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Einladung zum Wahlbetrug?
Ungarn reformiert das Wohnsitzgesetz

Im Frühjahr wird in Ungarn ein neues Parlament gewählt. Kurz vorher tritt ein reformiertes Wohnsitzgesetz in Kraft. Die Opposition, die so geeint ist wie seit vielen Jahren nicht mehr, fürchtet massiven Wahlbetrug und verweist auf die Vergangenheit.

Von Stephan Ozsváth | 22.11.2021
Reisepässe
Zwei Millionen Ungarn aus den Anrainerstaaten bekamen von Premier Viktor Orbán nicht nur die doppelte Staatsbürgerschaft, sondern auch das Wahlrecht (imago images/ Shotshop)
Parlamentswahl 2018 im Osten Ungarns. Die Einwohner von Kispalád echauffieren sich über Wahltouristen aus der Ukraine. Unverblümt sagt einer der ungarisch-stämmigen Wähler aus dem Nachbarland:
"Ihr wisst doch, wie es läuft: Der gewinnt, der am meisten bezahlt", beschreibt er den Stimmenkauf gegenüber RTL Klub.
Seit einem Vierteljahrhundert gewinnt in dem kleinen Grenzdorf die Regierungspartei Fidesz von Premier Orbán. Erst die Mutter Magyar, jetzt ist der Sohn Barnabás Bürgermeister. Erzsébet Berki gehört zu den Alteingesessenen in Kispalád und schimpft auf die Wahltouristen.
"Die kriegen Geld, na klar kommen sie. Geben Sie mir auch 100 Euro, da würde ich auch gehen", schimpft sie in die Kamera von RTL Klub. "Sie machen ein Foto vom Wahlzettel, fertig, und niemand hat's gesehen."

Umworbene Auslandsungarn

Etwa zwei Millionen Ungarn leben in den Anrainerstaaten: in der Ukraine, in Rumänien, in Serbien, in der Slowakei. Sie wurden nach dem Ersten Weltkrieg vom Mutterland getrennt – als Ungarn zwei Drittel seines Territoriums verlor. Premier Viktor Orbán gab ihnen nicht nur die doppelte Staatsbürgerschaft, sondern auch das Wahlrecht, ein wichtiger Wählerpool, meint Zsófia Banuta von der Nichtregierungsorganisation Unhack Democracy.
"Die ungarische Minderheit in Siebenbürgen, der Ukraine, in Serbien verdankt der ungarischen Regierungspartei sehr viel, denn sie bekommt sehr viel Geld von ihr, und Fidesz gab ihnen die Staatsbürgerschaft. Ich verstehe, dass ihr Herz sie zu Fidesz zieht. Aber wie redlich ist es, wenn sie über das Schicksal der Ungarn in den jeweiligen Wahlkreisen entscheiden, wo sie gar nicht abstimmen dürften, wenn sie nicht dort gemeldet wären. Der Wahlanreiz für die Auslandsungarn war klar Teil der Fidesz-Strategie."
Nicht nur mit Bussen wurden 2018 die Wähler aus der Ukraine über die Grenze gekarrt, haben Unhack Democracy und unabhängige Medien dokumentiert. In Kispalád waren auch zahlreiche Auslandsungarn aus dem Nachbarland als Geistereinwohner gemeldet. Etwa bei Frau Sankó, erzählte sie RTL Klub.
"Ich bin ins Rathaus gegangen, da haben sie gesagt, ich soll die Anmeldung für die mit doppelter Staatsbürgerschaft unterschreiben. Dafür versprach mir die Bürgermeisterin unbefristete gemeinnützige Arbeit."
Sie zeigt der RTL-Klub-Reporterin zahlreiche Meldezettel. Die Gegend ist arm, Roma wie Frau Sankó sind auf die nicht mal 300 Euro für die gemeinnützige Arbeit angewiesen. Die Auslandsungarn profitieren auch: ungarische Rente, Bahnfahrten – günstig oder umsonst, sie können in Ungarn zum Arzt. Das macht böses Blut bei den Einheimischen.
"Die haben hier noch nicht mal eine Schaufel Erde bewegt", schimpft diese alte Romnja. "Aber die Rente kriegen sie von hier."  

Einladung zum Wahlbetrug?

In Kispalád verdoppelte sich die Einwohnerzahl durch die Geisterbürger aus der Ukraine von über 500 auf über 1.000. Unhack Democracy hat zahlreiche Unregelmäßigkeiten dokumentiert: Stimmenkauf, Einschüchterungen, Tricksereien – zusammen genommen rechnet Zsófia Banuta den Machtgewinn vor:

"Ohne den Betrug hätte es 2018 keine Zweidrittelmehrheit gegeben, glauben wir."

Die Regierung bestreitet alle Vorwürfe. Die Kleinen – also Frau Sankó und andere, die ihre Adressen für den Betrug hergaben, wurden bestraft. Heute wäre das legal. Gerade erst hat die Regierung Orbán das entsprechende Meldegesetz geändert. Die Opposition und auch die unabhängigen Bürgerrechtler von TASZ und der Think Tank Political Capital befürchten nun Wahlbetrug im großen Stil.