Die Augen geschlossen, auf einer Krankentrage fixiert und mit Schläuchen in der Nase: So kam der mutmaßliche NS-Verbrecher John Demjanjuk in München an. Wochenlang hatten seine Anwälte in den USA zuvor versucht, die Abschiebung des 89-Jährigen zu verhindern. Bis vor den Obersten Gerichtshof argumentierten sie mit seiner Gebrechlichkeit und diversen Krankheiten. Es gibt Bilder vom alten Mann im Rollstuhl, der vor Schmerzen schreit. Es gibt aber auch die Bilder, wie er ein paar Tage vorher selbstständig zu einem Auto geht und einsteigt. Seine Anwälte hatten behauptet, eine Ausweisung komme für ihn einer Folter gleich. Am 12. Mai dieses Jahres landete das Lazarettflugzeug mit Demjanjuk an Bord auf dem Münchner Flughafen.
"Das Revolutionäre dieser Anklage ist, dass das Selbstverständliche endlich unter Anklage gestellt wird. Nämlich dass jemand, der als ein Teil einer Vernichtungsmaschinerie mitwirkt, was wir juristisch Beihilfe nennen, sich dieser Verantwortung zu stellen hat."
Der Kölner Strafrechtsprofessor Cornelius Nestler ist zufrieden. Demjanjuk wird vor dem Landgericht München II ab morgen der Prozess gemacht. Fast 65 Jahre nach Kriegsende sorgt das Strafverfahren für internationales Aufsehen. Über 220 Journalisten aus aller Welt sind zum Prozessauftakt akkreditiert.
Beihilfe zum Mord in 27.900 Fällen lautet die Anklage. Der gebürtige Ukrainer soll als Wachmann im Vernichtungslager Sobibór zehntausende Juden in die Gaskammern getrieben haben. Für den Massenmord im besetzten Polen hatte die SS tausende Hilfswillige aus Osteuropa rekrutiert. Die Berliner Historikerin Angelika Benz zur Rolle der KZ-Wächter.
"Bei denen sieht man einfach wirklich das Blut an den Fingern. Das sind die, die es gemacht haben. Und damit hätte man mit diesem Personenkreis juristisch gesehen endlich jemanden, dem man das nachweisen kann. Die moralische Schuld und die Freiwilligkeit ist dann wieder ein ganz anderes Thema."
Für die deutsche Justiz ist das Verfahren eine Premiere: Zum ersten Mal ist ein ausländischer Handlanger der Nazis angeklagt, einer aus dem untersten Glied der Befehlskette in einem NS-Vernichtungslager. Die Ukraine zeigte kein Interesse, ihrem einstigen Staatsbürger den Prozess zu machen. Demjanjuk muss sich verantworten, weil willige Helfer die Mordmaschinerie zur Vernichtung der Juden reibungslos in Gang hielten. Er soll eines dieser kleinen Rädchen im Getriebe gewesen sein.
"Nach unseren bisherigen Erkenntnissen, und das ist auch relativ neu, war es in Sobibór so, dass jeder der Aufseher praktisch zu jeder Tätigkeit eingeteilt war. Es gab keine Spezialisierung dahingehend, dass die einen die Lagertore bewachten und die anderen an der Rampe standen und die dritten die Opfer in die Vergasungskammern führten. Sondern jeder Aufseher war dort zu jeder Tätigkeit eingesetzt."
Erklärt Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm. Er ist Chef der Zentralen Stelle in Ludwigsburg, die 1958 zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen gegründet wurde. Bis heute leiteten seine Staatsanwälte mehr als 7400 Ermittlungsverfahren gegen zusammen rund 106.000 Personen ein. Nur 6500 davon kamen hinter Gitter. Nicht jeder Fall führte zu einer Anklage, geschweige denn einer Verurteilung. Doch so lange es die Möglichkeit gibt, einen noch lebenden Täter zu finden, werde die Behörde weiter suchen, sagt Kurt Schrimm.
Im Fall Demjanjuk haben zwei von Schrimmms Mitarbeitern über acht Monate recherchiert. Ihre Ermittlungen füllen 17 Aktenordner, die Basis der Anklage. Entscheidend dabei die Aufgabenverteilung im Lager Sobibór:
"Hier ist auch der ganz große Unterschied zu den übrigen Lagern beispielsweise Auschwitz, das zwar das berüchtigtste, aber eben nicht nur Vernichtungslager war; Auschwitz war ein Arbeitslager und dort wurden nur die Leute umgebracht, die nicht mehr arbeitsfähig waren. Sobibór demgegenüber war ein Lager, das nur erreichtet wurde ausschließlich um Menschen umzubringen. Und jeder, der dort tätig war, wusste um diese Aufgabe."
Über 250.000 Juden sind in Sobibór vergast, erschossen oder erschlagen worden. Die meisten waren Polen. Aber auch Juden aus den Niederlanden, Tschechien, Frankreich, der Slowakei und Deutschland wurden dort ermordet. Laut Anklageschrift war Demjanjuk von Ende März bis Mitte September 1943 in Sobibór stationiert. Allein in diesen sechs Monaten kamen im Vernichtungslager mindestens 27.900 Menschen ums Leben, die vom niederländischen Westerbork nach Ostpolen deportiert worden waren. Nicht mitgezählt sind diejenigen, die bereits unterwegs in den Zügen unter jämmerlichen Umständen starben.
Zum Prozessbeginn morgen werden auch Kinder der Opfer anwesend sein. Als Nebenkläger nehmen sie im Gerichtssaal 101 an der Seite der Staatsanwälte Platz; dort werden sie dem Angeklagten gegenüber sitzen. 35 Nebenkläger hat die Strafkammer zugelassen, mehr als im spektakulären Auschwitz-Prozess von 1963 bis '65 in Frankfurt. Sie haben in Sobibór die Eltern, einige die komplette Familie verloren. Ihr Anwalt ist der Kölner Juraprofessor Cornelius Nestler.
"Viele von ihnen sagen, sie schulden es ihren Eltern einfach, stellvertretend an diesem Verfahren teilzunehmen. Es ist eine Pflicht gegenüber den Verstorbenen, in dem Verfahren für sie da zu sein."
