Vierzig Jahre lang ertönte die Freiheitsglocke jeden Sonntag um 12 Uhr vom Berliner Rathaus Schöneberg und mahnte die Deutschen daran, daß ihr Land geteilt war. Die Glocke, die General Lucius D. Clay 1950 im Namen des amerikanischen Volkes den Berlinern überreichte, erklang auch in dieser Nacht, als Bundespräsident Richard von Weizsäcker die berühmten Sätze sprach:
"In freier Selbstbestimmung wollen wir die Einheit in Freiheit Deutschlands vollenden. Für unsere Aufgaben sind wir uns der Verantwortung vor Gott und den Menschen bewußt. Wir wollen in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen."
Damit ging in Erfüllung, was in der Bundesrepublik seit den 50er Jahren erklärter politischer Willen war. Für Konrad Adenauer, den ersten deutschen Bundeskanzler, waren die Einheit Deutschlands und eine starke europäische Gemeinschaft stets zwei Seiten ein und derselben Medaille:
"Die Außenpolitik der Bundesrepublik wird sich auch weiterhin mit den folgenden zentralen Problemen zu beschäftigen haben: der Herstellung ihrer eigenen Unabhängigkeit, der Wiedervereinigung Deutschlands, dem Zusammenschluß des freien Europas und der Integration Deutschlands in die europäische Gemeinschaft."
Das war 1953. Auch die Politiker der DDR setzten in dieser Zeit auf die Wiedervereinigung Deutschlands, wenn auch unter anderen politischen Vorzeichen. Generalsekretär Walter Ulbricht hatte ein sozialistisches Deutschland "von der Oder bis zum Rhein" vor Augen, wenn er nationale Töne anschlug:
"Wir sind für die Einheit Deutschlands, weil die Deutschen im Westen unserer Heimat unsere Brüder sind, weil wir unser Vaterland lieben, weil wir wissen, daß die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands eine unumstößliche historische Gesetzmäßigkeit ist, und jeder zugrunde gehen wird, der sich diesem Gesetz entgegen zu stellen wagt."
Stalin setzte die Westalliierten unter Zugzwang, als er im März 1952 vorschlug, einen Friedensvertrag mit Gesamtdeutschland abzuschließen. Voraussetzungen waren unter anderem deutsche Neutralität und Entmilitarisierung. Wenn die DDR-Regierung seitdem die Pläne für eine Wiedervereinigung formulierte, so entsprach sie dem Willen der Sowjetunion. Etwa der damalige Ministerpräsident Otto Grotewohl, der Mitte der 50er Jahre auf einer internationalen Pressekonferenz die Voraussetzungen seitens der DDR nannte:
1. "Ein Verbot der Lagerung und Herstellung von Atombomben und -Waffen auf dem Boden Deutschlands sowie ein Verbot der Propagierung des Atomkrieges zu vereinbaren 2. Ausscheiden der beiden deutschen Staaten aus der NATO und aus dem Warschauer Vertrag. Aufhebung der Wehrpflicht und Vereinbarung über die beiderseitigen Truppenstärke 3. Gemeinsames oder einzelnes Ersuchen an die vier Mächte auf baldige schrittweise Zurückziehung ihrer Truppen aus ganz Deutschland."
Und, ganz wichtig: in der DDR ging man bei einer möglichen Wiedervereinigung immer von zwei souveränen Staaten aus, die gleichberechtigt miteinander verhandeln. Die Westmächte wollten von Neutralität nichts wissen. Die Bundesrepublik sollte fest in ein europäisches Verteidigungsbündnis eingebunden werden. Auf der Berliner Außenministerkonferenz von 1954 präsentierte der britische Außenminister Anthony Eden einen 5-Punkte-Plan zur Wiedervereinigung mit folgenden Eckpunkten:
Zitatensprecher: 1. gesamtdeutsche garantiert freie Wahlen abzuhalten 2. eine Nationalversammlung einzuberufen 3. eine Verfassung und einen Friedensvertrag vorzubereiten 4. die Verfassung anzunehmen und 5. den Friedensvertrag abzuschließen
Auf dieser Grundlage begann in der Bundesrepublik die Arbeit des Forschungsbeirates für Fragen der Wiedervereinigung. Die Gründungsmitglieder konnten zum Teil an ihre Karrieren in der Nazizeit anknüpfen und Erfahrungen einbringen, die sie beim Anschluß Österreichs, der Sudetengebiete und Teilen der Tschechoslowakei gemacht hatten. Jetzt wurde von ihnen der Anschluß "Mitteldeutschlands" bis ins Detail geplant und der sogenannte "Tag X" von langer Hand vorbereitet. Zehn Jahre nach der Einheit sind die Aktenbestände dieses Forschungsbeirates im Koblenzer Bundesarchiv durchforstet und ausgewertet worden. Der Historiker Karl-Heinz Roth fand heraus, daß die Pläne von damals als Matrix für den Einigungsprozeß zwischen beiden deutschen Staaten im Jahre 1990 dienten. Ausgangspunkt war die wirtschaftliche Entwicklung in Ost und West.
