91 Stunden und 45 Minuten, so lang brauchten die Staats- und Regierungschefs der EU im Jahr 2000 bei ihrem Gipfel in Nizza, um einen neuen EU-Vertrag auszuhandeln, der ein weiteres Zusammenwachsen Europas ermöglichte. Nun haben die Staats- und Regierungschefs diesen historischen Rekord fast eingestellt. Die Suche nach einem Kompromiss im Streit um den EU-Haushalt für die kommenden sieben Jahre und ein Rettungsfonds zur Bewältigung der Folgen der Coronakrise ging ebenfalls in den fünften Tag.
Am Ende einigte man sich auf ein Paket, das 1.074 Milliarden Euro für den nächsten siebenjährigen Haushaltsrahmen bis 2027 und 750 Milliarden Euro für ein Konjunktur- und Investitionsprogramm. Damit will sich die Europäische Union gegen den beispiellosen Wirtschaftseinbruch stemmen und den EU-Binnenmarkt zusammenhalten. Dafür werden erstmals im großen Stil im Namen der EU Schulden aufgenommen, das Geld umverteilt und gemeinsam über Jahrzehnte getilgt.
"Kürzungen werden sich langfristig sehr, sehr negativ auswirken"
Markus Ferber zeigte sich im Gespräch mit dem Dlf wenig begeistert von dem Kompromiss. "Es war zwischendrin ein Gefeilsche, das hoffentlich in den Geschichtsbüchern nicht als historisch bezeichnet wird." Der langjährige Chef der CSU-Gruppe im Europaparlament und aktuelle Koordinator der EVP-Fraktion im Ausschuss für Wirtschaft und Währung kritisierte, dass im Haushalt Kürzungen vorgenommen worden seien, "die die sich langfristig sehr, sehr negativ auf Europa auswirken werden". Die Zukunftsfähigkeit der EU werde dadurch beeinträchtigt. Ferber befürchtet auch, dass das Geld, das nun aus dem Haushalt in das Corona-Hilfspaket umgeleitet wurde, beim nächsten Haushalt in sieben Jahren fehlen wird.
Der Kompromiss sei ein Deal, wie ihn Staats- und Regierungschefs machten, um zuhause Erfolge vorweisen zu können. Es sei jetzt Aufgabe des Europäischen Parlaments, das so glatt zu polieren, dass etwas Europäisches dabei rauskomme. Dass man sich beim Corona-Aufbauprogramm lediglich auf Zuschüsse in Höhe 390 Milliarden Euro verständigen konnte, sei "sehr unambitioniert", meinte Ferber. "Wenn wir wirklich helfen wollen, können wir nicht helfen, indem wir mehr Schulden auftürmen, sondern wirklich den betroffenen Staaten Geld zur Verfügung stellen für zukunftsfähige Projekte."
Das Interview in voller Länge:
Dirk-Oliver Heckmann: Herr Ferber, Emmanuel Macron spricht von einem historischen Tag. Sie auch?
Markus Ferber: Ich spreche von einem Tag, wo es gelungen ist, dass jetzt ein Verhandlungsmandat mit dem Europäischen Parlament auf dem Tisch liegt. Historisch mag es für die Staats- und Regierungschefs gewesen sein, weil sie seit Nizza zum ersten Mal wieder vier Tage getagt haben. Aber es war zwischendurch schon ein Gefeilsche, das hoffentlich in den Geschichtsbüchern nicht als historisch bezeichnet wird.
"Das ist keine Zukunftsfähigkeit Europas"
Heckmann: Sie wirken nicht gerade begeistert?
Ferber: Ja! Sie müssen ja sehen, wie der Kompromiss zustande gekommen ist. Auf der einen Seite hat man den regulären Haushalt an sieben Stellen gekürzt, die gerade uns als Parlament wichtig sind, nämlich immer dann, wenn es um Zukunftsfragen geht, wie können wir die Flüchtlingspolitik unterlegen zum Beispiel mit entsprechenden Strukturen bei Frontex, wie können wir in der Forschungspolitik, in der Innovation vorankommen, in der Gesundheitspolitik, wo wir gerade erst erlebt haben, was wir noch alles zu tun haben.
Da hat man die Gelder gekürzt, hat die in den Coronafonds reingepackt, der plötzlich auch für Forschung mit zuständig ist, und verkauft uns das jetzt als ein riesen Paket, das langfristig natürlich katastrophale Auswirkungen hat, weil wir in sieben Jahren ohne Katastrophen-Fonds, ohne Rettungs-Fonds einen gekürzten Haushalt vorfinden, und das ist keine Zukunftsfähigkeit Europas. Und auch den von Ihnen gerade diskutierte Rechtsstaats-Mechanismus, den müssen wir uns sehr genau anschauen, ob das wirklich das ist, was wir uns als Parlament vorgestellt haben.
Heckmann: Dazu kommen wir gleich noch im Einzelnen, Herr Ferber. Ich will es aber noch mal betonen und herausheben: Sie haben gesprochen von katastrophalen Auswirkungen. Also ein katastrophaler Deal?