Durch ihre Anwesenheit hoffen sie, dass das Leid ihrer toten Verwandten endlich öffentlich wird. Die Nebenkläger wollen Wahrheit und Gerechtigkeit, sagt Nestler, der etwa 30 Frauen und Männer aus der Gruppe berät. Er erzählt von einer 90-Jährigen Dame aus der Nähe von New York. Sie entkam dem Holocaust rechtzeitig; Mutter, Vater und Bruder aber starben in den Gaskammern von Sobibór.
"Diese Dame hat in ihrem weiteren Leben in den USA immer darauf geachtet, dass in der Öffentlichkeit und in ihrem sozialen Umfeld nicht bekannt wurde, dass sie einen jüdischen Hintergrund hatte. Das heißt, es gab eine, das ganze Leben durchziehende prägende Angst dafür, dass wenn die jüdische Identität bekannt wird, man immer irgendwie der Verfolgung ausgesetzt sein könnte. Dass diese Damen jetzt vor sechs Wochen sich entschlossen hat, sich unter Nennung ihres Namens dem Strafverfahren gegen Demjanjuk als Nebenklägerin anzuschließen, und dass sie mir die Erlaubnis gegeben hat, zu erzählen, welche Auswirkungen die Ermordung ihrer Familie auf ihr ganzes Leben und das Leben ihrer Kinder hat, das ist eine geradezu bewundernswerte Entscheidung, die sozusagen am Ende eines 90 Jahre langen Lebens eine tiefreichende Entscheidung ist."
John Demjanjuk, als Iwan Demjanjuk 1920 in der Ukraine geboren, war erst kurze Zeit Soldat der Roten Armee, als er im Mai 1942 in deutsche Kriegsgefangenschaft geriet. Die Zustände in den Lagern der Wehrmacht waren furchtbar. Möglich also, dass der 22-Jährige froh war, als Freiwilliger bei den Deutschen anheuern zu können, um Hunger, Kälte und Tod zu entgehen. Glaubt Angelika Benz, Historikerin an der TU Berlin.
"Weil man gerade die sowjetischen Kriegsgefangenen als minderwertig angesehen hat. Und eigentlich auch vernichten wollte. Und diesen Vernichtungswillen hat man nicht so aktiv betrieben wie bei den Juden, sondern man hat sie einfach verhungern und erfrieren lassen. Insgesamt sind 3,7 Millionen von 5.5 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen durch Verwahrlosung umgekommen."
Die SS brachte Demjanjuk ins Ausbildungslager Trawniki bei Lublin, wo bis zu 5000 Ukrainer, Balten und Wolgadeutsche ein Training der besonderer Art absolvierten: Die Trawniki, wie sie genannt werden, lernten die deutsche Kommandosprache, den Umgang mit deutschen Waffen, und sie übten die Räumung jüdischer Gettos. Sie wurden zum verlängerten Arm der SS - auch im KZ.
"Was wir wissen ist, dass sie an der Rampe im Vernichtungslager geholfen haben die Leute auszuladen. Wir wissen, dass es unglaublich brutal dabei zuging, dass da viele Menschen an der Rampe erschossen wurden, dass sie, dann eben zu den Gaskammern geprügelt wurden. Und es gibt Überlebendenberichte von Trawniki, die auch zum Spaß nachts in die Baracken eindringen und Leute rausholen, um sie zu quälen. Also wir haben Trawniki, die oft als brutaler als die SS geschildert werden."
Die Historikerin erforscht das "System Trawniki". Sie begrüßt den Prozess. Weist aber darauf hin, dass Trawniki zugleich Täter und Opfer der NS-Gewaltherrschaft waren. Die gewöhnlichen Handlanger arbeiteten auf Anweisung und unter strenger Kontrolle der SS. In den Augen der Deutschen galten sie als minderwertig und unzuverlässig. Sie durften im Lager zwar Waffen tragen, pro Kopf aber gab es nur fünf Schuss Munition. Ob Trawniki die Möglichkeit hatten, Widerstand zu leisten, sich dem Massenmord zu widersetzen? Vor allem diese Frage wird die Münchner Richter beschäftigen.
"Wir wissen, es sind so viele desertiert, dass es natürlich die Möglichkeit gab zu fliehen. Viele hatten auch Ausgang, sie hatten freie Tage, sie konnten zu ihrer Freundin nach Hause gehen. Sie hatten schon einen Freiraum, um zu fliehen. Allerdings wissen wir von vielen, wenn sie wieder aufgegriffen wurden, dass sie ermordet wurden, und dann auch, um ein Exempel zu statuieren, vor ihren Kameraden umgebracht wurden. Also die akute Todesbedrohung für den Trawniki bestand auf jeden Fall, wenn sie sich gewehrt haben."
Blieb Demjanjuk also gar keine andere Wahl, als bei der Judenvernichtung mitzumachen? Zahlenmäßig waren die Trawniki in Sobibór den SS-Schergen jedenfalls weit überlegen. War er Anhänger der antisemitischen Rassenideologie der Nazis oder zählte er nur zum gezwungenen Fußvolk der Endlösung? Hat sich der damals 22-Jährige aus eigenem Willen dem SS-Regime untergeordnet? Oder sah er sich nur aus Angst dazu genötigt? Falls ja, behauptet sein Pflichtverteidiger Günther Maull, müsste sich Demjanjuk allenfalls wegen Totschlag verantworten. Totschlag aber sei längst verjährt. In diese Richtung zielt wohl die anwaltliche Taktik, denn Maull hält die Anklage - Beihilfe zum Mord - für nicht zutreffend.
"Der technische Ausdruck dafür ist der sogenannte Befehlsnotstand. Kann jemand anders handeln als er gehandelt hat, oder war er dazu gezwungen und konnte sich nicht diesem Zwang widersetzen? Die Staatsanwaltschaft meint, man hätte sich widersetzen können. Die Verteidigung ist der Meinung, es ist unzumutbar, sich zu widersetzen, denn es gibt viele Beispiele dafür, dass Leute, die sich widersetzt haben mit den schwersten Sanktionen belegt worden sind - bis hin zum Erschießen."
