Von Manhattan geht's in Richtung Osten, nach Long Island, die "lange Insel". Erst die Suburbs von New York, dann immer dichtere Wälder. Nach rechts zweigen die Straßen zum offenen Atlantik ab. Links die Nordküste mit lauter Wochenendhäuschen und einem Strand, der an die Ostsee denken lässt.
Schließlich kündigt das Schild auf dem Highway die richtige Ausfahrt an: Brookhaven National Laboratory.
Das Brookhaven National Laboratory ist eines der großen Forschungsinstitute der USA. 3.000 Menschen arbeiten hier, außerdem kommen 4.000 Gastforscher im Jahr. Gegründet wurde Brookhaven 1947, um die friedliche Nutzung der Kernenergie auszuloten. Doch mittlerweile sind die Forschungsreaktoren abgeschaltet. Heute arbeiten hier Wissenschaftler aller Richtungen: Mediziner, Chemiker, Materialforscher, Biologen, Physiker, Umweltforscher. Also ein wirklich interessanter Ort zum Arbeiten.
Pressesprecherin Karen McNulty Walsh zeigt auf die beiden auffälligsten Gebäudekomplexe: die stillgelegten Forschungsreaktoren. Ansonsten viel Rasen und Wald - und Hunderte von Bürobaracken, Betonhallen und Gästehäusern, wie zufällig übers Gelände verstreut.
Das Gelände ist mehr als 20 Quadratkilometer groß. Wir haben unser eigenes Postamt, unsere eigene Polizei, unsere eigene Feuerwehr. In vielerlei Hinsicht ist das hier eine Kleinstadt für sich.
Wir fahren zum Prunkstück von Brookhaven. RHIC, so heißt es. Relativistic Heavy Ion Collider, wörtlich übersetzt: Relativistischer Schwerionen-Beschleuniger. RHIC ist ein Teilchenbeschleuniger, eine kreisrunde Riesenmaschine, 600 Millionen Euro teuer. Mit seinem Umfang von vier Kilometern zählt er zu den größten Teilchenschleudern der Welt.
Wir fahren durch ein Pinienwäldchen und landen auf einer Ringstraße.
Diese Ringstraße ist knapp vier Kilometer lang und verläuft im Inneren eines Walls. Im Wall ist ein Betontunnel, und darin steckt der Beschleuniger. An einigen Stellen des Rings sehen Sie Laborgebäude, wie das da vorne. Das sind die Stellen, an denen die Kollisionen passieren.
Nun kommen wir zu ... ich muss mal sehen, wo wir überhaupt sind. Man verliert hier schon mal die Orientierung beim Herumfahren.
Schließlich halten wir vor einem der Gebäude. "Star" steht auf dem Schild. Wir werden schon erwartet.
Mein Name ist Dr. Gene van Buren. Ich arbeite hier in Brookhaven in der Physikabteilung, bei einem Detektor namens Star.
Gene van Buren führt uns in die unwirtliche Halle. Kräne, Schienen, Betonblöcke, Lüftungsanlagen, kompliziert verkabelte Elektronikschränke.
Vor 25 Jahren sollte hier eigentlich ein anderer Beschleuniger gebaut werden. ISABEL hieß er. Der Tunnel für ihn war schon fertig. Doch dann wurde das Projekt eingestellt, wegen technischer Probleme. Danach überlegte man, ob sich der Tunnel nicht für ein anderes Projekt nutzen ließe. 1990 gab es dann grünes Licht für RHIC. Und um ihn zu bauen, brauchte es noch einmal zehn Jahre.
2001 wurde RHIC eingeschaltet. Seitdem beschleunigt er die Kerne von Goldatomen und feuert sie frontal aufeinander. Ein paar Meter von uns entfernt, im Inneren des Star-Detektors, prallen die Kerne mit voller Wucht zusammen. Star beobachtet, was dabei passiert - eine Superkamera für Teilchenkollisionen
Zurzeit steht der Detektor nebenan in der Experimentierhalle, er ist gerade in Betrieb. Man kann ihn nicht sehen, er steht hinter den mächtigen Betonblöcken da vorn. Die Böcke schirmen die radioaktive Strahlung ab, die bei den Teilchenkollisionen entsteht. Der Detektor ist riesig, gespickt mit Tausenden von Sensoren. Er ist drei Stockwerke hoch und wiegt mehr als 1000 Tonnen. Es dauert acht Stunden, um ihn aus der Experimentierhalle hierher zu fahren.
