"Ich saß auf meinem Stuhl im Patentamt in Bern. Plötzlich hatte ich einen Einfall: Wenn sich eine Person im freien Fall befindet, wird sie ihr eigenes Gewicht nicht spüren. Ich war verblüfft. Dieses einfache Gedankenexperiment machte auf mich einen tiefen Eindruck. Es führte mich zu einer Theorie der Gravitation."
1907. Es ist gerade zwei Jahre her, da war Einstein ein großer Wurf gelungen - die spezielle Relativitätstheorie mit der berühmten Formel E=mc2. Jetzt brütet der Physiker über seinem nächsten Geniestreich - der Erweiterung zu einer allgemeinen Relativitätstheorie, einer neuen Theorie der Gravitation. Den Startpunkt markiert jener Geistesblitz im Berner Patentamt, als Einstein klar wird: Das Fundament für seine neue Theorie muss das Äquivalenzprinzip sein. Dieses besagt: Im Vakuum fallen alle Körper in einem Schwerefeld gleich schnell. Anders formuliert:
"Das Äquivalenzprinzip sagt aus, dass träge und schwere Masse gleich sind", erklärt Hanns Selig vom Zentrum für angewandte Raumfahrttechnik und Mikrogravitation in Bremen. "Wir wissen alle, was schwere Masse ist. Das ist das, was eine Masse auf einer Waage schwer macht. Die träge Masse ist das, was einer Beschleunigung entgegenwirkt."
Neu ist diese Erkenntnis nicht, sie geht auf Galileo Galilei zurück. Der Legende nach hatte er verschieden schwere Körper vom Schiefen Turm von Pisa geworfen und dabei festgestellt, dass sie gleichzeitig am Boden auftrafen. Seitdem gilt das Äquivalenzprinzip als gesetzt - auch wenn bis heute nicht klar ist, wieso es eigentlich stimmt, sagt Seligs Kollege Claus Lämmerzahl:
"Wir wissen nicht, warum das Äquivalenzprinzip gilt. Es ist eine Erfahrungstatsache, der wir einfach Rechnung getragen haben."
Nur: Stimmt es auch dann, wenn man genau hinschaut? Das fragten sich die Physiker immer wieder - zum Beispiel der Ungar Loránd Eötvös.
1909: die Torsionswaage
1909. Eötvös überprüft das Äquivalenzprinzip mit einem mechanischen Präzisionsaufbau, der Torsionswaage.
"Wir haben einen Stab. An den Stab-Enden hängen eine Bleikugel und eine Aluminiumkugel. Dieser Stab wird in der Mitte an einem dünnen Draht aufgehängt. Wenn jetzt ein Gravitationsfeld kommt, und die beiden Massen würden verschieden angezogen, würde die eine Masse mehr zu dem gravitierenden Körper hingezogen werden als die andere Masse."
Würde das Blei stärker angezogen als das Aluminium, wäre das Äquivalenzprinzip verletzt. Doch dem ist nicht so, das kann Eötvös 1909 bis auf ein Milliardstel genau messen. Ein Resultat, das Einstein gerade recht kommt. Es stützt seine Strategie, auf das Äquivalenzprinzip als Grundpfeiler für seine neue allgemeine Relativitätstheorie zu setzen.
1976: Spiegel auf dem Mond
1976. Lange sind die Torsionswaagen-Experimente von Eötvös das Maß aller Dinge. Doch dann lässt sich der US-Physiker Irwin Shapiro etwas einfallen: Er nutzt jene Spiegel, die die Astronauten der Apollo-Mission zuvor auf dem Mond deponiert hatten und zielt mit Laserpulsen auf sie. Deren Reflexe lassen sich auf der Erde auffangen und damit die Laufzeit des Laserlichts präzise messen. Lämmerzahl:
"Da wird der Abstand zwischen Erde und Mond sehr genau vermessen, auf einen Zentimeter genau. Wenn das Äquivalenzprinzip verletzt wäre, würde der Abstand zwischen Erde und Mond spezielle Charakteristika aufweisen, die bei einer Gültigkeit des Äquivalenzprinzips nicht auftreten würden."
Doch solche Abweichungen gibt es nicht, kann Shapiro 1976 zeigen, und zwar mit einer Genauigkeit von 10-12, also einem Billionstel.
1999: Elektronische Waage
1999. Der US-Physiker Eric Adelberger besinnt sich auf das Prinzip der Torsionswaage und verbessert es grundlegend. Er schirmt den Aufbau gegen Störungen ab und setzt elektronischer Messtechnik ein. Und, so Selig:
"Ein wesentlicher Punkt ist die Homogenität der Probekörper zu gewährleisten. Das ist natürlich mit heutigen Fertigungsmethoden wesentlich einfacher, sehr hohe Genauigkeit zu erreichen als in den Zeiten von Eötvös."
Auch Adelberger findet keinerlei Abweichung - und das mit einer Genauigkeit von 10-13, zehnmal präziser als beim Mondexperiment.
"Das ist im Moment der Rekord."
Und so müssen Physiker wie Claus Lämmerzahl bis heute konstatieren:
"Es gibt kein einziges Experiment, welches dem Äquivalenzprinzip widerspricht."
Dennoch: Die Experten lassen die Sache einfach nicht ruhen. Der Grund: Manche Theorien wie etwa die Superstrings sagen voraus, dass das Äquivalenzprinzip am Ende doch nicht gilt - vorausgesetzt, man schaut noch einmal deutlich genauer hin. Eben das haben Hanns Selig und seine Kollegen nun vor - und zwar mit einer Satellitenmission.
"In irdischer Umgebung hat man immer Störungen, die die Genauigkeit beschränken. Im Weltraum hat man einmalig ruhige Bedingungen. Das macht den Weltraum so attraktiv für Experimente, um das Äquivalenzprinzip zu testen."
2016: Ein Microscope soll abheben
Microscope, so heißt der deutsch-französische Satellit, der 2016 abheben soll. An Bord hat er zwei Zylinder aus unterschiedlichen Metallen. Eine ausgefeilte Anordnung soll messen, ob sie im Schwerefeld der Erde nicht doch unterschiedlich stark beschleunigt werden.
"Die Beschleunigung wird gemessen, indem die beiden Testmassen exakt positioniert werden. Wenn jetzt eine unterschiedliche Beschleunigung wirken würde aufgrund einer Verletzung des Äquivalenzprinzips, müsste man unterschiedliche Kräfte aufbringen, um diese Sollposition zu halten."
Das Ziel: eine Messgenauigkeit von 10-15, also hundertmal präziser als bisher. Und was, wenn der Satellit tatsächlich eine Abweichung misst? Lämmerzahl:
"Eine Abweichung vom Äquivalenzprinzip wäre natürlich eine Riesensensation. Eine Riesenüberraschung, weil das unser Weltbild arg ins Schwanken bringen würde."
Zwar wäre Einsteins allgemeine Relativitätstheorie damit nicht plötzlich falsch. Aber ganz so fundamental, wie es die Physiker bislang annehmen, wäre sie dann eben doch nicht.