Ferber: Ja, es ist ein Deal, den Staats- und Regierungschefs treffen, die alle nachhause fahren müssen und sagen müssen: Ich habe mich durchgesetzt, ich habe einen riesen Erfolg für mein Land erzielt. Da sieht der eine noch was, der andere noch was. Frau Merkel hat ja auch noch was rausgeholt für die neuen Bundesländer, zusätzliche Strukturfonds. Der Herr Kurz ist der König der Rabatte. Jeder hat irgendwas gefunden. Aber das ist ja noch nicht ein europäisches Projekt dann, sondern es ist nur ein Sammelsurium von nationalen Egoismen, und es wird jetzt Aufgabe des Europäischen Parlaments sein, das so glatt zu polieren, dass wirklich was Europäisches herauskommt.
Corona-Aufbauprogramm sehr unambitioniert
Heckmann: Dazu kommen wir gleich auch noch mal, welche Einflussmöglichkeiten das Parlament da überhaupt hat. Aber kommen wir noch mal zu den Kernpunkten. Angela Merkel und Emmanuel Macron, auch die EU-Kommission, die hatten ja gefordert ein Aufbauprogramm in Höhe von 750 Milliarden Euro. Das kommt ja auch soweit. Aber sie hatten auch gefordert, 500 Milliarden davon als Zuschuss und den Rest als Kredite. Jetzt sollen die Zuschüsse nur noch 390 Milliarden Euro betragen. Ich habe es mal ausgerechnet. Das ist ein Minus von 22 Prozent, fast ein Viertel weniger von dem, was gefordert war. Eine Niederlage für Merkel und Macron?
Ferber: Ja, gut. Das war klar, dass das eine der Stellschrauben ist, wo man sich annähern kann. Das ist auch ein Themenbereich, den die Mitgliedsstaaten alleine festlegen können. An diesen Zahlen wird sich das Parlament nicht festbeißen. Wenn die Länder, die sich am meisten aus diesem Topf erhoffen, damit leben können, dann sollen sie damit leben. Ich finde es sehr unambitioniert. Wenn wir wirklich helfen wollen, können wir nicht helfen, indem wir mehr Schulden auftürmen, sondern wirklich den betroffenen Staaten Geld zur Verfügung stellen für zukunftsfähige Projekte.
"Solidaritätsgedanke der Europäischen Union wurde lädiert"
Die kontroversen Positionen beim EU-Sondergipfel in Brüssel stellten das Funktionieren der EU infrage. Er vermisse Weitsicht, Risikobereitschaft und Überzeugung, sagte Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn im Dlf. Die Debatte über das Corona-Hilfsprogramm werde von Kleinkrämergeist bestimmt.
Die kontroversen Positionen beim EU-Sondergipfel in Brüssel stellten das Funktionieren der EU infrage. Er vermisse Weitsicht, Risikobereitschaft und Überzeugung, sagte Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn im Dlf. Die Debatte über das Corona-Hilfsprogramm werde von Kleinkrämergeist bestimmt.
Heckmann: Das heißt, 390 Milliarden Euro Zuschüsse, das ist nicht wuchtig genug, um beim Duktus der Kanzlerin zu bleiben?
Ferber: Oder wenn Sie den Bundesfinanzminister nehmen: Das hat nicht so viel Wumms, wie eigentlich notwendig ist. Aber wenn das die Mitgliedsstaaten so haben wollen, sollen sie es haben. Den Bereich können sie alleine festlegen.
Die kleinen EU-Staaten mitzunehmen funktioniert nicht mehr richtig
Heckmann: Bisher, Herr Ferber, war es ja immer so: Wenn Deutschland und Frankreich sich einig waren, dann konnten sie viel durchsetzen. Jetzt haben sich Österreich, die Niederlande, Schweden, Dänemark, zuletzt auch Finnland zu den sparsamen Vier, den sparsamen Fünf zusammengeschlossen. Zeigt das, die Achse Berlin-Paris funktioniert zwar wieder, aber hat nicht mehr diese Durchschlagskraft?
Ferber: Wissen Sie, von Helmut Kohl habe ich in meinen jungen Jahren als Politiker mal gelernt: "Man muss in Europa immer auch die Kleinen mitnehmen." Es reicht nicht, wenn sich kurz vor einem Gipfel Deutschland und Frankreich verständigen. Das ist notwendig, das ist der Motor. Aber der Motor funktioniert nicht, wenn viele, viele kleine Bauteile nicht mitspielen. Dieses "die Kleinen mitnehmen", oder es sind ja hier mittelgroße Staaten, das funktioniert nicht mehr so richtig in dieser sehr heterogenen Europäischen Union, die wir ja geworden sind. Das hat sich auch neulich schon bei der Wahl der Eurogruppe herausgestellt. Da haben die Kleinen durchaus was zum Mitreden. Der Vertrag ist auch so konstruiert, dass die Kleinen die Großen überstimmen können, und das haben sie jetzt an verschiedenen Stellen schon mal bewiesen. Diese sparsamen Vier, die dann fünf wurden, haben das ja auch auf die Waagschale geworfen.