Wir gehen weiter, in den Kontrollraum von Star. Wissenschaftler sitzen hochkonzentriert vor Bildschirmen und überwachen den Detektor. Hier, im Kontrollraum, erklärt mir Gene van Buren, was er und seine Physikerkollegen eigentlich bezwecken: Sie wollen mit RHIC einen Materiezustand erzeugen, wie es ihn zuletzt kurz nach dem Urknall gegeben hat.
Im Alltag haben Sie zum Beispiel Wasser. Normalerweise ist Wasser flüssig, aber wenn es kocht, wird es zu Wasserdampf. Wir Physiker sprechen von einem Phasenübergang von Wasser zu Dampf. Was ist der Unterschied zwischen den beiden Phasen? Nun: Im Wasser bewegen sich die Moleküle, bleiben aber aneinander kleben. Im Dampf haben die Moleküle soviel Energie, dass sie nicht mehr aneinander kleben, sondern frei herumfliegen. Im Prinzip machen wir dasselbe - aber nicht mit Wasser, sondern mit Atomkernen!
Atomkerne, erzählt van Buren, setzen sich aus Kernbausteinen zusammen, aus Protonen und Neutronen. Und: Protonen und Neutronen bestehen aus noch kleineren Teilchen - den Quarks. Zusammengehalten werden diese Quarks durch eine enorm starke Kraft, Kernkraft genannt. Diese Kernmaterie, diese Klümpchen aus Protonen und Neutronen, wollen die Physiker mit RHIC zu einer Art Ursuppe verkochen. Wenn man so will zu einem Dampf bestehend aus Quarks - und aus Gluonen. Gluonen sind so etwas wie Klebeteilchen. Sie halten die Quarks im Atomkern zusammen.
Mit Wasser ist das ziemlich einfach. Man stellt es in einem Topf auf den Herd, und wenn es heiß genug ist, dann passiert der Phasenübergang und das Wasser verdampft. Mit Kernmaterie ist das ungleich schwerer. Da müssen wir schon zu roher Gewalt greifen: Wir nehmen zwei Klumpen aus Kernmaterie, machen sie sehr, sehr schnell und ballern sie mit voller Wucht aufeinander.
Mit enormem Schwung donnern die Goldkerne zusammen - und entzünden sich zu einem mikroskopisch kleinen Feuerball. Dieser Feuerball ist dermaßen heiß, dass sämtliche Protonen und Neutronen verdampfen und sich in ihre Bestandteile auflösen, in Quarks. Diese Quarks fliegen - wie die Moleküle im Wasserdampf - frei umher. Quark-Gluon-Plasma, so heißt dieser irrwitzige, höllenartige Materiezustand. Das Faszinierende:
Das frühe Universum war extrem heiß und klein. Dann dehnte es sich rasch aus und wurde immer kälter. Doch ganz am Anfang, da muss es ein Quark-Gluon-Plasma gewesen sein - eine extrem heiße Ursuppe, in der die Quarks frei umherschwirren konnten. Und wie sich das Weltall in dieser frühsten Kindheitsphase entwickelte, das wollen wir mit RHIC simulieren. Und wenn wir hier ein künstliches Plasma herstellen, haben wir damit die Bedingungen rekonstruiert, die zu Beginn des Universums geherrscht haben.
Bis auf ein paar Mikrosekunden, ein paar Millionstel Sekunden, tastet sich RHIC an den Urknall heran, erzählt Gene van Buren. Das Problem: Die kosmische Ursuppe wird in keinem Topf gekocht, sondern als winziger Feuerball im Vakuum, im luftleeren Raum. Das bedeutet: Nichts hält den Feuerball zusammen. Kaum ist er entstanden, zerplatzt er auch schon wieder.
Das Plasma dürfte ungefähr eine Tausendstel Milliardstel Milliardstel Sekunde bestehen. Das sind 10 hoch -21 Sekunden. Das ist viel zu kurz, um es direkt beobachten zu können.
Also bleibt den Physikern nichts anderes übrig, als die Überreste des Plasmas aufzusammeln: Hunderte und Tausende von Teilchen, die nach Zerplatzen des Feuerballs wie Granatsplitter auseinander stieben.
