Manfred Götzke: Ist Abitur gleich Abitur? Ist ein 1,0-Schnitt aus Hamburg oder Berlin genauso viel wert wie ein Einser-Abi in Bayern? Der Deutsche Lehrerverband und sein Vorsitzender Josef Kraus, selbst Bayer, meint Nein. Er kritisiert, dass manche Bundesländer zu leichtfertig gute Noten vergeben, und überhaupt machten zu viele junge Leute Abitur, die am Ende gar nicht studierfähig sind. Kraus fordert, dass vermeintlich anspruchsvolle Länder wie Bayern ein Abi aus Berlin oder Hamburg gar nicht anerkennen sollten. Ties Rabe ist Kultusminister in Hamburg, Schulsenator. Herr Rabe, vergeben Ihre Länder leichtfertiger, Ihre Lehrer leichtfertiger gute Noten als die Lehrer in Bayern?
Ties Rabe: Ehrlicherweise wissen das weder die Bayern noch die Hamburger, aber ich muss ganz ehrlich sagen, die Lösung kann ja wohl nicht sein, dass jedes Land jetzt sein komplett eigenes Abitur macht und die anderen nicht anerkennt, sondern die Lösung muss doch sein, dass wir das Abitur aller Bundesländer angleichen. Und dafür haben wir uns sehr eingesetzt, und wir werden jetzt im kommenden Jahr zum ersten Mal in den Kernfächern erhebliche Aufgaben identisch in allen Bundesländern schreiben. Das muss der richtige Weg sein, und nicht solche seltsamen Ausflüge in noch stärkere Kleinstaaterei.
Götzke: Sie haben es gesagt, nächstes Jahr gibt es diesen bundesweiten Aufgabenpool, aus dem sich die Bundesländer, die Schulen aus allen Bundesländern bedienen können. Wird sich denn tatsächlich dieses Problem unterschiedlicher Abi-Niveaus damit erledigen?
"Deutschlands Schülerinnen und Schüler sind stetig besser geworden"
Rabe: Erledigen wird sich dieses Problem nie. Das wird auch innerhalb eines Bundeslands sich nie erledigen, denn zwischen zwei Klassen und zwei Lehrerinnen und Lehrer wird es auch immer Unterschiede geben. Uns kommt es aber darauf an, dass es hier keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen den Bundesländern gibt. Und wenn wir jetzt tatsächlich es schaffen, und nach meinen Erkenntnissen sieht das so aus, dass beispielsweise elf oder zwölf Bundesländer gleichzeitig am selben Tag dasselbe Mathe-Abitur schreiben, dann, glaube ich, kann man doch wohl schon davon ausgehen, dass hier in Zukunft ganz neuer Wind weht und wir es tatsächlich hinbekommen, dass die Ansprüche über alle Bundesländer hinweg deutlich einander angenähert werden.
Götzke: Nun ist der Anteil der Abiturnoten von 1,0, dieses Abi-Schnittes, ja tatsächlich in fast allen Bundesländern in den letzten, ich sag mal, zehn Jahren gestiegen, bei Ihnen in Hamburg zum Beispiel von 1,04 Prozent auf 1,7 Prozent. Woran liegt das? Sind die Schüler wirklich besser geworden?
Rabe: Also ich finde, das ist wirklich Zahlenrabulistik, wenn man sich eine einzige Note heraussucht. Ich glaube, man guckt besser auf den gesamten Notendurchschnitt, und da sehen wir über alle Bundesländer hinweg, auch übrigens gerade in Bayern, dass das Abitur im Durchschnitt etwas besser benotet wird als noch vor 15 Jahren. Aber die Unterschiede sind sehr gering, viel geringer, als Herr Kraus das mit dieser einen Zahl zu suggerieren versucht. Da ist der Notendurchschnitt durchschnittlich von 2,5 vielleicht auf 2,4 verbessert worden. Das ist jetzt ehrlicherweise kein Weltuntergang. Und die spannende Frage, die ist eigentlich, ob die Schüler besser geworden sind oder nicht. Denn wenn sie besser geworden sind, dann brauchen wir natürlich auch bessere Noten. Wer ehrlich ist, wer seriös argumentiert, der muss zumindest Folgendes einräumen: In den letzten 15 Jahren ist Deutschland, sind Deutschlands Schülerinnen und Schüler bei sämtlichen Bildungstests stetig besser geworden.