"Natürlich gab es zu Beginn der 50er Jahre einen relativen Gleichstand, wenn auch natürlich nur proportional im Wirtschaftspotential zwischen Westdeutschland und Ostdeutschland. Dieser Gleichstand hat sich immer mehr zu Ungunsten der DDR entwickelt. 1985 hat Kohl ja die "Berichte zur Lage der Nation im geteilten Deutschland" wieder aufgenommen, die in den 50er Jahre gestartet worden waren, und da kamen die volkswirtschaftlichen Bilanzierungsausschüsse und Gremien zu dem Ergebnis, daß das Leistungspotential, also Arbeitskräfteeinsatz, Wirtschaftspotential usw. sich im Verhältnis zur BRD, relativ wohlgemerkt, zum Potential der BRD halbiert hätte. Dieser Prozeß war real und die Nachfolgeeinrichtungen des Forschungsbeirates, die Forschungsstelle für Gesamtdeutsche sozial- und wirtschaftliche Fragen, hat seit Beginn der 80er Jahren genau die elementaren Schwachpunkte der DDR-Ökonomie analysiert und die lagen in dem Versuch der damaligen DDR-Führung seit den 70er Jahren, über eine Außenhandelsoffensive ihre Position zu verbessern und da begann dann eine Strukturkrise, die ganz genau und detailliert untersucht worden ist."
Aus dem streng vertraulichen Protokoll über die "Maßnahmen nach der Wiedervereinigung Deutschlands" vom 21. April 1952.
Zitatensprecher: Die gesamten Arbeiten [sind] so zu gestalten, daß im Falle der Wiedervereinigung keine chaotischen Zustände eintreten. (...) Auf allen Gebieten [muß] eine Bestandsaufnahme des Rechtszustandes in der Sowjetzone erfolgen. Das gesammelte Material [muß] (...) für die Maßnahmen zur Rechtsangleichung zur Verfügung gestellt werden. (...) Es [wird] doch dahin kommen, daß in der Sowjetzone über 90 % aller in dem Staatsapparat tätigen Personen in den ersten Wochen ausgewechselt werden müssen (...)
Schon die allgemeinen Vorschläge von 1952 lesen sich wie eine Anleitung für den Einigungsprozeß 89/90. Doch gehen wir einmal ins Detail. Gerade war die Zwangskollektivierung in der DDR beschlossene Sache, die Bauern wurden in Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften zusammengefaßt, in LPGs. Die großen Industriebetriebe waren enteignet und zu Volkseigenen Betrieben, VEBs, umgestaltet worden. Karl-Heinz Roth hat aus den Akten herauslesen können, was der Forschungsbeirat in Bezug auf diese Strukturen geplant hatte:
"Die LPGs und VEBs sollten, das war eine Planungsdiskussion, die schon Mitte der 50er Jahre anfing und dann im Jahr 1960 zu entsprechenden ausführlichen Resolutionen führten, die sollten in eine Übergangsstruktur überführt werden durch Treuhänder, um in einer möglichst rasch abzuschließenden Phase die Privatisierung einzuleiten. Es gibt Unterlagen sowohl für eine Treuhandgesellschaft für die Reprivatisierung der Landwirtschaft, also der LPGs wie auch er Industrie und auch da kann man sagen: obwohl die Bundesregierung wegen des Treuhandgesetzes der DDR von Anfang März - glaube ich - 1990 einen Umweg einschlagen mußte, wurde auch das vollkommen realisiert. D. h. die Treuhandanstalt war konzipiert als ein Koordinationsinstrument, das die Übergangsgesellschaften der LPG und VEB so schnell wie möglich privatisieren sollte. Der Unterschied zur Praxis nach 1990 ist allerdings der, daß dort ein ganz radikaler buy out, also ein radikaler Ausverkauf, eine radikale Ausschlachtung stattgefunden hat, die die Konzeption des Forschungsbeirates weit überschritten hat."
Der Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung rechnete noch mit einem relativen Gleichstand im Wirtschaftspotential zwischen Westdeutschland und Ostdeutschland. Fast 40 Jahre später waren die Anlagen in der DDR größtenteils marode, die Strukturen zu groß und zu träge, als daß eine Übernahme gelohnt hätte. Das Ergebnis heute: LPGs und VEBs sind vollständig in private Hände zurückgegangen. Interessant sind auch die Parallelen bei der Währungspolitik. Der Wirtschaftstheoretiker Paul Hensel entwarf mehrere Modelle zur Währungsvereinheitlichung, die er im April 1953 dem Bundeswirtschaftsministerium vorstellte. Seinen Bericht leitet er mit einem Leninzitat ein.
Zitatensprecher: Der bekannte Satz von Lenin: "Um die bürgerliche Gesellschaft zu zerstören, muß man ihr Geldwesen verwüsten", gilt natürlich erst recht in der Umkehrung. Wenn eine Gesellschaft frei wirtschaftender Menschen gebildet und aufrecht erhalten werden soll, muß man das Geldwesen in Ordnung bringen und halten.
Hensel stellt dann fünf Modelle für eine Währungsunion vor.