Heckmann: Das Europäische Parlament selbst, auch viele EU-Länder haben ja zu Beginn der Verhandlungen immer wieder darauf gepocht, dass die Auszahlung der Gelder an Rechtsstaatlichkeit gekoppelt werden soll. Jetzt haben wir den Wortlaut der Erklärung noch nicht vorliegen, aber Ihrer Information nach: Was ist denn davon übriggeblieben? Die Interpretationen gehen ja doch sehr auseinander. Viktor Orbán aus Ungarn beispielsweise spricht von einem Sieg.
Ferber: Ich habe das gleiche Problem wie Sie. Die Formulierung müssen wir uns erst mal in Ruhe anschauen.
Heckmann: Ist ja auch ganz frisch.
Ferber: Ich bin erst mal zufrieden, dass überhaupt was vereinbart wurde. Unsere große Sorge im Parlament war, dass man das am Ende opfert, nur um eine Einigung zu erzielen. Das hat nicht stattgefunden. Aber auch hier, sage ich mal nicht ganz unstolz, kam die Lösung aus einem kleinen Mitgliedsland, noch dazu aus einem, aus Lettland, wo der Ministerpräsident ein früherer Europaabgeordneter ist. Das zeigt, ganz ohne Europaparlament kriegen Sie auch die Großen bei den Staats- und Regierungschefs nicht ins Boot.
EU-Parlament wird nicht pauschal nein sagen
Heckmann: Herr Ferber, Ungarn hatte ja gefordert, dass das Rechtsstaatsverfahren, das gegen das Land eingeleitet worden ist, beendet wird – als Preis für einen Kompromiss. Ist das jetzt am Ende der Preis?
Ferber: Nein, nach meinen Informationen nicht, sondern Ungarn hat zugesagt, konstruktiv beim Artikel-sieben-Verfahren mitzuarbeiten. Das wäre schon mal ganz was Neues; das hat bisher Ungarn nicht gemacht.
Heckmann: Das werden wir weiter nachschauen müssen in den nächsten Stunden, was da genau zum Thema Rechtsstaatlichkeit in dem Kompromiss drinsteht. - Der Präsident des EU-Parlaments, David Sassoli, der hat gesagt, die Bürgerinnen und Bürger Europas erwarten eine Einigung, die diesem historischen Moment gerecht wird, und wenn die Bedingungen des Parlaments nicht ausreichend erfüllt seien, dann werde es seine Zustimmung nicht erteilen. Was ist denn Ihre Prognose am Ende? Sie haben gerade schon gesagt, das Parlament ist jetzt mit am Zug. Wird es am Ende eine Zustimmung des Parlaments geben?
Ferber: Ich gehe davon aus. Wir werden wahrscheinlich uns diese Woche noch treffen als Parlament zu einer Sondersitzung. So war jedenfalls die Planung. Spätestens nächste Woche, wenn die Texte vorliegen. Wir werden es genau prüfen und ich gehe davon aus, dass wir weder ablehnen, noch zustimmen, sondern dass wir dann sagen: Jetzt können wir auf der Grundlage dieses Beschlusses der Staats- und Regierungschefs in seriöse Verhandlungen eintreten. Bisher hatten wir ja nur Vorschläge der Kommission und des Ratspräsidenten Michel. Am Ende wird noch was Anderes rauskommen, als die Staats- und Regierungschefs vorgelegt haben. Wir werden jetzt nicht einfach pauschal Nein sagen, sondern in seriöse Verhandlungen eintreten, und das ist der vernünftige Weg.
Kein Geld für die Zukunft übriggeblieben
Heckmann: Was ist da der wichtigste Punkt? Was müsste noch geändert werden?
Ferber: Für uns ist natürlich wichtig, was im mehrjährigen Finanzrahmen steht. Bei aller Diskussion über dieses Rettungspaket ist der normale Haushalt ja etwas ins Abseits getreten. Und wie ich schon eingangs gesagt habe: Da sind eine Reihe von Kürzungen vorgenommen worden, die sich langfristig sehr, sehr negativ auf Europa auswirken werden. Am Ende ist wieder für die sogenannten traditionellen Dinge, Landwirtschaft, Strukturpolitik, das Geld ausgegeben, für die Zukunft ist nichts übriggeblieben, und das ist für uns natürlich schon ein Kriterium, das jetzt in Nachverhandlungen noch geglättet werden muss.
Heckmann: Und Sie glauben wirklich, dass man dieses Paket noch mal aufschnüren kann, nach diesen Marathon-Verhandlungen?
Ferber: Ich denke, dass man schon noch ein bisschen was machen kann, weil ohne die Zustimmung des Parlaments tritt das Ganze nicht in Kraft.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.