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Einmischung in die Gesetzgebung
"Das Bundesverfassungsgericht ist vor Kritik nicht gefeit"

Nimmt das Bundesverfassungsgericht zu viel Einfluss auf parlamentarische Entscheidungen? Nein, findet der ehemalige Verfassungsrichter Hans-Hugo Klein. Zwar gebe es kritikwürdige Urteile und diese Kritik sei wichtig, sagte er im DLF. Er sehe jedoch nicht, dass der Gestaltungsanspruch des Gerichts zugenommen habe.

Hans-Hugo Klein im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 20.04.2015
    Das Foto vom Mittwoch (24.11.2010) zeigt die Roben der Richter des Ersten Senats sowie ein Richterbarett beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe während der Urteilsverkündung zum Gentechnikgesetz.
    Das Bundesverfassungsgericht ist vor Kritik nicht gefeit - und es bedarf dieser Kritik, sagt Hans-Hugo Klein. (Uli Deck dpa/lsw)
    Dirk-Oliver Heckmann: Erst vor wenigen Tagen hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe wieder einmal aufhorchen lassen. Bei der mündlichen Verhandlung zur Rechtmäßigkeit des Betreuungsgeldes haben die Richter ungewöhnlich deutlich durchblicken lassen, dass sie erhebliche Bedenken haben, dass der Bund überhaupt zuständig sei, was natürlich gerade bei der CSU verärgerte Reaktionen auslöste. Es ist allerdings nicht das erste Mal, dass sich Politiker über Entscheidungen des Karlsruher Gerichts ärgern. Bundestagspräsident Lammert will jetzt eine Änderung des Grundgesetzes.
    Am Telefon begrüße ich jetzt Hans-Hugo Klein, ehemals Richter am Bundesverfassungsgericht. Schönen guten Tag, Herr Klein!
    Hans-Hugo Klein: Guten Tag.
    Heckmann: Herr Klein, Norbert Lammert stellt einen deutlich erkennbaren Gestaltungsanspruch der Richter in hoch politischen Fragen fest. Überschreiten die Karlsruher Richter ihre Kompetenzen?
    Klein: Dieser Streit besteht ja seit Beginn der Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts. Ich kann nicht feststellen, dass dieser, von der Politik immer mal wieder gerügte Gestaltungsanspruch in den letzten Jahren in stärkerem Maße in Anspruch genommen worden wäre, als das früher der Fall war.
    Heckmann: Aber es gibt jetzt zunehmende Kritik von allen möglichen Seiten. Ich würde den Generalsekretär der CSU noch erwähnen wollen, Herrn Scheuer. Herr Scheuer hat am Wochenende gesagt, Karlsruhe müsse wieder stärker respektieren, dass die gesellschaftlichen Grundentscheidungen durch den Gesetzgeber, durch Politik und Parlament getroffen werden. Ist an dieser Kritik nicht was dran?
    Klein: An dieser Kritik ist etwas dran und war immer etwas dran. Immer wieder hat das Bundesverfassungsgericht sich der Kritik stellen müssen, dass es die Handlungsfreiheit des Gesetzgebers zu stark einenge. Und je größer der politische Stellenwert seiner Entscheidungen ist, desto schärfer wird die Kritik. Ich erinnere an frühere Entscheidungen wie zum Beispiel an die über das Kreuz im Klassenzimmer. Auch damals schwappte die Politik und die Kritik an der Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts über, in sehr viel stärkerem Maße übrigens, als dies jetzt der Fall ist. Das Bundesverfassungsgericht ist vor Kritik nicht gefeit. Es bedarf dieser Kritik, gerade weil es in vielen Fragen, in allen Verfassungsrechtsfragen das letzte Wort hat, und gerade auch, weil es natürlich mit seinen Entscheidungen bestimmend einwirkt auf die vom Parlament politisch zu verantwortenden Entscheidungen. Das ist immer ein schmaler Grat, den beide Seiten diskutieren müssen und über den man sich von Fall zu Fall immer auch kritisch austauschen kann.
    "Wer recht hat, steht auf einem anderen Blatt"
    Heckmann: Dann kommen wir mal zu konkreten Beispielen, Herr Klein. Da Sie das Kreuz im Klassenzimmer gerade erwähnen. Da fällt einem natürlich sofort auch die Diskussion um das Kopftuchverbot für muslimische Lehrerinnen ein. Erst urteilte Karlsruhe, um ein solches Verbot zu erwirken, müsste schon ein Gesetz her. Dann haben einige Länder, neun Länder, glaube ich, ein entsprechendes Gesetz erlassen, und Karlsruhe urteilte dann daraufhin, na ja, ein pauschales Kopftuchverbot, das verstößt nun auch gegen das Grundgesetz. Trägt das dann wirklich zum Rechtsfrieden bei?