Zitatensprecher: Modell eins: Sofortige und unmittelbare Währungsvereinheitlichung Modell zwei: Sofortige Währungsvereinheitlichung zu festgesetztem Kurs Modell drei: Sofortige Währungsvereinheitlichung mit Quotenverfahren und differenziertem Kurs. Modell vier: Währungsvereinheitlichung nach Maßgabe eines freien Wechselkurses Modell fünf: Währungsvereinheitlichung in Verbindung mit außenwirtschaftlicher Abschirmung.
Der Wirtschaftstheoretiker Hensel zählt ausführlich alle Vor- und Nachteile seiner Modelle auf und kommt dann zu dem Schluß:
Zitatensprecher: Nach den dieser Untersuchung zugrunde liegenden Annahmen über die zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung in Mitteldeutschland gegebenen Verhältnisse scheint die Anwendung des Modells drei am zweckmäßigsten zu sein.
Also: Währungsunion sofort, aber differenzierter Wechselkurs und Quotenverfahren. So ist es denn 1990 auch gelaufen
"Ich glaube, daß die Parallelen hier besonders schlagend sind. Die Option, die dann 1990 umgesetzt wurde, nämlich der differentielle Währungsumtausch, mit einer relativ guten Stellung der Sparer und Einkommensbezieher auf der einen Seite, also eine Aufwertung von 1:4, eine begrenzte Aufwertung des industriellen Potentials und eine Nichtaufwertung, d. h. also eine völlige Entwertung der politischen Sektoren, das war Teil eines Programms, das der Wirtschaftstheoretiker Hensel für das Bundeswirtschaftsministerium erarbeitet hatte. Und es ist deshalb so interessant, weil es gleichzeitig mit dieser radikalen begrenzten Aufwertungskonzeption das Tempo des Anschlusses zur Diskussion stellt. Hensel sagt also, und das ist wirklich sehr spannend für die 50er Jahre, daß je schneller das Tempo des Anschlusses gewählt wird, was man nur und ausschließlich mit währungspolitischen Instrumenten durchsetzen kann, desto höher die Folgekosten ausfallen. Er hat also ganz genau kalkuliert: wenn der politische Anschlußprozeß mit Instrumenten der Geldpolitik extrem forciert wird, sind die Folgekosten und die notwendigen nachfolgenden Stützungsmaßnahmen besonders hoch."
Die Gunst der Stunde nutzen, schnelles Handeln - in der jahrzehntelangen Vorbereitung und Analyse durch den Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung und die Nachfolgeeinrichtung, der Forschungsstelle für Gesamtdeutsche Sozial- und Wirtschaftspolitische Fragen, ist die Grundlage für das Tempo während des Einheitsprozesses enthalten. Vor diesem Hintergrund erscheint auch das berühmte 10-Punkte-Programm, das Bundeskanzler Helmut Kohl am 28. November 1989 vorstellte, in einem neuen Licht.
"Wir sind aber auch bereit, konföderative Strukturen zwischen beiden Staaten in Deutschland zu entwickeln mit dem Ziel, ein Föderation, das heißt eine bundesstaatliche Einheit in Deutschland zu schaffen. Das aber setzt zwingend eine demokratisch legitimierte Regierung in der DDR voraus. Dabei könnten wir uns nach freien Wahlen schon bald folgende Institutionen vorstellen: Einen gemeinsamen Regierungsausschuß zur ständigen Konsultation in politischen Abstimmungen, gemeinsame Fachausschüsse, einen gemeinsames parlamentarisches Gremium und manches andere mehr angesichts einer völlig neuen Entwicklung."
"Das 10-Punkte-Programm vom November '89 ist auf den ersten Blick relativ gemäßigt. Es enthält eine Stufenkonzeption im Sinn - wenn man so will - einer Konföderation. Nun haben aber ausländische Beobachter, z. B. der Berater von Mitterand, Jacques Attali, geschrieben, daß die Präsentation dieses 10-Punkte-Programms, das Kohl mit keiner westeuropäischen oder auch nicht mit der US-Regierung abgesprochen hatte, in London und Paris Wutanfälle ausgelöst hat bei den Regierungen und in den USA ein extremes, wenn auch nur sehr kurzfristiges Erschrecken. Das Erschrecken und die Wut kamen daher, daß die Interpretation der westeuropäischen Regierung darauf hinauslief, das 10-Punkte-Programm diskreditiert, delegitimiert die DDR-Regierung, es ist ein Anspruch der Bundesrepublik auf die Alleingestaltung des Einigungsprozesses, allerdings in mehreren Stufen. Die Aggression, die diplomatische Aggression war eindeutig formuliert und von daher, meine ich, haben wir damals das alle wohl ganz falsch interpretiert."
