Ein verwaschenes Video aus dem Januar 1994: Ein großer Saal. Frauen in bunten, oft glitzernden Kleidern, ältere Männer in Anzügen, die jüngeren in Pullovern mit scharfen geometrischen Mustern. Es wird ausgelassen gesungen und getanzt - über Stunden. Russische und deutsche Stimmen klingen durcheinander. Es ist die Abschiedsfeier im Haus der Offiziere in Frankfurt an der Oder, ein endgültiger Abschied, der Abzug der Roten Armee. Fotos aus dieser Zeit zeigen unsichere Blicke auf beiden Seiten: Die Russen, vor allem die Offiziere und ihre Frauen, kehren heim in eine ungewisse Zukunft. Gemischte Gefühle auch bei den Deutschen: Sollen sie traurig sein, weil die Sowjets abziehen, oder froh, weil die Besatzer bald endgültig weg sind? In den Gesichtern spiegelt sich die ganze Ambivalenz des ostdeutsch-russischen Verhältnisses. Die Weimarer Historikerin Silke Satjukow sagt sehr drastisch, die Sowjetarmee sei verabschiedet worden „wie räudige Hunde.“
Abzug der Roten Armee aus Ostdeutschland
Satjukow lehrt Geschichte an der Uni Halle. „Als die Wende kam, versuchten die Ostdeutschen, Sündenböcke auszumachen für die maladen Betriebe, für die kaputten Städte. „Wer ist schuld? Wir nicht. Wir haben ja gearbeitet immer.“, haben sie gesagt – zu Recht. Also, war es die Stasi, es war Wandlitz, und es waren die Russen. Und die Sowjetrussen sind tatsächlich wie räudige Hunde hier weggejagt wurden. Wenn man sich die Bilder am Bahnhof anguckt, wie sie abziehen, da ist kaum ein Weimarer da und verabschiedet sie. Die Deutschen sind froh, dass sie weg sind.“
Ein anderer Beobachter, Sergej Lochthofen, Journalist, in der Sowjetunion geboren, in der DDR aufgewachsen, sah die Rote Armee und deren Abzug mit etwas anderen Augen: „Ich war sehr verwundert, als dann einfach in der 90er-Jahre die Russen abzogen, dass das Verhältnis eigentlich sehr entspannt blieb. Eigentlich habe ich erwartet, wenn sie erst einmal wieder die Häuser sehen, in welchem Zustand sie sind. In Gotha gab es da, wo ich aufgewachsen bin, eine Russenstraße, da wohnten die Offiziere. Die Häuser mussten dann größtenteils einfach abgerissen werden, weil sie so abgelebt und so abgeranzt waren. Ich hatte eigentlich gedacht, dass da richtig schwere Auseinandersetzungen sind, überhaupt nicht. Es war mehr Wehmut in der Luft. Und irgendwo erkläre ich mir das mit einer Art Stockholm-Syndrom. Man hat zusammen eine große Zeit durchlitten. Man war Teil einer Leidensgemeinschaft.“
„Aber das waren nur diese anfangs 90er-Jahre. Ab Mitte der 90er passierte in den Medien und im alltäglichen Leben etwas ganz Betrübliches für die Ostdeutschen: eine Entwertung der eigenen Biografien. Also Anfang der 90er verloren diese alten Generationen ihre Jobs, ihre Expertise und häufig auch ihre Würde, weil man erzählte in den Medien, dass das DDR-Leben und die DDR-Bürger eigentlich nicht viel wert sind. Mitte der 90er-Jahre sagen die Ostdeutschen: „Moment, haben wir dann wirklich nichts geleistet in dieser DDR? Was haben wir denn, was der Westdeutsche nicht hat?“ Und sie besannen sich unter anderem – also auch auf Ostprodukte und so weiter, Regionales – aber auch auf die Russen. Plötzlich kamen T-Shirts und Postkarten, da stand auf Kyrillisch: „Wenn du das nicht lesen kannst, bist du ein dummer Wessi.“
Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen in der Bewertung Russlands
Umfragen der letzten Monate, aber auch der letzten Jahre, lassen eindeutig erkennen, dass es signifikante Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen in der Bewertung Russlands, Putins und des Angriffskrieges in der Ukraine gibt. Das Berliner Zentrum für Osteuropa- und Internationale Studien hat 2020 eine repräsentative Umfrage über Russlandbilder in Ost- und Westdeutschland durchgeführt, also nach der Annexion der Krim, aber vor der Invasion in der Ukraine. 65 Prozent der Westdeutschen hielten Putin demnach für eine „Bedrohung Europas“, bei den Ostdeutschen waren es nur 50 Prozent. Ein Drittel der Ostdeutschen hielt Putin für einen „effektiven Präsidenten“, nur ein Fünftel der Westdeutschen sah das genauso.