Dieses Zeug, was da rausgeflogen kommt, kann unser Detektor sehen. Indem wir möglichst viele Bruchteile auffangen, versuchen wir zu rekonstruieren, was genau bei der Kollision passiert ist. Es ist so ähnlich, als würde man die Überreste eines explodierten Chinaböllers aufsammeln und versuchen zu rekonstruieren, was das genau für eine Art von Knaller war, der da explodiert ist.
An der Wand des Kontrollraums hängt ein großer Flachbildschirm. Er zeigt eine liegende Dose, ein Schema des Detektors. Alle zwei Sekunden explodiert darin ein farbiges Muster - ein buntes Feuerwerk aus Hunderten und Tausenden von Teilchenspuren, die Star gerade registriert hat. Im Computer laufen die Daten zusammen, alle fünfzehn Sekunden der Speicherinhalt einer CD. Diesen Datenwust durchforsten die Forscher nach Indizien - nach Anzeichen dafür, dass in ihrem Detektor tatsächlich die kosmische Ursuppe entstanden ist, das Quark-Gluon-Plasma.
Mittagszeit in Brookhaven. Die Berkner Hall ist ein postmoderner, ziemlich asymmetrischer Betonbau. Hier sind Kantine und Hörsaal untergebracht. Im Saal spielt eine Folkband aus Kanada.
Musik: Fiedel
Das Brookhaven National Laboratory liegt ziemlich weit weg vom Schuss. Der nächste größere Ort ist eine halbe Stunde entfernt, ohne Auto ist man aufgeschmissen. Also versucht das Zentrum, seinen Angestellten und Gästen etwas zu bieten: Ausstellungen, Vorträge, Sportmöglichkeiten - und regelmäßige Konzerte am Mittwoch Mittag.
Musik: Fiedel (ausblenden)
Nach dem musikalischen Mittagshappen treffe ich Angelika Drees und Wolfram Fischer, zwei Deutsche. Seit Mitte der Neunziger arbeiten sie hier in Brookhaven. Die beiden haben RHIC, den Riesenbeschleuniger, mit gebaut. Nun, seit die Maschine läuft, versuchen sie das Optimum aus ihr herauszukitzeln.
Gemeinsam gehen wir zum Hauptkontrollraum von RHIC. Ein wenig fühle ich mich wie auf der Brücke eines Raumschiffs.
Das ist der Knotenpunkt würde ich sagen von der Steuerung von mehreren Beschleunigern. Der Raum hat keine Fenster, nur künstliches Licht, zwei Wohnzimmer groß in etwa. Im Wesentlichen sieht man hier ganz, ganz viele Computerbildschirme. Die sind in mehreren Reihen übereinander angeordnet und formen so etwas wie einen Kreis um uns herum. Der hat natürlich mehrere Durchgänge, dass man hier rein und raus kommt. Wir werden hier nicht ständig gehalten oder so was.
Eine Kette von Vorbeschleunigern speist die Goldkerne in RHIC ein, erzählt Angelika Drees. Dort kreisen die Teilchen - zu Schwärmen gebündelt - in einer luftleer gepumpten Röhre. Wuchtige Magneten halten die Kerne auf ihrer Bahn, starke Mikrowellen beschleunigen sie. Die Röhre ist vier Kilometer lang und kaum dicker als ein Arm. Genau genommen sind es zwei Röhren: In der einen kreisen Goldkerne im Uhrzeigersinn, in der anderen in die Gegenrichtung. An einigen Stellen treffen sich die Röhren, und zwei Teilchenschwärme fliegen frontal aufeinander zu.
Wir haben 45 von diesen Schwärmen in jedem Ring. Die sind so 1,5 Meter lang und haben eine Milliarde Teilchen. Und wenn ein Schwarm einen anderen Schwarm trifft, dann besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass ein Goldion in einem von diesen Schwärmen ein Goldion in dem anderen trifft. Und dann hat man ein Ereignis, was die Experimente gern beobachten.
Wenn man so will, meint Wolfram Fischer, ist RHIC eine Art Zeitmaschine.
Wenn man diese Goldteilchen miteinander kollidieren lässt, erzeugt man eine Materieform, die das letzte Mal wahrscheinlich existiert hat, als das Universum begann, vor 14 Milliarden Jahren. Das ist jetzt die erste Möglichkeit, das im Labor wieder zu studieren.