Hier schließt sich nun der Kreis. Was Karl-Heinz Roth "anschließen, angleichen, abwickeln" nennt, ging als Meisterleistung der Kohlregierung in die Geschichte ein. Allerdings war die DDR weder bei den Planungen seit den 50er Jahren noch beim Einigungsprozeß selbst ein wirklich gleichberechtigter Partner. Sie war wirtschaftlich am Ende, ihr liefen die Menschen davon, die Altherrenriege an der Spitze war unbeliebt wie nie. Natürlich hatte auch die DDR ihre Planungen für den "Tag X" der Wiedervereinigung. Es gab die Westkommission beim Politbüro und die Westabteilung des ZK-Apparates und der Nationalen Front. Hinzu kam 1965 das Staatssekretariat für gesamtdeutsche, später westdeutsche Fragen, das 1971 unter Honecker im IPW, dem Institut für Internationale Politik und Wirtschaft, aufging. In den 60er Jahren verstummten in der DDR die Parolen von der Wiedervereinigung. Der Bau der Mauer war auch das Eingeständnis einer Niederlage in der nationalen Frage. Der Sieg des Sozialismus in Westdeutschland wurde von der SED in die ferne Zukunft vertagt, so wie in der Bundesrepublik die Hoffnung auf eine baldige Wiedervereinigung. Albert Norden, der für die Westpolitik im SED-Politbüro verantwortlich war, bedachte denn auch die Einheitsansprüche aus Bonn mit den entsprechenden Worten:
"Die These "DDR kein Ausland für die Bundesrepublik" ist also ein neues Kostüm für die verschärfte Annexionspolitik Bonns gegenüber dem sozialistischen deutschen Friedensstaat. Bei der Umtopfung der giftigen Schlingpflanze ihrer Expansionspolitik haben sie die alte faulige Muttererde des deutschen Imperialismus wieder verwandt."
Aus den Archiven der Gauckbehörde sind Akten aufgetaucht, die belegen, was die Staatssicherheit für den Fall der Wiedervereinigung plante, Pläne, die im Laufe der 80er Jahre ausgearbeitet und immer wieder aktualisiert wurden. Die Einnahme von Westberlin hatte dabei oberste Priorität. Bis ins kleinste Detail wurde die Struktur der "Verwaltung B 2", der Bezirksverwaltung Westberlin der Stasi mit insgesamt 12 Kreisdienststellen von Charlottenburg bis Zehlendorf, strukturiert. Auf über 80 Seiten standen Namen von Mitarbeitern, die zur Planstellenbesetzung vorgesehen waren. Die vorrangigen Aufgaben:
1. Festnahme, Isolation bzw. Internierung der feindlichen Kräfte auf der Grundlage der vorhandenen Dokumente. Zuführung in die festgelegten Zuführungspunkte. (...) Entfaltung eines wirksamen Fahndungssystems. 2. Besetzung und Sicherung der bedeutsamen Zentren des Feindes, darunter Geheimdienstobjekte, Polizeidienststellen, Archive, Wissenschaftszentren, Medien usw.
Ein Szenario, das den Deutschen glücklicherweise erspart geblieben ist. Die Hoffnungen auf einen Dritten Weg, die zwischen dem Fall der Mauer 1989 und der Wiedervereinigung im Oktober 1990 vielerorts in der DRR aufgeblüht waren, wurden allerdings auch nicht erfüllt. Statt dessen wurde die DDR in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 nach Paragraph 23 Grundgesetz Teil der Bundesrepublik, ein Akt, den viele als bloßen Anschluß empfanden. Lothar de Maizière, der erste und einzige frei gewählte Ministerpräsident der DDR, hat das damals freilich nicht so gesehen.
"Wir sind ein Volk, wir werden ein Staat. In wenigen Augenblicken tritt die Deutsche Demokratische Republik der Bundesrepublik Deutschland bei. Damit erreichen wir Deutschen die Einheit in Freiheit. Es ist eine Stunde großer Freude, es ist das Ende mancher Illusionen und es ist ein Abschied ohne Tränen."
Für viele Deutsche erscheint die Wiedervereinigung auch heute, zehn Jahre danach, noch als eine glückliche Fügung der Geschichte, die sich trotz Öffnung der Archive und Erinnerungsbücher der damals beteiligten Akteure nicht vollends entschlüsseln läßt. Es bleiben ja auch, nicht nur für den Historiker Karl-Heinz Roth, noch viele Fragen offen.
"Ich denke an den prophetischen Ausspruch Adenauers, der 1954 in der Sitzung des Forschungsbeirates die Forschergruppe, den Forscherkreis auf ein sehr langen Atem eingeschworen hat. Adenauer hat damals gesagt: Wir können nicht qua göttliches Recht die Wiedervereinigung erzwingen, wir müssen erst im Rahmen des westlichen Bündnisses stark werden, wir müssen eine führende Position im europäischen Einigungsprozeß erreichen, und wir müssen geduldig auf den Augenblick warten, wo die Sowjetunion wankt. Daß die SU wankte, war 1987/88 nicht so klar, aber es wurde dann sehr schnell deutlich 1989/90. Die Gründe, warum die SU in der Situation dann bereit war, mit dem Ausverkauf der DDR ihre eigene Existenz zu ruinieren, denn das ist das Ergebnis dieser Politik, dies sind mir schleierhaft. Das große Problem ist also, warum der Versuch, einer zumindest in vielen Aspekten wichtigen Öffnung und Demokratisierung mit einem derartigen ruinösen Selbstzerstörungsprozess ausgerechnet gegenüber der Bundesrepublik verbunden war. Das sind Fragen, die müssen wir stellen, aber die müssen andere beantworten."