Die Unterschiede spiegeln sich auch in der Landespolitik. So forderten ostdeutsche Ministerpräsidenten vor der russischen Invasion in der Ukraine unisono die Aufhebung der Sanktionen gegen Russland. Und das unabhängig von ihrer Parteimitgliedschaft in CDU, SPD oder der Linken. Gerade in Landtags-Wahlkämpfen erhofften sich ostdeutsche Politiker häufig so die Gunst ihrer Wähler zu gewinnen, die sie nicht ohne Grund Russland-freundlich wähnen. So etwa Wolfgang Tiefensee, SPD-Wirtschaftsminister in Thüringen, kurz vor der Landtagswahl 2019:
„Das Verhalten der NATO in dieser Zeit! Schwere Kränkung auch gegenüber Russland! Es gehört zur Wahrheit dazu, dass hier nicht die Guten auf der westlichen Seite sind und auf der anderen Seite die Schlechten, sondern es führt immer irgendwo zu einer Eskalation, die am Ende dann sich Bahn bricht.“
Prägung der Ostdeutschen durch die sowjetischen Besatzer
Silke Satjukow erklärt diese gewachsene ostdeutsche Nähe zu Russland. „Alle Generationen von 1945 an mussten in einem dichotomen System groß werden: Hier ist der Sozialismus, hier ist es gut, und dort ist der Kapitalismus, und dort ist es schlecht. Diese Dichotomie im Denken des Kalten Krieges, in der wuchsen alle Generationen Ost auf und alle Generation West. Und vor diesen Rahmen entscheiden sie auch jetzt in Krisensituationen. Sehr, sehr schnell tauchte mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine das Vokabular des Kalten Krieges auf, und zwar Ost wie West.“
Hinzu kommt aus Sicht Satjukows: Die Prägung der Ostdeutschen durch die sowjetischen Besatzer hat sich von 1945 bis zum Abzug Anfang der 90er verändert. Diejenigen, die im Zweiten Weltkrieg noch Schuld auf sich geladen hatten, bekamen ein Angebot: Wenn sie mitmachten im neuen System, dann wurde meist über ihre Schuld hinweggesehen, dann konnten sie auf Karriere hoffen. Vergewaltigungen und Plünderungen durch Sowjetsoldaten, die Demontage von Industriebetrieben nach 1945 waren in der DDR offiziell Tabuthemen und verschwanden langsam im Dunkel der Vergangenheit. Das lag auch im Interesse der Sowjetführung.
„Und unsere Propaganda hat natürlich auch sehr dazu beigetragen, dass man ein Gefühl hatte, das ist wirklich ein anderes Deutschland und alle Schlimmen sind weg.“ Sagt Irina Scherbakowa. Die Germanistin und Historikerin hat DDR-Literatur ins Russische übersetzt und später die Menschenrechtsorganisation „Memorial“ mit aufgebaut. Sie erinnert sich an ein Mädchen aus der DDR, das sie in Moskau kennenlernte.
„Ihr Vater war ein Diplomat, ein DDR-Diplomat, und sie waren bei uns zu Hause zu Besuch. Und mein Vater sprach mit ihm, er war Flieger im Zweiten Weltkrieg. Und mein Vater war ein Infanterieleutnant. Sie hatten einander viel zu berichten. Und dieses Mädchen da, dieses deutsche Mädchen, die hörte zu, und plötzlich bekam sie so ein … Sie war völlig überrascht, als sie begriffen hat, dass ihr Vater auf einer anderen Seite der Front war. Und ich habe dann gedacht: Um Gottes willen! Was denken sich manche deutschen Kinder in der DDR!?“
Vielfältige, auch private Beziehungen zu russischen Soldaten
Man lebte im Großen und Ganzen nebeneinander her: Die Sowjets blieben in der DDR meist hinter hohen Kasernenmauern. Private Kontakte waren – trotz aller Propaganda von „unverbrüchlicher Freundschaft“ – nicht erwünscht. Zu groß war die Angst auf sowjetischer Seite, dass sich die Soldaten fragen könnten, warum es ihnen, die ja den Krieg gewonnen hatten, so viel schlechter ging als den Ostdeutschen. So ganz funktionierte das allerdings nicht, sagt Silke Satjukow.