Alle vier Stunden muss der Ring mit neuen Goldkernen gefüllt werden. Gleich ist es soweit. Gebannt hocken die Physiker vor den Bildschirmen. Sie müssen Dutzende von Anzeigen im Auge behalten. Zahlenkolonnen, die über Magnetströme Auskunft geben, über Vakuumwerte und den Zustand des Teilchenstrahls.
Doch dann: Hektik, Diskussionen, ratlose Minen.
Es gibt irgendein Problem. Troubleshooting nennt man das auf gut deutsch. "
Aus irgendeinem Grund schaffen es die Goldteilchen nicht in den Beschleuniger. Um den Fehler aufzuspüren, schicken Drees und Fischer ein Außenteam los. Kleine Pannen wie diese sind zwar an der Tagesordnung. Doch alles in allem, meint Angelika Drees, funktioniert RHIC besser als geplant.
Wir haben die Erwartungen übererfüllt. D.h. wir laufen jetzt besser als die ursprünglichen Erwartungen waren. Und natürlich hoffen wir, dass wir noch besser werden können. Die Experimente wollen immer noch mehr von diesen Ereignissen, sprich Kollisionen von Goldteilchen.
Per Funk erstattet das Außenteam Meldung: Eine Elektronikkarte war kaputt gegangen und musste ausgetauscht werden. Jetzt kann's endlich weitergehen. Nach und nach wird der Ring mit Goldkernen gefüllt.
Jeder Impuls signalisiert: Wieder ist einer der 45 Goldschwärme im Ring angekommen. Die Experimente können weitermachen. Erleichtert lehnt sich Angelika Drees zurück.
Ich persönlich mag das. Während wir laufen, dreht sich alles um den Beschleuniger. Das ist sozusagen der Pulsschlag des Lebens. Den vermisst man auch so ein bisschen, wenn die Schichten und der Betrieb aufhören.
Sechs Monate im Jahr ist RHIC eingeschaltet. Die restliche Zeit steht er still, wird repariert und gewartet. Jetzt aber läuft die Maschine auf Hochtouren, 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche. Wolfram Fischer und Angelika Drees sind praktisch immer im Dienst. Für ständige Erreichbarkeit sorgen Handy und Pager.
Haben wir immer dabei, hier. Die nehme ich sogar mit ins Bett. Die Maschine läuft eben bloß eine begrenzte Zeit im Jahr. Und jede Minute ist kostbar. Da muss man halt am Ball bleiben.
Am nächsten Morgen fahren wir wieder zur Ringstraße von RHIC - und scheuchen ein paar Kanadagänse auf, von denen es hier nur so wimmelt. Diesmal steuern wir nicht Star an, sondern eine andere Halle - die von Phenix. So heißt der zweite große Detektor, der in Brookhaven nach der kosmischen Ursuppe fahndet.
Auch hier gibt's einen Kontrollraum. Die Physiker, die gerade Dienst schieben, lassen sich per Videokonferenz einen Workshop übertragen, der just im Hauptgebäude stattfindet. Dann kommt einer der Forscher auf uns zu.
Thomas K. Hemmick, Professor of Physics, State University of New York at Stony Brook.
Thomas Hemmick ist einer der insgesamt 1500 Physiker, die mit dem RHIC-Beschleuniger nach der kosmischen Ursuppe suchen. Hemmick führt mich nach nebenan, in einen Besprechungsraum, nimmt Platz, und erklärt mir, was ihn an der ganzen Sache so fasziniert.
Ziel unserer Forschung ist, die höchsten Temperaturen und Dichten zu erzeugen, die je ein Mensch beobachtet hat. Wir versuchen, mehr als eine Billion Grad zu erreichen. Also eine wirklich hohe Temperatur.
Wir nehmen Materie, beschleunigen sie sehr stark und lassen sie aufeinander prallen. Dabei sollte die enorme Bewegungsenergie, die in den Teilchen steckt, umgewandelt werden in Hitze, in Temperatur. Und bei diesen extremen Temperaturen bildet sich dann hoffentlich dieser neue Zustand der Materie.
