Man nehme vier ultrapräzise Kreiselkompasse, bringe sie in die Erdumlaufbahn und beobachte dann, wie ihre Rotationsachsen unter Einfluss der Erdrotation allmählich kippen. So lautet das Rezept für den Nachweis des sogenannten Frame-Dragging- oder Lense-Thirring-Effektes. Er folgt aus Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie und sollte von der NASA-Mission 'Gravity Probe B', die 2004 abhob, überprüft werden. 2005, als die Messungen im Orbit noch liefen, erklärte Projektleiter Francis Everitt, Physikprofessor an der Uni Stanford, im Deutschlandfunk die Hintergründe:
"Einsteins Theorie sagt zwei unterschiedliche Effekte voraus, die Gyroskope an Bord von Satelliten beeinflussen sollten. Das Erste ist der geodätische Effekt. Dahinter verbirgt sich die durch die Erdmasse hervorgerufene Krümmung des Raumes. Der zweite Effekt ist der Lense-Thirring-Effekt. Demnach verhält sich die Raumzeit wie zähflüssiger Sirup und wird von der rotierenden Erde teilweise mitgeschleift. Mit Gravity Probe B wollen wir beide Effekte extrem genau messen."
Auf die Idee waren Forscher schon 1960 gekommen. Ihr Gedanke: In der Schwerelosigkeit, wo keine Kraft auf ihn wirkt, zeigt die Drehachse eines perfekten Kreisels immer in dieselbe Richtung. Sobald aber auch nur die winzigste Kraft angreift, kippt diese Drehachse allmählich. Und genau das sollte Gravity Probe B messen, erklärt Francis Everitt.
"Zu Beginn des Versuchs haben wir die Drehachsen der Kreiselkompasse so ausgerichtet, dass sie in Richtung eines Fixsterns zeigen, den wir mit einem Teleskop an Bord des Satelliten anpeilen. Die beiden relativistischen Effekte führen nun dazu, dass sich die Orientierung der Drehachsen verändert. Im Prinzip ist es also ein sehr simples Experiment. Wir haben einen Fixstern, ein Teleskop und vier rotierende Kugeln."
Die größte Thermosflasche, die je in den Orbit geschossen wurde
Ganz so einfach war die Sache dann doch nicht. Denn der bis dahin unbestätigte Lense-Thirring Effekt ist hundertmal kleiner als der geodätische Effekt, der seinerzeit schon präzise vermessen worden war. Laut Einsteins Formeln sollte die Verdrillung der Raumzeit die Rotationsachsen der Gyroskope in einem Jahr um 39 Tausendstel einer Bogensekunde aus ihrer ursprünglichen Richtung kippen - wie einen Strohhalm, der am Rand eines Flusses schwimmt und vom schneller fließenden Wasser in der Mitte mitgezogen und allmählich gedreht wird. Um diese aberwitzig kleine Änderung überhaupt messen zu können, mussten die Kreisel so im Orbit positioniert werden, dass sich beide Effekte auseinander halten lassen. Außerdem mussten sich die Physiker und Ingenieure einiges einfallen lassen, um störende Einflüsse aller Art auszuschalten.
"Wir mussten Gyroskope entwickeln, die 10 Millionen mal präziser sind als die besten Kreiselkompasse auf der Erde. Wir mussten ein Teleskop bauen, dass einen Fixstern 1000 mal genauer anpeilen kann als alle existierenden Teleskope im All. Wir mussten all das in einer riesigen Kühlbox unterbringen, weil das Experiment mit flüssigem Helium auf 1,8 Grad über dem absoluten Nullpunkt gekühlt wird."
Es war die größte Thermosflasche, die bis dahin je in den Orbit geschossen wurde. Die vier tischtennisballgroßen Kugeln darin bestanden aus Quarzglas, beschichtet mit supraleitendem Niob. Sie waren berührungsfrei gelagert und rotierten mit 10 000 Umdrehungen pro Minute. Der ursprüngliche Plan sah vor, nach einjähriger Messphase Anfang 2006 die Ergebnisse zur Drift ihrer Drehachsen zu präsentieren.
"End of 2005, beginning of 2006, I could only say it within a month or two."
Ein Wermutstropfen bleibt
Doch daraus wurde nichts. Am Ende dauerte es fünf Jahre länger, bis Mai 2011, bis Francis Everitt verkünden konnte: Einstein lag auch diesmal richtig. Der gemessene Wert von 37 Tausendstel Bogensekunden stimmte gut mit dem berechneten Wert überein.
"Das Ziel war, diesen Effekt auf die zweite Nachkommastelle genau zu messen. Am Ende war die Präzision aber 20 mal geringer als erhofft. Das lag daran, dass trotz der minutiösen Vorbereitung des Experimentes Störeffekte auftraten, mit denen keiner gerechnet hatte. Sie wurden unter anderem durch die elektrostatische Aufladung der Gyroskope hervorgerufen und waren so groß, dass die Gefahr bestand, überhaupt keine aussagekräftigen Ergebnisse zu erhalten. Durch eine genaue Analyse und Modellierung dieser Effekte und eine extrem sorgfältige Datenauswertung gelang es den Forschern dann aber doch noch, ein Resultat zu bekommen. Der Preis, den sie dafür bezahlten, war die geringere Präzision. Aber es war dennoch eine überzeugende Messung dieses Frame-Dragging-Effektes."
Clifford Will, Physikprofessor und Einstein-Experte von der Universität Florida, hat die Bemühungen des Teams in Stanford genau verfolgt und bezeichnet sie heute rückblickend als, Zitat: 'heldenhaft'. Zumal während der fünf Jahre, die die Datenauswertung extra verschlang, zweimal das Geld ausging und Francis Everitt neue Fördermittel loseisen musste, um überhaupt weitermachen zu können.
Ein Wermutstropfen bleibt allerdings. Obwohl seit der ersten Idee für Gravity Probe B über 50 Jahre vergangen und rund 750 Millionen Dollar in das Experiment investiert worden sind, waren die Ergebnisse letztlich weniger genau als jene des Lageos-Satelliten, der 2010 finale Resultate lieferte. Den wissenschaftlichen Wettlauf um die bis dato präziseste Messung der Verdrillung der Raumzeit hat Francis Everitt also verloren. Albert Einstein hätte aber wohl dennoch seine Freude an den Ergebnissen.
"Zu Beginn seiner Karriere arbeitete Einstein im Schweizer Patentamt. Er interessierte sich sehr für Erfindungen aller Art. Mir gefällt der Gedanke, dass Einstein vielleicht von da oben auf uns herunterschaut und mit Neugier verfolgt, welche technischen Entwicklungen und Innovationen nötig waren, um seine allgemeine Relativitätstheorie mit Gravity Probe B zu testen."