„Alles ab Unteroffizier lebte ja außerhalb der Kaserne. Und die lebten wie in Nohra, hier im Dorf in der Nähe, zu vielen. Also wir haben 600 Einwohner und 6.000 Sowjetrussen, und das bedeutet, dass sie Nachbarn waren und dass die Kinder schon von klein auf Rotarmisten gegen Nazis spielten. In einer Kneipe wusste man genau: Da sind die Russen! Man verliebte sich auch. Es gab Hochzeiten und Soldatenkinder, die leben bis heute. Arbeitsbeziehungen: Wenn die Soldaten und vor allem auch die Offiziersfrauen jeden Tag in Nohra in die Molkerei gehen und sich Geld dazuverdienen, natürlich illegal, lernt man sich kennen. Man frühstückt zusammen, isst zusammen Mittag. Und so weiter und so weiter. Bei genauer Hinsicht haben die Ostdeutschen, vor allem die Älteren, viele mannigfaltige Beziehungen unterhalten zu den Sowjetrussen, fernab der verordneten, blutleeren deutsch-sowjetischen Freundschaft.“
Zumal in der Tauwetterphase nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 ein frischer Wind aus Osten wehte, der den Blick öffnete: „Plötzlich kamen Novellen, Romane, Filme, Lieder in die Kinos, in die Buchläden, vom einfachen Menschen, vom einfachen Russen, vom einfachen Soldaten – Tschingis Aitmatov, Michail Scholochow und so weiter –, dass auch die Ostdeutschen verstanden haben, dass sie eine Schuld auf sich geladen haben und dass sie die wiedergutmachen müssen. Bis heute lesen sie diese Bücher und schauen auch diese Filme.“
Glasnost und Perestroika - Ostdeutsche setzten auf "Gorbi"
Ab 1985 propagierte Michail Gorbatschow Glasnost und Perestroika. Wieder eine Öffnung, wieder neue Filme, Zeitschriften, Bücher, Ideen, vor denen sich die SED-Oberen fürchteten. Und die sie in Teilen verbieten ließ.
„Gorbi! Gorbi! Gorbi! Gestern Nacht. Mit Rufen wie „Gorbi! Gorbi!“ ziehen Tausende durch die Ostberliner Innenstadt...“ (Tagesschau-Bericht Oktober 1989)
Die Hoffnung auf eine Besserung der Verhältnisse kam für die Ostdeutschen in den späten 1980ern zunächst aus Moskau, nicht aus Bonn, sie setzten auf Gorbatschow, nicht auf Kohl.
Und auch mit der Wiedervereinigung, mit D-Mark, offenen Grenzen und neuen Lehrbüchern änderte sich in den Schulen nicht gleich alles, wie sich Oleg Shevchenko erinnert. Er besuchte in den Nullerjahren, also mehr als ein Jahrzehnt nach dem Ende der DDR, in Thüringen die Schule.
„Es war definitiv viel antiwestlich! Also, ich würde sagen, auch in meiner Schule waren ja die meisten Leute DDR-sozialisiert, also die meisten Lehrer. Und ich hätte dann nie das Gefühl, dass es jetzt wirklich eine prowestliche Ausrichtung ist, weder in Sozialkunde, in Deutsch noch irgendwo. Sondern natürlich haben wir die DDR-Geschichte behandelt, aber immer aus dem Blick heraus, wie das halt auch in der DDR gelernt worden ist. Und das kann ein Westdeutscher sich gar nicht vorstellen. Deswegen, weil auch beim Abendbrottisch mit den Eltern immer noch so diskutiert wird. Und da werden die guten Erfahrungen aus der DDR noch einmal berichtet. Und ich glaube, das hat viel damit zu tun, wie man halt jetzt auch jetzt zu den Amerikanern steht.“
Russischunterricht und Austauschprogramme
In der DDR haben alle in der Schule Russisch gelernt, manche in der Sowjetunion studiert, viele dort gearbeitet – etwa an der „Druschba-Trasse“, einer Erdgasleitung, von der gerade jetzt wieder häufig die Rede ist. In den 70er- und 80er-Jahren haben jeweils bis zu 10.000 Ostdeutsche gleichzeitig daran gearbeitet. Der ostdeutsche Bauabschnitt lag in der Ukraine. Aber viele Ostdeutsche machten auch heute noch kaum einen Unterschied zwischen Russland, der Ukraine, den baltischen Staaten, meint Oleg Shevchenko, der 2003 mit seinen ukrainischen Eltern von der Krim nach Deutschland ausgewandert ist.