Wir wiederholen damit die Entwicklung des Weltalls zu einem sehr frühen Zeitpunkt. Indem wir die Goldkerne aufeinander schießen, erzeugen wir so etwas wie die Ursuppe des Kosmos. Dieses Plasma entwickelt sich bei uns im Labor dann genauso wie das frühe Universum vor Milliarden Jahren. Man könnte jede Kollision in unserem Beschleuniger also als Little Bang bezeichnen, im Gegensatz zum Urknall, zum Big Bang.
Die entscheidende Frage lautet: Wie lässt sich das Plasma beobachten? Wie können die Forscher beweisen, dass sie tatsächlich die kosmische Ursuppe in ihrem Beschleuniger nachgekocht haben? Denn kaum ist das Plasma beim Zusammenprall der Goldkerne entstanden, zersetzt es sich gleich wieder. Tom Hemmick und seine Leute können es nicht in flagranti erwischen, sondern müssen mühsam seine Überreste auflesen. Es ist ein langatmiger, ein komplizierter Indizienbeweis.
Nehmen wir an, Sie lebten in einem durch und durch trockenen Klima, und jemand erzählt Ihnen, dass es irgendwo anders so etwas wie Schlamm gibt. Sie entschließen sich, diesen Gerüchten nachzugehen, und schicken zwei Gruppen von Reitern in verschiedene Richtungen. Die eine Gruppe kommt nach einiger Zeit wieder geschlossen zurück. Von der anderen Gruppe aber kommt nur ein Teil zurück. Der Rest muss - so jedenfalls schließen Sie - im Schlamm stecken geblieben sein. Sie ziehen also Ihre Schlüsse, indem Sie die Reiter beobachten und nicht den Schlamm.
Der Schlamm, das ist das Quark-Gluon-Plasma, die kosmische Ursuppe. Die Reiter sind die Teilchen, die nach dem Zerplatzen des Plasmas in allen Richtungen davonfliegen und vom Detektor aufgefangen werden.
Sollte sich tatsächlich ein Quark-Gluon-Plasma gebildet haben, dann ist es so heiß, dass bestimmte Teilchen quasi in ihm stecken bleiben und aufschmelzen. In diesem Fall sollte man also erwarten, dass unsere Detektoren deutlich weniger von diesen Teilchen finden. Und genau das haben wir festgestellt. Wir haben fünf Mal weniger von diesen Teilchen gemessen als ohne Plasma.
Die Forscher werten das als ein Indiz dafür, dass ihnen gelungen ist, ein Quark-Gluon-Plasma im Labor zu erzeugen. Und sie sehen noch weitere Hinweise für diesen Durchbruch. So haben die Physiker die Energie sämtlicher Teilchen zusammengezählt, die beim Zerplatzen eines Feuerballs herausfliegen. Dadurch können sie abschätzen, ob der Feuerball überhaupt heiß genug war, um zu einer Ursuppe zu verkochen. Das Ergebnis: Im Inneren des Feuerballs muss es deutlich heißer gewesen sein als eine Billion Grad. Und das müsste eigentlich reichen. Ein weiterer Hinweis: Die Forscher haben beobachtet, dass ihre Detektoren relativ viele Strange-Quarks aufspürten. Das sind exotische Partikel, die bei normalen Kollisionen nur sporadisch auftauchen, in einem Plasma aber verstärkt erzeugt werden sollten.
Und dann stelle ich die entscheidende Frage: Hand aufs Herz, Mr. Hemmick: Genügen die Indizien, um die kosmische Ursuppe nun endlich dingfest zu machen?
Bei einem Zivilprozess würde die Indizienlage ausreichen, um den Angeklagten zu verurteilen. Und wenn ich eine Wette abgeben müsste, würde ich sagen, dass es wahrscheinlicher ist, dass wir das Plasma erzeugt haben als dass wir es nicht erzeugt haben. In der Wissenschaft aber sollten alle begründeten Zweifel ausgeräumt sein. Und noch gibt es begründete Zweifel. Noch fehlen uns die letzten Puzzlestücke.
Es ist im Wesentlichen ein Indiz, das den Forschern noch fehlt.