"In freier Selbstbestimmung wollen wir die Einheit in Freiheit Deutschlands vollenden. Für unsere Aufgaben sind wir uns der Verantwortung vor Gott und den Menschen bewußt. Wir wollen in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen."
Damit ging in Erfüllung, was in der Bundesrepublik seit den 50er Jahren erklärter politischer Willen war. Für Konrad Adenauer, den ersten deutschen Bundeskanzler, waren die Einheit Deutschlands und eine starke europäische Gemeinschaft stets zwei Seiten ein und derselben Medaille:
"Die Außenpolitik der Bundesrepublik wird sich auch weiterhin mit den folgenden zentralen Problemen zu beschäftigen haben: der Herstellung ihrer eigenen Unabhängigkeit, der Wiedervereinigung Deutschlands, dem Zusammenschluß des freien Europas und der Integration Deutschlands in die europäische Gemeinschaft."
Das war 1953. Auch die Politiker der DDR setzten in dieser Zeit auf die Wiedervereinigung Deutschlands, wenn auch unter anderen politischen Vorzeichen. Generalsekretär Walter Ulbricht hatte ein sozialistisches Deutschland "von der Oder bis zum Rhein" vor Augen, wenn er nationale Töne anschlug:
"Wir sind für die Einheit Deutschlands, weil die Deutschen im Westen unserer Heimat unsere Brüder sind, weil wir unser Vaterland lieben, weil wir wissen, daß die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands eine unumstößliche historische Gesetzmäßigkeit ist, und jeder zugrunde gehen wird, der sich diesem Gesetz entgegen zu stellen wagt."
Stalin setzte die Westalliierten unter Zugzwang, als er im März 1952 vorschlug, einen Friedensvertrag mit Gesamtdeutschland abzuschließen. Voraussetzungen waren unter anderem deutsche Neutralität und Entmilitarisierung. Wenn die DDR-Regierung seitdem die Pläne für eine Wiedervereinigung formulierte, so entsprach sie dem Willen der Sowjetunion. Etwa der damalige Ministerpräsident Otto Grotewohl, der Mitte der 50er Jahre auf einer internationalen Pressekonferenz die Voraussetzungen seitens der DDR nannte:
1. "Ein Verbot der Lagerung und Herstellung von Atombomben und -Waffen auf dem Boden Deutschlands sowie ein Verbot der Propagierung des Atomkrieges zu vereinbaren 2. Ausscheiden der beiden deutschen Staaten aus der NATO und aus dem Warschauer Vertrag. Aufhebung der Wehrpflicht und Vereinbarung über die beiderseitigen Truppenstärke 3. Gemeinsames oder einzelnes Ersuchen an die vier Mächte auf baldige schrittweise Zurückziehung ihrer Truppen aus ganz Deutschland."
Und, ganz wichtig: in der DDR ging man bei einer möglichen Wiedervereinigung immer von zwei souveränen Staaten aus, die gleichberechtigt miteinander verhandeln. Die Westmächte wollten von Neutralität nichts wissen. Die Bundesrepublik sollte fest in ein europäisches Verteidigungsbündnis eingebunden werden. Auf der Berliner Außenministerkonferenz von 1954 präsentierte der britische Außenminister Anthony Eden einen 5-Punkte-Plan zur Wiedervereinigung mit folgenden Eckpunkten:
Zitatensprecher: 1. gesamtdeutsche garantiert freie Wahlen abzuhalten 2. eine Nationalversammlung einzuberufen 3. eine Verfassung und einen Friedensvertrag vorzubereiten 4. die Verfassung anzunehmen und 5. den Friedensvertrag abzuschließen
Auf dieser Grundlage begann in der Bundesrepublik die Arbeit des Forschungsbeirates für Fragen der Wiedervereinigung. Die Gründungsmitglieder konnten zum Teil an ihre Karrieren in der Nazizeit anknüpfen und Erfahrungen einbringen, die sie beim Anschluß Österreichs, der Sudetengebiete und Teilen der Tschechoslowakei gemacht hatten. Jetzt wurde von ihnen der Anschluß "Mitteldeutschlands" bis ins Detail geplant und der sogenannte "Tag X" von langer Hand vorbereitet. Zehn Jahre nach der Einheit sind die Aktenbestände dieses Forschungsbeirates im Koblenzer Bundesarchiv durchforstet und ausgewertet worden. Der Historiker Karl-Heinz Roth fand heraus, daß die Pläne von damals als Matrix für den Einigungsprozeß zwischen beiden deutschen Staaten im Jahre 1990 dienten. Ausgangspunkt war die wirtschaftliche Entwicklung in Ost und West.