„Ich habe tatsächlich 2015 ein Auslandssemester in Moskau gemacht. Also trotz Annexion bin ich dahingefahren, weil das mein Kindheitstraum war, an der Lomonossow-Uni zu studieren. Und kam wieder und hatte einen Lomonossow-Pulli an. Und seitdem ich diesen Pulli angehabt habe, habe ich sehr viele fremde Leute kennengelernt, die mir wirklich erzählt haben, wie toll es war, in Moskau zu studieren oder irgendwie in Russland gewesen zu sein. Das ist schon da, und es ist was Ostdeutsches, definitiv. Da bleibt natürlich was hängen. Da bleibt doch eine bestimmte Vorliebe für was Russisches hängen. Und ist auch vollkommen cool! Weil, für mich war das natürlich ein Vorteil. Als wir 2003 nach Deutschland gekommen sind, konnte auch der Arzt Russisch sprechen, weil der in Moskau studiert hat. Es war viel leichter anzukommen als russischsprachiger Mensch, als wenn ich im Westen irgendwie groß geworden wäre.“
Ressentiments gegen die NATO, Sympathie für Putin
Shevchenko ist Sozialdemokrat. In seiner Partei hört er viele Ressentiments gegen die Ukraine, gegen die NATO, den Westen; und viel Sympathie für Russland, für Putin, mitunter sogar Verständnis für die russische Invasion. Häufiger noch als in der SPD sind solche Ansichten in zwei anderen Parteien zu hören. So halten laut einer aktuellen INSA-Umfrage in Thüringen AfD- und Linke-Wähler signifikant häufiger die NATO für mindestens mitschuldig an Russlands Angriff, bald gefolgt von Wählern der FDP. Auch sie lehnen in satter Mehrheit Sanktionen und Waffenlieferungen ab. So argumentiert Stefan Möller, Co-Chef der Thüringer AfD, im Landtag:
„… weil ich es nicht mein Krieg ist, weil es der Krieg der Russen ist, weil es der Krieg der Ukrainer ist, der Weißrussen ist und der Amerikaner ist. Aber es sind meine Wähler. Es sind unsere Wähler, die unter ihren Maßnahmen leiden.“
Ostdeutsche Politiker und die populistische Brille
Bodo Ramelow wiederum, der thüringische Ministerpräsident, sagte in einem kleinen Fernsehsender am Tag des russischen Einmarsches in der Ukraine:
„Die Sezession der beiden Gebiete Donezk und Luhansk sind gestern anerkannt worden, und Wladimir Putin hat einen Freundschaftsvertrag mit den beiden abtrünnigen Teilgebieten dort gemacht. Das ist die gleiche Anordnung, wie wir sie vorher schon mit der Krim erlebt haben. Umgekehrt: Es ist leider auch genauso wie das, was die NATO im Kosovo angerichtet hat.“
Recht schnell hat der Linkspolitiker Ramelow danach seine Sicht auf Putins Krieg verändert. Das „Aber die NATO“ vieler Linker und AfD-Politiker kommt jedoch im Osten gut an, eben auch in Thüringen, wo gut die Hälfte der Wähler eine dieser beiden Parteien gewählt hat. Eine bedenkliche Entwicklung, findet Irina Sherbakova.
„Das höre ich sehr oft. Ja, ja, „aber die NATO!“, „Ja, ja, aber Amerika!“, „Das macht alles nur die US, sonst wären wir alle Freunde!“ Diese Nostalgie! Das kommt sowohl von rechts auch von links. „NATO wollte uns angreifen!“ Warum hat sie das in diesen über 30 Jahren nicht gemacht, wo Russland noch so schwach war? Das macht doch keinen Sinn. Das ist ja gerade das, was Populismus macht, indem er versucht, nicht mit der Logik die Menschen zu überzeugen, nicht mit der wirklichen Geschichte und historischen Fakten, sondern es basiert alles auf den Gefühlen und Mythen.“
Aber die AfD und Teile der Linken stehen nicht allein mit ihrer populistischen Sicht. CDU-Chef Friedrich Merz sorgt sich jedenfalls um die Linientreue seiner ostdeutschen Parteifreunde. Die NATO sei ein Verteidigungsbündnis und Putin der Angreifer in der Ukraine:
„Ich beschreibe diesen Sachverhalt so ausführlich gerade hier bei Ihnen, weil ich weiß, dass gerade in Ostdeutschland bei dem einen oder anderen doch Skepsis da ist. Ist das wirklich so? Haben wir die nicht provoziert? Hätte man das nicht vermeiden können?“
Über zehn Minuten redete Merz auf einer Veranstaltung in Sonneberg, wo er eigentlich Wahlkampf machen sollte, den meist betagten südthüringischen Christdemokraten ins Gewissen.