Eine heiße Herdplatte glüht rot. Ihre Hitze reicht gerade aus, um rotes Licht zu erzeugen. Für Blau reicht es nicht. Die Sonne dagegen ist wesentlich heißer, sie kann weißes Licht erzeugen. Wir können also von der Farbe des Lichtes auf die Temperatur schließen. Ein Quark-Gluon-Plasma, das ja extrem heiß ist, sollte also extrem energiereiche Strahlung aussenden. Würde man diese Strahlung nachweisen, wäre das Bild in meinen Augen komplett. Und vielleicht haben wir bald genug Messdaten, um diese letzte Frage zu beantworten.
Nach dem Mittagessen in der Berkner Hall verabschiede ich mich von Brookhaven - von Teilchenbeschleunigern und Riesendetektoren, von Fiedel-Bands und Kanadagänsen. In Deutschland wartet schon der nächste Experte in Sachen Ursuppe.
Wir haben mit diesen Experimenten die Temperatur des Weltalls beim Zeitpunkt fünf Mikrosekunden gemessen. Punkt.
Auch der Frankfurter Physikprofessor Reinhard Stock hat mit seinem Team versucht, ein Quark-Gluon-Plasma zu erzeugen. In den neunziger Jahren war das, am Europäischen Teilchenforschungszentrum CERN in Genf - mit einem Beschleuniger, der deutlich schwächer ist als RHIC. Und ebenso wie seine US-Kollegen musste auch Reinhard Stock einen Indizienbeweis anführen.
Man kann kein Quark-Gluon-Plasma, so wie man andere Materie auf den Tisch legen kann, dem Skeptiker demonstrieren und sagen: Hier siehst du es, das ist es, es ist entdeckt. Es geht nicht, weil man ein Quark-Gluon-Plasma nicht sehen kann. Sondern man muss es durch eine Menge von Indizien beweisen. Sie wissen, dass man in einem Indizienprozess auch Leute verurteilt, obwohl man die Tat nicht gesehen hat. Es muss ein Motiv vorhanden sein, eine Waffe, kein Alibi, usw. Eine ganze Menge von notwendigen Kriterien, die dazugehören, dass man den Mann für den Täter halten kann. Und dann verurteilt man ihn, fertig. Und zwar ohne zu zögern. Und so handeln wir Naturwissenschaftler auch. Wenn wir genügend viele positive Kriterien für die Existenz eines hypothetischen Objekts gefunden haben, dann nehmen wir es als existierend an.
Mein Freund und ich machen bei dem Quark-Gluon-Plasma immer diesen blöden Witz: Es sieht aus wie ein Hund, es fühlt sich an wie ein Hund, es stinkt wie ein Hund, es frisst wie ein Hund - vielleicht ist es auch wirklich ein Hund!
Februar 2000. Stock und seine Leute sind sich ihrer Sache sicher. Die Indizien reichen, um die Entdeckung der kosmischen Ursuppe zu verkünden, so meinen sie. Es folgen Pressemeldungen, Interviews, Agenturberichte. In den USA kommt das gar nicht gut an.
Es gab Reaktionen völlig unter der Gürtellinie, wie das leider im Naturwissenschaftler-Wettbewerb andauernd vorkommt. Also dass einfach blanke Scheiße geredet wird über den anderen. In einem Interview haben Kollegen von uns zur Los Angeles Times so was gesagt wie: ‚Die verstehen weder was davon, noch verstehen sie, was sie sagen, noch verstehen sie, was sie sehen. Das sind einfach Esel'.
Damals waren die Amerikaner gerade dabei, ihren RHIC-Beschleuniger einzuschalten, extra gebaut für die Entdeckung der kosmischen Ursuppe. Und da sollten ihnen ein paar Europäer die Show stehlen?
Meine Kollegen, das sind zum Teil meine besten Freunde, die ich dann frage: Wie konntet Ihr solch einen Dreckzeug über uns sagen? Die sagen: ‚Um Gottes Willen, das haben wir natürlich nie gesagt! Das haben die Journalisten völlig auf den Kopf gestellt!'
Das glaube ich nicht. Natürlich haben die das irgendwie so gesagt. Und da wird dann eine Amerika-hurra-Geschichte daraus. Die wirkliche Physik kommt dann natürlich aus Amerika.
Wissenschaftspolitisch sind die Amerikaner so, wie sie politisch sind. Sie sind dann in erster Linie nicht faire Scholaren und Kollegen, sondern sie verwandeln sich auf einmal in Tiere. My home, my country!