"Natürlich gab es zu Beginn der 50er Jahre einen relativen Gleichstand, wenn auch natürlich nur proportional im Wirtschaftspotential zwischen Westdeutschland und Ostdeutschland. Dieser Gleichstand hat sich immer mehr zu Ungunsten der DDR entwickelt. 1985 hat Kohl ja die "Berichte zur Lage der Nation im geteilten Deutschland" wieder aufgenommen, die in den 50er Jahre gestartet worden waren, und da kamen die volkswirtschaftlichen Bilanzierungsausschüsse und Gremien zu dem Ergebnis, daß das Leistungspotential, also Arbeitskräfteeinsatz, Wirtschaftspotential usw. sich im Verhältnis zur BRD, relativ wohlgemerkt, zum Potential der BRD halbiert hätte. Dieser Prozeß war real und die Nachfolgeeinrichtungen des Forschungsbeirates, die Forschungsstelle für Gesamtdeutsche sozial- und wirtschaftliche Fragen, hat seit Beginn der 80er Jahren genau die elementaren Schwachpunkte der DDR-Ökonomie analysiert und die lagen in dem Versuch der damaligen DDR-Führung seit den 70er Jahren, über eine Außenhandelsoffensive ihre Position zu verbessern und da begann dann eine Strukturkrise, die ganz genau und detailliert untersucht worden ist."
Aus dem streng vertraulichen Protokoll über die "Maßnahmen nach der Wiedervereinigung Deutschlands" vom 21. April 1952.
Zitatensprecher: Die gesamten Arbeiten [sind] so zu gestalten, daß im Falle der Wiedervereinigung keine chaotischen Zustände eintreten. (...) Auf allen Gebieten [muß] eine Bestandsaufnahme des Rechtszustandes in der Sowjetzone erfolgen. Das gesammelte Material [muß] (...) für die Maßnahmen zur Rechtsangleichung zur Verfügung gestellt werden. (...) Es [wird] doch dahin kommen, daß in der Sowjetzone über 90 % aller in dem Staatsapparat tätigen Personen in den ersten Wochen ausgewechselt werden müssen (...)
Schon die allgemeinen Vorschläge von 1952 lesen sich wie eine Anleitung für den Einigungsprozeß 89/90. Doch gehen wir einmal ins Detail. Gerade war die Zwangskollektivierung in der DDR beschlossene Sache, die Bauern wurden in Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften zusammengefaßt, in LPGs. Die großen Industriebetriebe waren enteignet und zu Volkseigenen Betrieben, VEBs, umgestaltet worden. Karl-Heinz Roth hat aus den Akten herauslesen können, was der Forschungsbeirat in Bezug auf diese Strukturen geplant hatte:
"Die LPGs und VEBs sollten, das war eine Planungsdiskussion, die schon Mitte der 50er Jahre anfing und dann im Jahr 1960 zu entsprechenden ausführlichen Resolutionen führten, die sollten in eine Übergangsstruktur überführt werden durch Treuhänder, um in einer möglichst rasch abzuschließenden Phase die Privatisierung einzuleiten. Es gibt Unterlagen sowohl für eine Treuhandgesellschaft für die Reprivatisierung der Landwirtschaft, also der LPGs wie auch er Industrie und auch da kann man sagen: obwohl die Bundesregierung wegen des Treuhandgesetzes der DDR von Anfang März - glaube ich - 1990 einen Umweg einschlagen mußte, wurde auch das vollkommen realisiert. D. h. die Treuhandanstalt war konzipiert als ein Koordinationsinstrument, das die Übergangsgesellschaften der LPG und VEB so schnell wie möglich privatisieren sollte. Der Unterschied zur Praxis nach 1990 ist allerdings der, daß dort ein ganz radikaler buy out, also ein radikaler Ausverkauf, eine radikale Ausschlachtung stattgefunden hat, die die Konzeption des Forschungsbeirates weit überschritten hat."
Der Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung rechnete noch mit einem relativen Gleichstand im Wirtschaftspotential zwischen Westdeutschland und Ostdeutschland. Fast 40 Jahre später waren die Anlagen in der DDR größtenteils marode, die Strukturen zu groß und zu träge, als daß eine Übernahme gelohnt hätte. Das Ergebnis heute: LPGs und VEBs sind vollständig in private Hände zurückgegangen. Interessant sind auch die Parallelen bei der Währungspolitik. Der Wirtschaftstheoretiker Paul Hensel entwarf mehrere Modelle zur Währungsvereinheitlichung, die er im April 1953 dem Bundeswirtschaftsministerium vorstellte. Seinen Bericht leitet er mit einem Leninzitat ein.
Zitatensprecher: Der bekannte Satz von Lenin: "Um die bürgerliche Gesellschaft zu zerstören, muß man ihr Geldwesen verwüsten", gilt natürlich erst recht in der Umkehrung. Wenn eine Gesellschaft frei wirtschaftender Menschen gebildet und aufrecht erhalten werden soll, muß man das Geldwesen in Ordnung bringen und halten.
Hensel stellt dann fünf Modelle für eine Währungsunion vor.