„Und dafür bin ich um ihr Verständnis, meine Damen und Herren!“ Der Beifall blieb trotz Merz‘ Anstrengungen spärlich. Womöglich hängen Reaktionen wie diese aber nicht allein mit einer ostdeutschen Nähe zu Russland zusammen, sondern mit einer ostdeutschen Skepsis gegenüber Freundschaften, die als verordnet empfunden werden. Der Journalist Sergej Lochthofen sieht da den entscheidenden Grund:
„Sie sind erst einmal geübt, auch aus der Zeit, als noch die Sowjetarmee hier stand, bei allen Verlangen, was man ihn da abbringt, Freundschaft zu zeigen, Distanz zu bewahren. Das heißt, wenn heute jemand sagt, „unsere neuen Freunde sind die Amerikaner“, sind die Ostdeutschen besonders skeptisch an dieser Stelle, weil sie einfach Erfahrungen gemacht haben: Eine Zeitlang wurden sie als große Freunde gehandelt, heute sind sie die Feinde. Also, ich würde nicht sagen, dass der Osten per se russlandfreundlicher ist, aber sie lassen sich nicht gerne Freunde vermitteln.“
Sherbakowa: Ostdeutsche Sehnsucht nach heiler Welt
Doch es sei unter vielen Ostdeutschen nicht nur Skepsis gegenüber der NATO, den USA, dem Westen überhaupt zu erkennen, sondern da seien mitunter auch handfeste Ressentiments und Sehnsüchte nach der vermeintlich so schönen Vergangenheit im Spiel, meint Irina Sherbakowa.
„Man will zurück, angeblich in das heile Deutschland. Und was war das, jetzt in Anbetracht von dem, was die DDR war? In welche heile Vergangenheit? Wo ist das, was stellt man sich so vor? Und das ist für mich auch so ahistorisch wie alles, was jetzt von Putin kommt. Also dieser völlige Missbrauch der Geschichte.“
Silke Satjukow sieht in Putin auch eine charismatische Figur, die Sicherheit und Stabilität garantiert – gegen Homo-Ehe, Loveparades und andere von vielen so empfundenen Zumutungen der Moderne. Das komme in Gesellschaften, die Krisen, Umbrüche erfahren haben, gut an. Auch im Osten, der durch Abwanderung gerade von jungen Frauen in eine demographische Schieflage gekommen ist.
„Und das hat mit Verwerfungen des 20. Jahrhunderts und des 21. Jahrhunderts zu tun, Verwerfungen von Traditionen. Dieser Männlichkeitskult – Putin kann alles, Putin ist der Superman! – hat natürlich viel mit der Krise der Männlichkeit zu tun, übrigens weltweit! Und dann kommt eine Führungspersönlichkeit, die sagt, „Ich sichere euer Leben, vertraut mir!“ Und das kann er auch gut!“
Russophilie und Amerikaphobie
Joachim Klose ist Chef der Konrad-Adenauer-Stiftung in Sachsen und ein langjähriger Kenner der ostdeutschen Besonderheiten. Er meint, dass die Feindbilder der Nationalsozialisten, die in der DDR überdauert haben, noch lange nicht aufgearbeitet worden sind. In der Russophilie und Amerikaphobie vieler Ostdeutscher sieht er aber auch eine Ersatzhandlung für andere, nicht ausgetragene Konflikte.
„Vielleicht geht es eher um die Ordnung als stabile Strukturen einer Gesellschaft, und wenn man viele Brüche erlebt hat, dann will man irgendwann mal Ruhe haben und schätzt die Ordnung. Und das kann ein Problem sein, also 1989/90 war natürlich die Umordnung aller Werte und aller Dinge. Und dann kommt natürlich ab 2002 die Flut in Sachsen, Dresden vor allem, dann 2010 diese Finanzkrise, dann 2013 wieder eine Flut, 2015 die Migrationsherausforderung, dann 2019 Corona und 2022 dann Ukraine. Und irgendwann ermüden die Leute. Aber ich glaube, dass dieser Ermüdungseffekt nicht gleich die Sehnsucht nach dem starken Herrscher ist, sondern nur nach einer stabilen Ordnung.“
Sergej Lochthofen beklagt, dass viele zu wenig reflektieren. „Sie akzeptieren diese schrecklichen Verbrechen nicht als russischen Krieg und Putin-Krieg, sondern fast als Unglück. Ja, also, „Was geht es uns an!?“ Diese rein emotional aus-dem-Bauch-Art zu handeln und auch zu verstehen, das ist im Osten sehr weit verbreitet. Ja, ich kann als Rentner eine sehr gute Rente haben und gleichzeitig Unsinn reden.“