Bei der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen blieben die Trawniki jahrzehntelang vergessen. Sie tauchten, wenn überhaupt, vor Gericht nur als Zeugen auf. Doch nicht nur sie, sondern auch ihre deutschen Befehlsgeber von der SS kamen wegen des Massenmords ungeschoren davon. In den 70er-Jahren stand in Hamburg mit Karl Streibel der Kommandant des Ausbildungslagers Trawniki vor Gericht. 1976: der Freispruch aus Mangel an Beweisen. Begründung: Der Ausbilder hätte nicht gewusst, für welchen Zweck er die Trawniki schulte.
Heute, 33 Jahre später, plant die Justiz nicht weniger als den radikalen Bruch mit dieser Praxis. Ihr Mandant müsse für die Versäumnisse der Vergangenheit büßen, fürchten seine Verteidiger. Sie reichten Verfassungsbeschwerden in Karlsruhe ein - erfolglos. Nun erwägen sie, zum Prozessauftakt die Einstellung des Verfahrens zu beantragen. Denn ein deutsches Gericht sei nur dann zuständig, wenn der Angeklagte zur Tatzeit Deutscher war oder die Tat auf deutschem Boden verübt wurde. Der Ludwigsburger NS-Ermittler Kurt Schrimm weiß um die Problematik.
"Aber wir vertreten die Auffassung, dass wenn jemand in deutschem Auftrag und unter deutschem Befehl diese Verbrechen beging, er insoweit einem Deutschen gleichzustellen ist. Und deswegen der deutschen Gerichtsbarkeit unterliegt. Aber ich muss einräumen, dass eine Klärung seitens des Bundesgerichtshofs bisher in dieser Frage nicht vorliegt. Wir betreten hier juristisches Neuland."
Nach Kriegsende tauchte Demjanjuk in bayerischen Lagern für "displaced persons", für Kriegsflüchtlinge, unter - deshalb ist jetzt München Gerichtsort. Im Lager lernte er seine Frau kennen. 1952 wanderte das Paar mit Tochter in die USA aus. Er arbeitete in Cleveland als Automechaniker bei Ford, nannte sich John und wurde amerikanischer Staatsbürger.
Bereits in den 70er-Jahren holte ihn seine dunkle Vergangenheit ein. Belastende Dokumente tauchten auf. Und aus Israel meldeten sich KZ-Überlebende, die glaubten, ihn auf Bildern als "Iwan den Schrecklichen" aus Treblinka erkannt zu haben. 1987 stand er deshalb in Jerusalem vor Gericht.
Gericht Israel
Der Staatsanwalt fragt den Zeugen Rosenberg: 'Wer sitzt da auf der Anklagebank?' 'Iwan, ich habe keinen Zweifel und zögere nicht, das ist Iwan aus Treblinka. Ich sehe diese Augen.' Der Zeuge geht auf den Angeklagten zu, schaut ihm in die Augen. Daraufhin streckt ihm Demjanjuk die Hand entgegen. Rosenberg reagiert entsetzt und fährt ihn an: 'Wie wagst du es nur, mir die Hand zu geben, du Mörder.'
1988 wurde Demjanjuk zum Tode verurteilt; wartet sechs Jahre auf seine Hinrichtung und hatte Glück: Bis dato unzugängliche Archive der untergegangenen Sowjetunion brachten entlastende Dokumente ans Licht: Er war verwechselt worden. Zur fraglichen Zeit war er nicht in Treblinka, sondern in Sobibór. Israel ließ ihn frei, und Demjanjuk flog nach Amerika zurück, Businessclass.
Was dann folgte, war purer Zufall. Einer der Ermittler der Zentralen Stelle in Ludwigsburg surfte Anfang 2008 bei Google und entdeckte einen Hinweis der OSI, jener amerikanischen Dienststelle, die mutmaßliche NS-Kriegsverbrecher in Amerika aufspürt: Demjanjuk soll die Staatsbürgerschaft verlieren.
"Wir gingen davon aus, und das völlig zu Recht, wenn ihm die amerikanische Staatsbürgerschaft erneut aberkannt werden sollte, dann müssen ja neue Beweismittel vorliegen und um Einsichtnahme dieser Beweismittel haben wir gebeten. Wir waren dann zufällig in Israel, das war alles reiner Zufall, einige Wochen später und kamen dann zum Ergebnis, dass es sich wohl lohnt, diese Sache nochmals zu recherchieren. Dieses Mal nicht wegen Treblinka, sondern wegen Sobibór."
Seine Mitarbeiter stöberten in Washington und Israel in Archiven. Sie brachten Demjanjuks SS-Dienstausweis mit. Darauf sein Foto und die Identifikationsnummer 1393. Die und sein Name tauchen auch in den Unterlagen des KZ Flossenbürg in der Oberpfalz auf, wohin er nach Sobibór versetzt worden war. Der Dienstausweis ist das zentrale Beweisstück im Prozess. Die Sprecherin der Münchner Staatsanwaltschaft, Barbara Stockinger.
"Der Dienstausweis besagt, dass er ein Wachmann im Lager Sobibor war, dass er als Wachmann ausgebildet war. Wir gehen davon aus, dass der Dienstausweis echt ist. Zum einen aus dem Gutachten, darüber hinaus taucht die Dienstausweisnummer bereits in den 40er-Jahren auf Verlegungslisten auf, sodass auch dies für die Echtheit des Dienstausweises spricht. Daneben gibt es Zeugenaussagen, dass Demjanjuk im Lager Sobibor als Wachmann gearbeitet hat, sodass die Staatsanwaltschaft davon ausgeht, dass die Beihilfe zum Mord dem Angeklagten nachgewiesen werden kann."
Demjanjuk gehörte der Hilfstruppe der SS an; daran bestehen kaum mehr Zweifel. Obgleich seine Anwälte den Dienstausweis eine Fälschung nennen. Er selbst behauptet, zwar in Sobibór, dort aber nie im Vernichtungslager gewesen zu sein.
Thomas Blatt überlebte Sobibór. 15 Jahre war der polnische Jude alt, als ihn die SS verschleppte. Sechs Monate lang musste er Holz für die Verbrennungsöfen schlagen, oder die Kleider der Ermordeten sortieren. Der 82-Jährige lebt heute in Kalifornien. Er wache noch immer schreiend aus Albträumen auf.