    Klein: Das trägt zum Rechtsfrieden nicht bei. Ich teile durchaus die Kritik, die auch an diesem Urteil gefällt worden ist, wobei man in Rechnung stellen muss, dass beide Entscheidungen nicht vom gleichen Senat getroffen worden sind, und es ist natürlich durchaus zulässig, dass ein Senat von der Rechtsprechung des anderen abweicht. Ob er das tun sollte, wie es in diesem Fall geschehen ist, ohne das Plenum des Gerichts anzurufen, das kann man sehr wohl einer kritischen Betrachtung unterziehen.
    Heckmann: Das heißt, Sie würden sagen, das war eine Fehlentscheidung?
    Klein: Das will ich so nicht sagen. Aber es war eine Entscheidung, die möglicherweise zwingendes Prozessrecht nicht beachtet hat.
    Heckmann: Ein anderes Thema ist, dass das Verfassungsgericht die Fünf-Prozent-Hürde bei den Europawahlen gekippt hat. Elmar Brok, der CDU-Politiker, der hat dazu gesagt, in diesem Urteil komme die Verachtung einiger Richter für Politik zum Ausdruck, denn das Argument wurde ja verwendet, so mächtig sei das EU-Parlament gar nicht, als dass eine Fünf-Prozent-Hürde nötig wäre, um stabile Verhältnisse zu schaffen.
    Klein: Ja, das ist natürlich eine sehr spezifisch politische Betrachtungsweise, in der Herr Brok ganz offensichtlich von der des Bundesverfassungsgerichts abweicht. Das steht ihm frei. Aber wer recht hat, steht auf einem anderen Blatt.
    Heckmann: Trotzdem: Kommt darin eine Verachtung einiger Richter für Politik zum Ausdruck?
    Klein: Von einer Verachtung irgendeines mir bekannten Richters für die Politik kann meines Erachtens gar keine Rede sein. Man muss und kann füglich die Bedeutung des Gleichheitssatzes im Wahlrecht unterschiedlich einschätzen und da ist zu beobachten aus meiner Sicht, dass das Bundesverfassungsgericht in der Tat in seinen jüngeren Entscheidungen dem Gesichtspunkt des gleichen Stimmgewichts einen höheren Stellenwert zumisst, als das in früheren Jahrzehnten der Fall war. Das ist nicht unzulässig, aber man kann darüber diskutieren.
    "Das Gericht hört auf Kritik"
    Heckmann: Norbert Lammert, der Bundestagspräsident, der möchte jetzt eine Grundgesetzänderung. Er möchte das jetzt festschreiben. Hintergrund ist da die Diskussion um die Fünf-Prozent-Hürde auf kommunaler Ebene, und da sei in der Tat eine Lücke in der Verfassung zu konstatieren. Wäre das aus Ihrer Sicht in Ordnung, diese Lücke zu schließen?
    Klein: Wenn ich Lammert recht verstanden habe, geht es ihm weniger jetzt konkret um die Fünf-Prozent-Hürde im Kommunalwahlrecht, die man genauso kritisieren kann wie die gestrichene Drei-Prozent-Hürde im Europawahlrecht. Das ist problematisch. Aber Lammert geht es, wenn ich ihn recht verstanden habe, eher darum, dass in der Tat das Grundgesetz das Wahlsystem, also Verhältniswahl oder Mehrheitswahl, nicht festlegt. Und dass man unter Umständen in dieser Frage eine verfassungsgesetzliche, also eine Entscheidung des Verfassungsgebers anstrebt, das ist nicht ausgeschlossen. Ob es notwendig ist, das sehe ich so nicht.
    Heckmann: Abschließend gefragt, Herr Klein: Dass so viele Gesetze in der Vergangenheit als verfassungswidrig verworfen wurden durch Karlsruhe, ist das nicht ein Zeichen dafür, dass einfach viele schlechte Gesetze gemacht worden sind in der Vergangenheit?
    Klein: Wenn Sie die Zahl der verfassungsgerichtlich verworfenen Gesetze vergleichen mit der vom Gesetzgeber beschlossenen, die ja von Jahr zu Jahr wächst, dann ist der Prozentsatz ein denkbar geringer.
    Heckmann: Das heißt, Sie sehen da keinen Anlass zu Sorge in dieser Entwicklung?
    Klein: Ich sehe im Allgemeinen keinen Anlass zur Sorge. Im konkreten Fall kann man durchaus einmal anderer Meinung sein als das Gericht und dann sollte man sich nicht scheuen, es zu kritisieren. Es hört auf die Kritik.
    Heckmann: Hans-Hugo Klein war das, ehemals Richter am Bundesverfassungsgericht, zum Streit zwischen der Politik und dem Karlsruher Gericht. Herr Klein, danke Ihnen für das Gespräch.
    Klein: Ich danke Ihnen auch. Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.