In den USA, in Brookhaven, sieht man das natürlich anders. Gene van Buren jedenfalls hatte sich ziemlich reserviert gezeigt, als ich ihn nach den Ergebnissen vom CERN gefragt hatte.
Das ist eine höchst umstrittene Sache. Manche Indizien am CERN sprachen für ein Quark-Gluon-Plasma, andere sprachen dagegen. Hier bei RHIC haben wir heute mehr positive Indizien als damals am CERN, aber dennoch sind wir uns nicht sicher. Die Leute, die vor einigen Jahren die Entdeckung am CERN verkündeten, waren der Meinung, genügend Indizien zu haben. Den Beweis aber denke ich sind sie schuldig geblieben. Und heute sind sich fast alle Fachleute einig, dass es damals keine überzeugenden Beweise gab.
Wir haben daraus gelernt. Diese übereilte Ankündigung hat uns Fachleuten bewusst gemacht, dass wir unserer Sache lieber hundertprozentig sicher sein sollten, bevor wir eine Entdeckung verkünden.
Hinter dem Gerangel steckt wohl auch das Streben nach den höchsten Forscherlorbeeren: Die Entdeckung des Quark-Gluon-Plasmas könnte durchaus einen Physiknobelpreis wert sein. Kurz gesagt gestaltet sich die Situation heute so: Fünf Indizien sind es, die den meisten Experten als Beweis für das Plasma reichen würden. Drei der fünf Indizien hat das CERN gesammelt. RHIC in Brookhaven hat noch ein viertes Indiz hinzugefügt - und zwar die Beobachtung, dass bestimmte Teilchen von der heißen Ursuppe verschluckt werden. Das sieht auch Reinhard Stock so.
Brookhaven war da wirklich ein ungeheurer Fortschritt. Von mir werden Sie nicht so einen Quatsch hören, wie dass die Kollegen da nicht wüssten, was sie tun.
Also: Die Wogen scheinen geglättet. Die Gemüter diesseits und jenseits des Atlantiks haben sich beruhigt. Am CERN in Genf jedenfalls wird man sich auch künftig mit der kosmischen Ursuppe befassen - und zwar mit Alice, einem neuen Riesendetektor.
Momentan betrachtet ist es ein großes Stück Eisen, ein achteckiges Stück Eisen. Ungefähr zwölf Meter hoch - so hoch wie ein Hochhaus, wiegt 8.000 Tonnen und ist völlig leer.
Das wird sich ändern, sagt CERN-Physiker Jürgen Schukraft. Stück für Stück wird Alice gefüllt mit Sensoren und im Jahre 2008 die ersten Messdaten nehmen. Dann nämlich ist in Genf auch der größte Beschleuniger der Welt fertig, der Large Hadron Collider, kurz LHC. In erster Linie soll er Wasserstoffkerne aufeinander feuern, um neue exotische Teilchen herzustellen, allen voran das ominöse Higgs-Teilchen. Doch einen Monat pro Jahr soll LHC auch nach der kosmischen Ursuppe Ausschau halten. Statt Wasserstoff beschleunigt er dann Blei.
Der LHC-Beschleuniger wird uns mit Strahlen von Bleikernen versorgen, mit einer sehr hohen Energie - 30 Mal höher als momentan beim RHIC in Brookhaven.
Eine neue Rekordenergie also. Für die Erforschung des Quark-Gluon-Plasmas hat das einen großen Vorteil:
Wenn wir eine höhere Energie haben, dann bleibt es länger zusammen. Weil wir eine höhere Temperatur erreichen, bleibt es länger im Bereich des Quark-Gluon-Plasmas. Und je länger es drin bleibt, desto länger können wird es angucken, desto mehr Signale kommen heraus.
Schukraft und seinen Kollegen geht es mit Alice nicht so sehr darum, das Quark-Gluon-Plasma herzustellen und sauber nachzuweisen. Statt dessen wollen sie es möglichst detailliert analysieren, wollen herausfinden, was sich in den ersten Tausendstel Sekunden nach dem Big Bang abgespielt hat.
Es sieht also ganz danach aus, als würde die kosmischen Ursuppe die Physiker noch eine ganze Weile auf Trab halten. Und zwar nicht nur im Brookhaven National Laboratory, anderthalb Autostunden östlich von New York.