"Wenn die angekommen sind, vielleicht four, five minutes waren die tot. Die Menschen sind gekommen, hier zogen sie aus die shoes, hier der Anzug, der Hemd. Und hier gingen die Frauen, um die Haare abzuschneiden. Und später gingen sie zu den Gaskammern. Ich habe die begleitet, ich habe die Haare geschoren. Ich bin gegangen bis vielleicht fünf Meter zu den Gaskammern."
Thomas Blatt konnte während einer Häftlingsrevolte im Oktober 1943 entkommen, sein jüngerer Bruder und die Eltern starben. Demjanjuk persönlich in Sobobór gesehen zu haben, daran erinnert er sich allerdings nicht. Trotzdem ist der Prozess für ihn wichtig.
"Ich fordere nicht viel for him. His Leben ist zu Ende, ist gleich 90. Ich wollte nur, er sollte die Wahrheit sagen, denn viele Organisationen, viele Menschen sagen, der Holocaust ist vorbei. Die Juden haben das aufgeklärt, sie sollten Israel haben. Und es ist keine Strafe, was er getun hatte."
Thomas Blatt soll in München von den Grausamkeiten des Lagerlebens berichten. Gleichwohl fehlen Zeugen, die den Angeklagten vor Gericht eindeutig als Mordgehilfen identifizieren könnten. Von den wenigen Dutzend Juden, die das Vernichtungslager überlebten, sind die meisten längst gestorben.
"Herr Demjanjuk hat bislang nicht zu den Vorwürfen Stellung genommen. Es gibt frühere Aussagen aus Amerika, aber hier bei uns hat er keine Angaben gemacht. Es werden Überlebende im Prozess auftreten als Zeugen, es werden Vernehmungsbeamte auftreten für bereits verstorbene Zeugen. Es werden Richter aus früheren Verfahren auftreten als Zeugen. Daneben werden zahlreiche Sachverständige im Prozess gehört werden."
Es dürfte ein langer Indizien-Prozess werden, denn der Angeklagte wird wohl auch im Gerichtssaal schweigen. Ernsthaft in Schwierigkeiten bringen könnten ihn nur Aussagen von Trawniki, die mit ihm in Sobibór waren. Viele sind längst nicht mehr am Leben. Ihre Aussagen wurden vor langer Zeit in der Sowjetunion protokolliert. Unter Zwang, werden Demjanjuks Anwälte behaupten und die Glaubwürdigkeit dieser Zeugenprotokolle in Zweifel ziehen. Der Anwalt der Nebenkläger, Cornelius Nestler, bleibt optimistisch.
"Die Besonderheit an diesem Verfahren und der Anklage ist, dass es keine Zeugen dazu gibt, die Demjanjuk konkret in Sobibór gesehen haben bei dem, was er gemacht hat. Es gibt alte Zeugenaussagen von Trawniki, die mit Demjanjuk zusammen in Sobibór waren, die in sowjetischen Verfahren gesagt haben: Er war da mit uns. Er hat genauso wie wir die Bewachung gemacht. Er hat genauso wie wir auch auf der Rampe gestanden und die Menschen, die ankamen, in Empfang genommen und mit in die Gaskammern getrieben. Das heißt, die Beweislage ist so, dass man zwei Dinge weiß: Erstens, dass Demjanjuk in Sobibór war. Und dass alle Trawniki, die in Sobibór waren, mitverantwortlich dafür waren, dass die Mordmaschinerie am Laufe gehalten wurde."
Für einen der letzten großen Kriegsverbrecherprozesse hat die Schwurgerichtskammer des Landgerichts München 35 Verhandlungstage vorgesehen.
"Wir haben Gutachten eingeholt. Herr Demjanjuk ist nach den Aussagen der Sachverständigen verhandlungsfähig. Allerdings nur eingeschränkt verhandlungsfähig. Es soll nur zwei Mal 90 Minuten je Tag verhandelt werden. Und daran hält sich das Gericht auch. Das hat natürlich zur Folge, dass das Verfahren etwas länger dauert, wenn nur drei Stunden täglich verhandelt werden können. Derzeit sind Termine bis in den Mai hinein angesetzt."
Seit seiner Auslieferung ist Demjanjuk in der Krankenabteilung der Justizvollzugsanstalt Stadelheim untergebracht. Es plagt ihn die Gicht und er leidet unter einer Vorstufe der Altersleukämie, statistisch gesehen hat er noch eine Lebenserwartung von weniger als einem Jahr. Gut möglich also, dass es zu keinem Urteil mehr kommt, weil der 89-Jährige vorher für verhandlungsunfähig erklärt wird. Sein Pflichtverteidiger rechnet mit dem Schlimmsten.
"Dass dieser Mann sowieso einem baldigen Ende entgegensieht. Den noch durch ein Verfahren zu treiben, halte ich nicht für sehr human. Ich denke da jetzt auch an die Nebenkläger. Ob man denen damit einen Gefallen tut, möglicherweise im Laufe des Prozesses einen toten Angeklagten vor sich zu haben. Ich bin nicht der Meinung, dass es richtig ist."
Doch Mord verjährt nicht. Falls der 89-Jährige wegen zehntausendfacher Beihilfe zum Mord verurteilt wird, könnten laut Oberstaatsanwalt Schrimm weitere Anklagen folgen: Gegen gebürtige Ungarn und Rumänen, die ebenfalls der SS behilflich waren. Der Angeklagte streitet alles ab, was Schrimm nicht wundert.
"Ich habe viele Sätze gehört dergestalt, dass es hieß: Ja das war nicht recht, was damals getan wurde. Und es war falsch, die Juden umzubringen. Aber ich habe nie ein persönliches Bedauern gehört. Ich habe nie gehört, dass ein Täter oder Tatverdächtiger gesagt hat, ich habe Fehler gemacht. Sondern es wurde immer nur in dritter Person gesprochen. Eine echte Reue habe ich nie - in den ganzen 27 Jahren, seitdem ich mit der Materie befasst bin, erlebt."
Der Prozess gegen John Demjanjuk ist alles andere als einfach: Wird Staatsanwaltschaft genügend Belege seiner Schuld präsentieren? Er selbst sieht sich als Opfer einer verfolgungswütigen Justiz. Wegen Beihilfe zum Mord droht ein Strafmaß zwischen drei bis 15 Jahren Freiheitsstrafe.