Götzke: Sie haben diese Leistungsvergleiche gerade angesprochen. Bei TIMMS, dieser Mathestudie, sind die Schüler ja leicht abgesackt, also man kann ja nicht sagen, dass sie stetig sich verbessern.
"Hier ist etwas in Bewegung gekommen"
Rabe: Ja, das ist schon so, dass wir hier über einen langen Zeitraum reden, und dass mal eine Klassenarbeit etwas schlechter ist, und mal eine wieder besser ist, das ist eingeräumt. Aber wer weiß, woher wir gekommen sind, wo wir standen 2000 bei PISA, bei TIMMS, bei IGLO, und wo wir heute stehen, bei PISA zum Schluss im oberen Drittel in allen getesteten Bereichen. Und am Anfang waren wir im unteren Drittel. Das zeigt schon, dass hier etwas in Bewegung gekommen ist und dass deshalb Schülerinnen und Schüler in Deutschland durchaus besser geworden sind. Was mich übrigens aber besonders stört an der Argumentation, ist, dass alle so tun, als ob quasi eine biologische Grenze in Deutschland existiert, nach der nicht mehr als 25 Prozent der Kinder das Abitur verdient hätten. Und wenn in einem Land mehr als 25 Prozent das Abitur schaffen, dann, so wird flugs behauptet, liege es nur daran, dass das Abitur leichter geworden ist. Ich wundere mich schon über diese etwas sehr biologische Argumentation. Mir ist aufgefallen bei der Olympiade, da gab es einen Medaillenspiegel, da haben kleine Länder wie England deutlich mehr Medaillen erobert als große Länder wie Brasilien. Und man fragt sich schon, haben die da auch einfach niedrigere Sprunghürden gehabt? Nein. Die Engländer haben ihre Kinder, ihre Sportler besser gefördert. Und insofern finde ich es ein bisschen absurd, aus hohen Abiturientenzahlen sofort zu folgern, dass das nur daran liegen könnte, dass man beim Abitur trickst und schummelt. Nein, es kann auch sein, dass wir bessere Bildung machen.
Götzke: Auf der anderen Seite beklagen sich ja tatsächlich immer mehr Hochschullehrer, dass viele Studienanfänger nicht studierfähig seien, und das sind immer mehr, sagen die. Was entgegnen Sie denen?
"Wir haben in den Bildungsplänen den Fokus verändert"
Rabe: Zunächst einmal ist die zitierte Aussage ja keineswegs in irgendeiner Form empirisch belegt, sondern hier hat eine Stiftung zehn oder 20 Hochschulprofessoren um ihre Meinung gefragt. Ich glaube, da finden wir auch andere Meinungen. Aber an einer Stelle ist in der Tat eine sorgfältige Analyse nötig. Wir stellen fest, Deutschlands Abiturienten heute haben bei bestimmten Basics, in der Rechtschreibung zum Beispiel, auch beim Kopfrechnen, überhaupt bei Rechenoperationen, Dreisatz, Bruchrechnung und viele Dinge mehr, durchaus ihre Schwächen. Das liegt aber auch daran, dass wir in den Bildungsplänen den Fokus verändert haben und diese Basics nicht mehr die Bedeutung haben wie vielleicht noch in den 60er- oder 70er-Jahren, wir heute viel stärker Fremdsprachen unterrichten, wir heute viel stärker Medienkunde haben, Repräsentationstechniken und vieles mehr. Und so richtig es ist, dass vielleicht Schüler aus meiner Generation heute im Kopfrechnen oder bei der Rechtschreibung die meisten Abiturienten weit überflügeln, so richtig ist es umgekehrt, dass vermutlich aber die meisten heutigen Abiturienten uns ältere Generation in Sachen Fremdsprachen, in Sachen Englisch, in Sachen Informatik locker an die Wand lernen. Und deswegen ist es eher eine Frage, was wollen wir von den Abiturienten. Und vielleicht müssen wir darüber diskutieren, die Bildungspläne wieder ein Stück weit Richtung Basics, Richtung Rechtschreibung zu rücken. Darüber kann man streiten. Aber so zu tun, als ob es das Einzige ist, und diese anderen vielen Dinge, die Schüler heute viel besser können, auszublenden, das wäre auch nicht redlich.
Götzke: Es gibt keine Einserinflation an deutschen Schulen, die Schüler seien vielmehr besser geworden, sagt Hamburgs Schulsenator Ties Rabe.
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