Zitatensprecher: Modell eins: Sofortige und unmittelbare Währungsvereinheitlichung Modell zwei: Sofortige Währungsvereinheitlichung zu festgesetztem Kurs Modell drei: Sofortige Währungsvereinheitlichung mit Quotenverfahren und differenziertem Kurs. Modell vier: Währungsvereinheitlichung nach Maßgabe eines freien Wechselkurses Modell fünf: Währungsvereinheitlichung in Verbindung mit außenwirtschaftlicher Abschirmung.
Der Wirtschaftstheoretiker Hensel zählt ausführlich alle Vor- und Nachteile seiner Modelle auf und kommt dann zu dem Schluß:
Zitatensprecher: Nach den dieser Untersuchung zugrunde liegenden Annahmen über die zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung in Mitteldeutschland gegebenen Verhältnisse scheint die Anwendung des Modells drei am zweckmäßigsten zu sein.
Also: Währungsunion sofort, aber differenzierter Wechselkurs und Quotenverfahren. So ist es denn 1990 auch gelaufen
"Ich glaube, daß die Parallelen hier besonders schlagend sind. Die Option, die dann 1990 umgesetzt wurde, nämlich der differentielle Währungsumtausch, mit einer relativ guten Stellung der Sparer und Einkommensbezieher auf der einen Seite, also eine Aufwertung von 1:4, eine begrenzte Aufwertung des industriellen Potentials und eine Nichtaufwertung, d. h. also eine völlige Entwertung der politischen Sektoren, das war Teil eines Programms, das der Wirtschaftstheoretiker Hensel für das Bundeswirtschaftsministerium erarbeitet hatte. Und es ist deshalb so interessant, weil es gleichzeitig mit dieser radikalen begrenzten Aufwertungskonzeption das Tempo des Anschlusses zur Diskussion stellt. Hensel sagt also, und das ist wirklich sehr spannend für die 50er Jahre, daß je schneller das Tempo des Anschlusses gewählt wird, was man nur und ausschließlich mit währungspolitischen Instrumenten durchsetzen kann, desto höher die Folgekosten ausfallen. Er hat also ganz genau kalkuliert: wenn der politische Anschlußprozeß mit Instrumenten der Geldpolitik extrem forciert wird, sind die Folgekosten und die notwendigen nachfolgenden Stützungsmaßnahmen besonders hoch."
Die Gunst der Stunde nutzen, schnelles Handeln - in der jahrzehntelangen Vorbereitung und Analyse durch den Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung und die Nachfolgeeinrichtung, der Forschungsstelle für Gesamtdeutsche Sozial- und Wirtschaftspolitische Fragen, ist die Grundlage für das Tempo während des Einheitsprozesses enthalten. Vor diesem Hintergrund erscheint auch das berühmte 10-Punkte-Programm, das Bundeskanzler Helmut Kohl am 28. November 1989 vorstellte, in einem neuen Licht.
"Wir sind aber auch bereit, konföderative Strukturen zwischen beiden Staaten in Deutschland zu entwickeln mit dem Ziel, ein Föderation, das heißt eine bundesstaatliche Einheit in Deutschland zu schaffen. Das aber setzt zwingend eine demokratisch legitimierte Regierung in der DDR voraus. Dabei könnten wir uns nach freien Wahlen schon bald folgende Institutionen vorstellen: Einen gemeinsamen Regierungsausschuß zur ständigen Konsultation in politischen Abstimmungen, gemeinsame Fachausschüsse, einen gemeinsames parlamentarisches Gremium und manches andere mehr angesichts einer völlig neuen Entwicklung."
"Das 10-Punkte-Programm vom November '89 ist auf den ersten Blick relativ gemäßigt. Es enthält eine Stufenkonzeption im Sinn - wenn man so will - einer Konföderation. Nun haben aber ausländische Beobachter, z. B. der Berater von Mitterand, Jacques Attali, geschrieben, daß die Präsentation dieses 10-Punkte-Programms, das Kohl mit keiner westeuropäischen oder auch nicht mit der US-Regierung abgesprochen hatte, in London und Paris Wutanfälle ausgelöst hat bei den Regierungen und in den USA ein extremes, wenn auch nur sehr kurzfristiges Erschrecken. Das Erschrecken und die Wut kamen daher, daß die Interpretation der westeuropäischen Regierung darauf hinauslief, das 10-Punkte-Programm diskreditiert, delegitimiert die DDR-Regierung, es ist ein Anspruch der Bundesrepublik auf die Alleingestaltung des Einigungsprozesses, allerdings in mehreren Stufen. Die Aggression, die diplomatische Aggression war eindeutig formuliert und von daher, meine ich, haben wir damals das alle wohl ganz falsch interpretiert."