"Ich glaube, es gibt einzelne Nebenkläger, die sagen, dass es für sie ganz unwichtig ist, was am Ende für Herrn Demjanjuk dabei raus kommt. Wichtig ist nur, dass die Verantwortlichkeit von jedem festgestellt wird, der in Sobibor mitgewirkt hat. Und es gibt andere Nebenkläger, die auch ganz offen sagen, der soll ordentlich bestraft werden, der soll die Höchststrafe bekommen, was auch immer das heißt."
"Das Revolutionäre dieser Anklage ist, dass das Selbstverständliche endlich unter Anklage gestellt wird. Nämlich dass jemand, der als ein Teil einer Vernichtungsmaschinerie mitwirkt, was wir juristisch Beihilfe nennen, sich dieser Verantwortung zu stellen hat."
Der Kölner Strafrechtsprofessor Cornelius Nestler ist zufrieden. Demjanjuk wird vor dem Landgericht München II ab morgen der Prozess gemacht. Fast 65 Jahre nach Kriegsende sorgt das Strafverfahren für internationales Aufsehen. Über 220 Journalisten aus aller Welt sind zum Prozessauftakt akkreditiert.
Beihilfe zum Mord in 27.900 Fällen lautet die Anklage. Der gebürtige Ukrainer soll als Wachmann im Vernichtungslager Sobibór zehntausende Juden in die Gaskammern getrieben haben. Für den Massenmord im besetzten Polen hatte die SS tausende Hilfswillige aus Osteuropa rekrutiert. Die Berliner Historikerin Angelika Benz zur Rolle der KZ-Wächter.
"Bei denen sieht man einfach wirklich das Blut an den Fingern. Das sind die, die es gemacht haben. Und damit hätte man mit diesem Personenkreis juristisch gesehen endlich jemanden, dem man das nachweisen kann. Die moralische Schuld und die Freiwilligkeit ist dann wieder ein ganz anderes Thema."
Für die deutsche Justiz ist das Verfahren eine Premiere: Zum ersten Mal ist ein ausländischer Handlanger der Nazis angeklagt, einer aus dem untersten Glied der Befehlskette in einem NS-Vernichtungslager. Die Ukraine zeigte kein Interesse, ihrem einstigen Staatsbürger den Prozess zu machen. Demjanjuk muss sich verantworten, weil willige Helfer die Mordmaschinerie zur Vernichtung der Juden reibungslos in Gang hielten. Er soll eines dieser kleinen Rädchen im Getriebe gewesen sein.
"Nach unseren bisherigen Erkenntnissen, und das ist auch relativ neu, war es in Sobibór so, dass jeder der Aufseher praktisch zu jeder Tätigkeit eingeteilt war. Es gab keine Spezialisierung dahingehend, dass die einen die Lagertore bewachten und die anderen an der Rampe standen und die dritten die Opfer in die Vergasungskammern führten. Sondern jeder Aufseher war dort zu jeder Tätigkeit eingesetzt."
Erklärt Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm. Er ist Chef der Zentralen Stelle in Ludwigsburg, die 1958 zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen gegründet wurde. Bis heute leiteten seine Staatsanwälte mehr als 7400 Ermittlungsverfahren gegen zusammen rund 106.000 Personen ein. Nur 6500 davon kamen hinter Gitter. Nicht jeder Fall führte zu einer Anklage, geschweige denn einer Verurteilung. Doch so lange es die Möglichkeit gibt, einen noch lebenden Täter zu finden, werde die Behörde weiter suchen, sagt Kurt Schrimm.
Im Fall Demjanjuk haben zwei von Schrimmms Mitarbeitern über acht Monate recherchiert. Ihre Ermittlungen füllen 17 Aktenordner, die Basis der Anklage. Entscheidend dabei die Aufgabenverteilung im Lager Sobibór:
"Hier ist auch der ganz große Unterschied zu den übrigen Lagern beispielsweise Auschwitz, das zwar das berüchtigtste, aber eben nicht nur Vernichtungslager war; Auschwitz war ein Arbeitslager und dort wurden nur die Leute umgebracht, die nicht mehr arbeitsfähig waren. Sobibór demgegenüber war ein Lager, das nur erreichtet wurde ausschließlich um Menschen umzubringen. Und jeder, der dort tätig war, wusste um diese Aufgabe."
Über 250.000 Juden sind in Sobibór vergast, erschossen oder erschlagen worden. Die meisten waren Polen. Aber auch Juden aus den Niederlanden, Tschechien, Frankreich, der Slowakei und Deutschland wurden dort ermordet. Laut Anklageschrift war Demjanjuk von Ende März bis Mitte September 1943 in Sobibór stationiert. Allein in diesen sechs Monaten kamen im Vernichtungslager mindestens 27.900 Menschen ums Leben, die vom niederländischen Westerbork nach Ostpolen deportiert worden waren. Nicht mitgezählt sind diejenigen, die bereits unterwegs in den Zügen unter jämmerlichen Umständen starben.
Zum Prozessbeginn morgen werden auch Kinder der Opfer anwesend sein. Als Nebenkläger nehmen sie im Gerichtssaal 101 an der Seite der Staatsanwälte Platz; dort werden sie dem Angeklagten gegenüber sitzen. 35 Nebenkläger hat die Strafkammer zugelassen, mehr als im spektakulären Auschwitz-Prozess von 1963 bis '65 in Frankfurt. Sie haben in Sobibór die Eltern, einige die komplette Familie verloren. Ihr Anwalt ist der Kölner Juraprofessor Cornelius Nestler.
"Viele von ihnen sagen, sie schulden es ihren Eltern einfach, stellvertretend an diesem Verfahren teilzunehmen. Es ist eine Pflicht gegenüber den Verstorbenen, in dem Verfahren für sie da zu sein."
Durch ihre Anwesenheit hoffen sie, dass das Leid ihrer toten Verwandten endlich öffentlich wird. Die Nebenkläger wollen Wahrheit und Gerechtigkeit, sagt Nestler, der etwa 30 Frauen und Männer aus der Gruppe berät. Er erzählt von einer 90-Jährigen Dame aus der Nähe von New York. Sie entkam dem Holocaust rechtzeitig; Mutter, Vater und Bruder aber starben in den Gaskammern von Sobibór.
