrbändig, prall, atemlos, von einer Detailtreue und Opulenz, wie es sich ein Historiker nur wünschen kann. Was die Schriftstellerin Brigitte Reimann in ihren Tagebüchern niederlegte, gehört zu den eindringlichsten Schilderungen eines Frauenlebens im zwanzigsten Jahrhundert. Gewiss: eines Frauenlebens unter besonderen Umständen, in der stalinistischen DDR der fünfziger und sechziger Jahre, aber das ausführlich gewürdigte gesellschaftliche Umfeld der Autorin war nicht der Grund dafür, warum ihre Tagebücher zehn Jahre nach Ende der DDR eine solch breite Zustimmung fanden. Auch westliche Leserinnen und Leser ließen sich von der emotionalen Wucht ihrer intimen Aufzeichnungen in den Bann ziehen. Eine Frau, die mit ihren Erfolgen ebenso haderte wie mit ihren Niederlagen, deren fortgesetzter Beziehungs-kampf in vier Ehen und zahllosen Affären auf knappen einundvierzig Lebensjahren rekordverdächtig erscheint, und die in ihrer Zerrissenheit zwischen Traum und Wirklichkeit - auf beiden Feldern, den Männern und der Politik - selten eine richtige, und fast nie eine konsistente Entscheidung zu treffen vermochte. Biographie als Abfolge fortgesetzter Revidierungen - genau das macht das Leben von Brigitte Reimann so exemplarisch. In den fünfziger Jahren war sie damit noch ein Exot, heute wäre sie eine beinahe unauffällige Zeitgenossin.

Florian Felix Weyh | 11.06.2001
    Tagebücher sind Primärquellen - was braucht man da noch eine nachgereichte Biographie von fremder Hand? Zum Beispiel zur Quellenkritik. Man stelle sich nur einmal vor, wir bezögen unser Bild des Zweiten Weltkriegs aus den Stilisierungen des Hauptmanns Jünger. Auch Brigitte Reimann betreibt das tägliche Notat mit dem Willen zur Selbstformung. Sie dramatisiert und übertreibt, schnitzt sich eine Reimannfigur zurecht, mit der sie leben kann - ein bisschen zerknirscht nach jedem Seitensprung, aber immer schnell mit einer gefühlsechten Entschuldigung zur Hand. Wenn eine andere Autorin sich anschickt, dieses Leben anhand des vorliegenden Materials neu zu ordnen, sollte eine kritische Grundhaltung eigentlich selbstverständlich sein. Nur das rechtfertigte die Sekundärpublikation, denn neue Quellen präsentiert die ostdeutsche Literaturwissenschaftlerin Dorothea von Törne - von ein paar Briefwechseln abgesehen - in ihrer Reimann-Biographie nicht. Im Gegenteil, sie zitiert ausgiebig und mit warmer Empathie aus den Tagebüchern, bricht die subjektiv verengte Sicht des Materials so gut wie nie auf, sondern sucht allenfalls nach weiteren Belegen in der vorgegebenen Richtung. Fehlt ihr schon der Mut zur Diagnose, so noch mehr der zur Demontage: Kritische Fragen an den Lebensstil der zutiefst narzisstisch gestörten Autorin Reimann - fast lehrbuchhaft breitet sie in den Tagebüchern ihre Unfähigkeit zu menschlichen Beziehungen aus, in denen sie nicht im Mittelpunkt steht - sind verpönt, denn ganz offensichtlich begreift die Biographin ihre Protagonistin als Ikone. Der frühe und schwere Krebstod, der in seiner Genese eine makabere Komponente aufweist, breitet sich wie ein bleiernes Tuch über dieses Leben und zieht ein Denkverbot nach sich. Dabei ist es Brigitte Reimann selbst, die das Schuldmotiv einführt: Weil sie, der der Blick der Männer immer von konstitutiver Bedeutung für die eigene Identität war, sich Anfang der sechziger Jahre die Brust verkleinern ließ, wurden ihre späteren, von einem Brustkrebs herrührenden Schmerzen auf diese Operation zurückgeführt. Als man den Krebs endlich entdeckte, war es zu spät.

    Was für eine Stoff! Was für drängende Fragen nach der Verantwortung für die eigene Biographie, nach Schicksal und Schuld, Verstrickung und Handlungsfreiheit. Und wie kleinmütig, brav und bieder dieser biographische Versuch von Dorothea von Törne, der all diese Fragen nicht stellt, sondern sich am kalendarischen Gerüst entlanghangelt, die kulturpolitischen Debatten der fünfziger und sechziger Jahre nachbuchstabiert und jede der Maskierungen Brigitte Reimanns getreulich für bare Münze nimmt. Aus den wenigen Randbemerkungen über ihre langen Depressions- und Alkoholphasen leitet Dorothea von Törne nicht das Recht ab, ein psychologisches Profil zu erstellen. Und so vertrocknet das Buch im Aufzählungsjournalismus ohne interpretative Kraft. Fast zwölf Jahre nach dem Ende der DDR ist dies ein zutiefst ostdeutsches Buch, das gar nicht bemerkt hat, wie diese literarisch zweitrangige DDR-Schrift-stel-lerin durch ihre Tagebücher eine gänzlich andere Rezeption erfahren hat: Nicht als große Figur der Nachkriegsliteratur, sondern der Mentalitätsgeschichte des geteilten Deutschlands. Auf diese Biographie warten wir weiter.