Hier schließt sich nun der Kreis. Was Karl-Heinz Roth "anschließen, angleichen, abwickeln" nennt, ging als Meisterleistung der Kohlregierung in die Geschichte ein. Allerdings war die DDR weder bei den Planungen seit den 50er Jahren noch beim Einigungsprozeß selbst ein wirklich gleichberechtigter Partner. Sie war wirtschaftlich am Ende, ihr liefen die Menschen davon, die Altherrenriege an der Spitze war unbeliebt wie nie. Natürlich hatte auch die DDR ihre Planungen für den "Tag X" der Wiedervereinigung. Es gab die Westkommission beim Politbüro und die Westabteilung des ZK-Apparates und der Nationalen Front. Hinzu kam 1965 das Staatssekretariat für gesamtdeutsche, später westdeutsche Fragen, das 1971 unter Honecker im IPW, dem Institut für Internationale Politik und Wirtschaft, aufging. In den 60er Jahren verstummten in der DDR die Parolen von der Wiedervereinigung. Der Bau der Mauer war auch das Eingeständnis einer Niederlage in der nationalen Frage. Der Sieg des Sozialismus in Westdeutschland wurde von der SED in die ferne Zukunft vertagt, so wie in der Bundesrepublik die Hoffnung auf eine baldige Wiedervereinigung. Albert Norden, der für die Westpolitik im SED-Politbüro verantwortlich war, bedachte denn auch die Einheitsansprüche aus Bonn mit den entsprechenden Worten:
"Die These "DDR kein Ausland für die Bundesrepublik" ist also ein neues Kostüm für die verschärfte Annexionspolitik Bonns gegenüber dem sozialistischen deutschen Friedensstaat. Bei der Umtopfung der giftigen Schlingpflanze ihrer Expansionspolitik haben sie die alte faulige Muttererde des deutschen Imperialismus wieder verwandt."
Aus den Archiven der Gauckbehörde sind Akten aufgetaucht, die belegen, was die Staatssicherheit für den Fall der Wiedervereinigung plante, Pläne, die im Laufe der 80er Jahre ausgearbeitet und immer wieder aktualisiert wurden. Die Einnahme von Westberlin hatte dabei oberste Priorität. Bis ins kleinste Detail wurde die Struktur der "Verwaltung B 2", der Bezirksverwaltung Westberlin der Stasi mit insgesamt 12 Kreisdienststellen von Charlottenburg bis Zehlendorf, strukturiert. Auf über 80 Seiten standen Namen von Mitarbeitern, die zur Planstellenbesetzung vorgesehen waren. Die vorrangigen Aufgaben:
1. Festnahme, Isolation bzw. Internierung der feindlichen Kräfte auf der Grundlage der vorhandenen Dokumente. Zuführung in die festgelegten Zuführungspunkte. (...) Entfaltung eines wirksamen Fahndungssystems. 2. Besetzung und Sicherung der bedeutsamen Zentren des Feindes, darunter Geheimdienstobjekte, Polizeidienststellen, Archive, Wissenschaftszentren, Medien usw.
Ein Szenario, das den Deutschen glücklicherweise erspart geblieben ist. Die Hoffnungen auf einen Dritten Weg, die zwischen dem Fall der Mauer 1989 und der Wiedervereinigung im Oktober 1990 vielerorts in der DRR aufgeblüht waren, wurden allerdings auch nicht erfüllt. Statt dessen wurde die DDR in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 nach Paragraph 23 Grundgesetz Teil der Bundesrepublik, ein Akt, den viele als bloßen Anschluß empfanden. Lothar de Maizière, der erste und einzige frei gewählte Ministerpräsident der DDR, hat das damals freilich nicht so gesehen.
"Wir sind ein Volk, wir werden ein Staat. In wenigen Augenblicken tritt die Deutsche Demokratische Republik der Bundesrepublik Deutschland bei. Damit erreichen wir Deutschen die Einheit in Freiheit. Es ist eine Stunde großer Freude, es ist das Ende mancher Illusionen und es ist ein Abschied ohne Tränen."
Für viele Deutsche erscheint die Wiedervereinigung auch heute, zehn Jahre danach, noch als eine glückliche Fügung der Geschichte, die sich trotz Öffnung der Archive und Erinnerungsbücher der damals beteiligten Akteure nicht vollends entschlüsseln läßt. Es bleiben ja auch, nicht nur für den Historiker Karl-Heinz Roth, noch viele Fragen offen.
"Ich denke an den prophetischen Ausspruch Adenauers, der 1954 in der Sitzung des Forschungsbeirates die Forschergruppe, den Forscherkreis auf ein sehr langen Atem eingeschworen hat. Adenauer hat damals gesagt: Wir können nicht qua göttliches Recht die Wiedervereinigung erzwingen, wir müssen erst im Rahmen des westlichen Bündnisses stark werden, wir müssen eine führende Position im europäischen Einigungsprozeß erreichen, und wir müssen geduldig auf den Augenblick warten, wo die Sowjetunion wankt. Daß die SU wankte, war 1987/88 nicht so klar, aber es wurde dann sehr schnell deutlich 1989/90. Die Gründe, warum die SU in der Situation dann bereit war, mit dem Ausverkauf der DDR ihre eigene Existenz zu ruinieren, denn das ist das Ergebnis dieser Politik, dies sind mir schleierhaft. Das große Problem ist also, warum der Versuch, einer zumindest in vielen Aspekten wichtigen Öffnung und Demokratisierung mit einem derartigen ruinösen Selbstzerstörungsprozess ausgerechnet gegenüber der Bundesrepublik verbunden war. Das sind Fragen, die müssen wir stellen, aber die müssen andere beantworten."