"Diese Dame hat in ihrem weiteren Leben in den USA immer darauf geachtet, dass in der Öffentlichkeit und in ihrem sozialen Umfeld nicht bekannt wurde, dass sie einen jüdischen Hintergrund hatte. Das heißt, es gab eine, das ganze Leben durchziehende prägende Angst dafür, dass wenn die jüdische Identität bekannt wird, man immer irgendwie der Verfolgung ausgesetzt sein könnte. Dass diese Damen jetzt vor sechs Wochen sich entschlossen hat, sich unter Nennung ihres Namens dem Strafverfahren gegen Demjanjuk als Nebenklägerin anzuschließen, und dass sie mir die Erlaubnis gegeben hat, zu erzählen, welche Auswirkungen die Ermordung ihrer Familie auf ihr ganzes Leben und das Leben ihrer Kinder hat, das ist eine geradezu bewundernswerte Entscheidung, die sozusagen am Ende eines 90 Jahre langen Lebens eine tiefreichende Entscheidung ist."
John Demjanjuk, als Iwan Demjanjuk 1920 in der Ukraine geboren, war erst kurze Zeit Soldat der Roten Armee, als er im Mai 1942 in deutsche Kriegsgefangenschaft geriet. Die Zustände in den Lagern der Wehrmacht waren furchtbar. Möglich also, dass der 22-Jährige froh war, als Freiwilliger bei den Deutschen anheuern zu können, um Hunger, Kälte und Tod zu entgehen. Glaubt Angelika Benz, Historikerin an der TU Berlin.
"Weil man gerade die sowjetischen Kriegsgefangenen als minderwertig angesehen hat. Und eigentlich auch vernichten wollte. Und diesen Vernichtungswillen hat man nicht so aktiv betrieben wie bei den Juden, sondern man hat sie einfach verhungern und erfrieren lassen. Insgesamt sind 3,7 Millionen von 5.5 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen durch Verwahrlosung umgekommen."
Die SS brachte Demjanjuk ins Ausbildungslager Trawniki bei Lublin, wo bis zu 5000 Ukrainer, Balten und Wolgadeutsche ein Training der besonderer Art absolvierten: Die Trawniki, wie sie genannt werden, lernten die deutsche Kommandosprache, den Umgang mit deutschen Waffen, und sie übten die Räumung jüdischer Gettos. Sie wurden zum verlängerten Arm der SS - auch im KZ.
"Was wir wissen ist, dass sie an der Rampe im Vernichtungslager geholfen haben die Leute auszuladen. Wir wissen, dass es unglaublich brutal dabei zuging, dass da viele Menschen an der Rampe erschossen wurden, dass sie, dann eben zu den Gaskammern geprügelt wurden. Und es gibt Überlebendenberichte von Trawniki, die auch zum Spaß nachts in die Baracken eindringen und Leute rausholen, um sie zu quälen. Also wir haben Trawniki, die oft als brutaler als die SS geschildert werden."
Die Historikerin erforscht das "System Trawniki". Sie begrüßt den Prozess. Weist aber darauf hin, dass Trawniki zugleich Täter und Opfer der NS-Gewaltherrschaft waren. Die gewöhnlichen Handlanger arbeiteten auf Anweisung und unter strenger Kontrolle der SS. In den Augen der Deutschen galten sie als minderwertig und unzuverlässig. Sie durften im Lager zwar Waffen tragen, pro Kopf aber gab es nur fünf Schuss Munition. Ob Trawniki die Möglichkeit hatten, Widerstand zu leisten, sich dem Massenmord zu widersetzen? Vor allem diese Frage wird die Münchner Richter beschäftigen.
"Wir wissen, es sind so viele desertiert, dass es natürlich die Möglichkeit gab zu fliehen. Viele hatten auch Ausgang, sie hatten freie Tage, sie konnten zu ihrer Freundin nach Hause gehen. Sie hatten schon einen Freiraum, um zu fliehen. Allerdings wissen wir von vielen, wenn sie wieder aufgegriffen wurden, dass sie ermordet wurden, und dann auch, um ein Exempel zu statuieren, vor ihren Kameraden umgebracht wurden. Also die akute Todesbedrohung für den Trawniki bestand auf jeden Fall, wenn sie sich gewehrt haben."
Blieb Demjanjuk also gar keine andere Wahl, als bei der Judenvernichtung mitzumachen? Zahlenmäßig waren die Trawniki in Sobibór den SS-Schergen jedenfalls weit überlegen. War er Anhänger der antisemitischen Rassenideologie der Nazis oder zählte er nur zum gezwungenen Fußvolk der Endlösung? Hat sich der damals 22-Jährige aus eigenem Willen dem SS-Regime untergeordnet? Oder sah er sich nur aus Angst dazu genötigt? Falls ja, behauptet sein Pflichtverteidiger Günther Maull, müsste sich Demjanjuk allenfalls wegen Totschlag verantworten. Totschlag aber sei längst verjährt. In diese Richtung zielt wohl die anwaltliche Taktik, denn Maull hält die Anklage - Beihilfe zum Mord - für nicht zutreffend.
"Der technische Ausdruck dafür ist der sogenannte Befehlsnotstand. Kann jemand anders handeln als er gehandelt hat, oder war er dazu gezwungen und konnte sich nicht diesem Zwang widersetzen? Die Staatsanwaltschaft meint, man hätte sich widersetzen können. Die Verteidigung ist der Meinung, es ist unzumutbar, sich zu widersetzen, denn es gibt viele Beispiele dafür, dass Leute, die sich widersetzt haben mit den schwersten Sanktionen belegt worden sind - bis hin zum Erschießen."
Bei der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen blieben die Trawniki jahrzehntelang vergessen. Sie tauchten, wenn überhaupt, vor Gericht nur als Zeugen auf. Doch nicht nur sie, sondern auch ihre deutschen Befehlsgeber von der SS kamen wegen des Massenmords ungeschoren davon. In den 70er-Jahren stand in Hamburg mit Karl Streibel der Kommandant des Ausbildungslagers Trawniki vor Gericht. 1976: der Freispruch aus Mangel an Beweisen. Begründung: Der Ausbilder hätte nicht gewusst, für welchen Zweck er die Trawniki schulte.
Heute, 33 Jahre später, plant die Justiz nicht weniger als den radikalen Bruch mit dieser Praxis. Ihr Mandant müsse für die Versäumnisse der Vergangenheit büßen, fürchten seine Verteidiger. Sie reichten Verfassungsbeschwerden in Karlsruhe ein - erfolglos. Nun erwägen sie, zum Prozessauftakt die Einstellung des Verfahrens zu beantragen. Denn ein deutsches Gericht sei nur dann zuständig, wenn der Angeklagte zur Tatzeit Deutscher war oder die Tat auf deutschem Boden verübt wurde. Der Ludwigsburger NS-Ermittler Kurt Schrimm weiß um die Problematik.
"Aber wir vertreten die Auffassung, dass wenn jemand in deutschem Auftrag und unter deutschem Befehl diese Verbrechen beging, er insoweit einem Deutschen gleichzustellen ist. Und deswegen der deutschen Gerichtsbarkeit unterliegt. Aber ich muss einräumen, dass eine Klärung seitens des Bundesgerichtshofs bisher in dieser Frage nicht vorliegt. Wir betreten hier juristisches Neuland."
Nach Kriegsende tauchte Demjanjuk in bayerischen Lagern für "displaced persons", für Kriegsflüchtlinge, unter - deshalb ist jetzt München Gerichtsort. Im Lager lernte er seine Frau kennen. 1952 wanderte das Paar mit Tochter in die USA aus. Er arbeitete in Cleveland als Automechaniker bei Ford, nannte sich John und wurde amerikanischer Staatsbürger.
Bereits in den 70er-Jahren holte ihn seine dunkle Vergangenheit ein. Belastende Dokumente tauchten auf. Und aus Israel meldeten sich KZ-Überlebende, die glaubten, ihn auf Bildern als "Iwan den Schrecklichen" aus Treblinka erkannt zu haben. 1987 stand er deshalb in Jerusalem vor Gericht.
Gericht Israel
Der Staatsanwalt fragt den Zeugen Rosenberg: 'Wer sitzt da auf der Anklagebank?' 'Iwan, ich habe keinen Zweifel und zögere nicht, das ist Iwan aus Treblinka. Ich sehe diese Augen.' Der Zeuge geht auf den Angeklagten zu, schaut ihm in die Augen. Daraufhin streckt ihm Demjanjuk die Hand entgegen. Rosenberg reagiert entsetzt und fährt ihn an: 'Wie wagst du es nur, mir die Hand zu geben, du Mörder.'
1988 wurde Demjanjuk zum Tode verurteilt; wartet sechs Jahre auf seine Hinrichtung und hatte Glück: Bis dato unzugängliche Archive der untergegangenen Sowjetunion brachten entlastende Dokumente ans Licht: Er war verwechselt worden. Zur fraglichen Zeit war er nicht in Treblinka, sondern in Sobibór. Israel ließ ihn frei, und Demjanjuk flog nach Amerika zurück, Businessclass.
Was dann folgte, war purer Zufall. Einer der Ermittler der Zentralen Stelle in Ludwigsburg surfte Anfang 2008 bei Google und entdeckte einen Hinweis der OSI, jener amerikanischen Dienststelle, die mutmaßliche NS-Kriegsverbrecher in Amerika aufspürt: Demjanjuk soll die Staatsbürgerschaft verlieren.
"Wir gingen davon aus, und das völlig zu Recht, wenn ihm die amerikanische Staatsbürgerschaft erneut aberkannt werden sollte, dann müssen ja neue Beweismittel vorliegen und um Einsichtnahme dieser Beweismittel haben wir gebeten. Wir waren dann zufällig in Israel, das war alles reiner Zufall, einige Wochen später und kamen dann zum Ergebnis, dass es sich wohl lohnt, diese Sache nochmals zu recherchieren. Dieses Mal nicht wegen Treblinka, sondern wegen Sobibór."
Seine Mitarbeiter stöberten in Washington und Israel in Archiven. Sie brachten Demjanjuks SS-Dienstausweis mit. Darauf sein Foto und die Identifikationsnummer 1393. Die und sein Name tauchen auch in den Unterlagen des KZ Flossenbürg in der Oberpfalz auf, wohin er nach Sobibór versetzt worden war. Der Dienstausweis ist das zentrale Beweisstück im Prozess. Die Sprecherin der Münchner Staatsanwaltschaft, Barbara Stockinger.
"Der Dienstausweis besagt, dass er ein Wachmann im Lager Sobibor war, dass er als Wachmann ausgebildet war. Wir gehen davon aus, dass der Dienstausweis echt ist. Zum einen aus dem Gutachten, darüber hinaus taucht die Dienstausweisnummer bereits in den 40er-Jahren auf Verlegungslisten auf, sodass auch dies für die Echtheit des Dienstausweises spricht. Daneben gibt es Zeugenaussagen, dass Demjanjuk im Lager Sobibor als Wachmann gearbeitet hat, sodass die Staatsanwaltschaft davon ausgeht, dass die Beihilfe zum Mord dem Angeklagten nachgewiesen werden kann."
Demjanjuk gehörte der Hilfstruppe der SS an; daran bestehen kaum mehr Zweifel. Obgleich seine Anwälte den Dienstausweis eine Fälschung nennen. Er selbst behauptet, zwar in Sobibór, dort aber nie im Vernichtungslager gewesen zu sein.
Thomas Blatt überlebte Sobibór. 15 Jahre war der polnische Jude alt, als ihn die SS verschleppte. Sechs Monate lang musste er Holz für die Verbrennungsöfen schlagen, oder die Kleider der Ermordeten sortieren. Der 82-Jährige lebt heute in Kalifornien. Er wache noch immer schreiend aus Albträumen auf.
"Wenn die angekommen sind, vielleicht four, five minutes waren die tot. Die Menschen sind gekommen, hier zogen sie aus die shoes, hier der Anzug, der Hemd. Und hier gingen die Frauen, um die Haare abzuschneiden. Und später gingen sie zu den Gaskammern. Ich habe die begleitet, ich habe die Haare geschoren. Ich bin gegangen bis vielleicht fünf Meter zu den Gaskammern."
Thomas Blatt konnte während einer Häftlingsrevolte im Oktober 1943 entkommen, sein jüngerer Bruder und die Eltern starben. Demjanjuk persönlich in Sobobór gesehen zu haben, daran erinnert er sich allerdings nicht. Trotzdem ist der Prozess für ihn wichtig.
"Ich fordere nicht viel for him. His Leben ist zu Ende, ist gleich 90. Ich wollte nur, er sollte die Wahrheit sagen, denn viele Organisationen, viele Menschen sagen, der Holocaust ist vorbei. Die Juden haben das aufgeklärt, sie sollten Israel haben. Und es ist keine Strafe, was er getun hatte."
Thomas Blatt soll in München von den Grausamkeiten des Lagerlebens berichten. Gleichwohl fehlen Zeugen, die den Angeklagten vor Gericht eindeutig als Mordgehilfen identifizieren könnten. Von den wenigen Dutzend Juden, die das Vernichtungslager überlebten, sind die meisten längst gestorben.
"Herr Demjanjuk hat bislang nicht zu den Vorwürfen Stellung genommen. Es gibt frühere Aussagen aus Amerika, aber hier bei uns hat er keine Angaben gemacht. Es werden Überlebende im Prozess auftreten als Zeugen, es werden Vernehmungsbeamte auftreten für bereits verstorbene Zeugen. Es werden Richter aus früheren Verfahren auftreten als Zeugen. Daneben werden zahlreiche Sachverständige im Prozess gehört werden."
Es dürfte ein langer Indizien-Prozess werden, denn der Angeklagte wird wohl auch im Gerichtssaal schweigen. Ernsthaft in Schwierigkeiten bringen könnten ihn nur Aussagen von Trawniki, die mit ihm in Sobibór waren. Viele sind längst nicht mehr am Leben. Ihre Aussagen wurden vor langer Zeit in der Sowjetunion protokolliert. Unter Zwang, werden Demjanjuks Anwälte behaupten und die Glaubwürdigkeit dieser Zeugenprotokolle in Zweifel ziehen. Der Anwalt der Nebenkläger, Cornelius Nestler, bleibt optimistisch.
"Die Besonderheit an diesem Verfahren und der Anklage ist, dass es keine Zeugen dazu gibt, die Demjanjuk konkret in Sobibór gesehen haben bei dem, was er gemacht hat. Es gibt alte Zeugenaussagen von Trawniki, die mit Demjanjuk zusammen in Sobibór waren, die in sowjetischen Verfahren gesagt haben: Er war da mit uns. Er hat genauso wie wir die Bewachung gemacht. Er hat genauso wie wir auch auf der Rampe gestanden und die Menschen, die ankamen, in Empfang genommen und mit in die Gaskammern getrieben. Das heißt, die Beweislage ist so, dass man zwei Dinge weiß: Erstens, dass Demjanjuk in Sobibór war. Und dass alle Trawniki, die in Sobibór waren, mitverantwortlich dafür waren, dass die Mordmaschinerie am Laufe gehalten wurde."
Für einen der letzten großen Kriegsverbrecherprozesse hat die Schwurgerichtskammer des Landgerichts München 35 Verhandlungstage vorgesehen.
"Wir haben Gutachten eingeholt. Herr Demjanjuk ist nach den Aussagen der Sachverständigen verhandlungsfähig. Allerdings nur eingeschränkt verhandlungsfähig. Es soll nur zwei Mal 90 Minuten je Tag verhandelt werden. Und daran hält sich das Gericht auch. Das hat natürlich zur Folge, dass das Verfahren etwas länger dauert, wenn nur drei Stunden täglich verhandelt werden können. Derzeit sind Termine bis in den Mai hinein angesetzt."
Seit seiner Auslieferung ist Demjanjuk in der Krankenabteilung der Justizvollzugsanstalt Stadelheim untergebracht. Es plagt ihn die Gicht und er leidet unter einer Vorstufe der Altersleukämie, statistisch gesehen hat er noch eine Lebenserwartung von weniger als einem Jahr. Gut möglich also, dass es zu keinem Urteil mehr kommt, weil der 89-Jährige vorher für verhandlungsunfähig erklärt wird. Sein Pflichtverteidiger rechnet mit dem Schlimmsten.
"Dass dieser Mann sowieso einem baldigen Ende entgegensieht. Den noch durch ein Verfahren zu treiben, halte ich nicht für sehr human. Ich denke da jetzt auch an die Nebenkläger. Ob man denen damit einen Gefallen tut, möglicherweise im Laufe des Prozesses einen toten Angeklagten vor sich zu haben. Ich bin nicht der Meinung, dass es richtig ist."
Doch Mord verjährt nicht. Falls der 89-Jährige wegen zehntausendfacher Beihilfe zum Mord verurteilt wird, könnten laut Oberstaatsanwalt Schrimm weitere Anklagen folgen: Gegen gebürtige Ungarn und Rumänen, die ebenfalls der SS behilflich waren. Der Angeklagte streitet alles ab, was Schrimm nicht wundert.
"Ich habe viele Sätze gehört dergestalt, dass es hieß: Ja das war nicht recht, was damals getan wurde. Und es war falsch, die Juden umzubringen. Aber ich habe nie ein persönliches Bedauern gehört. Ich habe nie gehört, dass ein Täter oder Tatverdächtiger gesagt hat, ich habe Fehler gemacht. Sondern es wurde immer nur in dritter Person gesprochen. Eine echte Reue habe ich nie - in den ganzen 27 Jahren, seitdem ich mit der Materie befasst bin, erlebt."
Der Prozess gegen John Demjanjuk ist alles andere als einfach: Wird Staatsanwaltschaft genügend Belege seiner Schuld präsentieren? Er selbst sieht sich als Opfer einer verfolgungswütigen Justiz. Wegen Beihilfe zum Mord droht ein Strafmaß zwischen drei bis 15 Jahren Freiheitsstrafe.
"Ich glaube, es gibt einzelne Nebenkläger, die sagen, dass es für sie ganz unwichtig ist, was am Ende für Herrn Demjanjuk dabei raus kommt. Wichtig ist nur, dass die Verantwortlichkeit von jedem festgestellt wird, der in Sobibor mitgewirkt hat. Und es gibt andere Nebenkläger, die auch ganz offen sagen, der soll ordentlich bestraft werden, der soll die Höchststrafe bekommen, was auch immer das heißt."