Eine Mail aus Belgien, eine Exkursion zu den Kriegsgräbern von Diksmuide - so begann das ungefähr 30. Album der Einstürzenden Neubauten.
Assistiert von einem Historiker und einer Literaturwissenschaftlerin recherchierte Sänger Blixa Bargeld im Lautarchiv der Humboldt-Universität oder im Dresdener Militärhistorischen Museum.
"Dann gibt's ne große Wand im Studio, an der dann alle möglichen Materialien nach und nach angehängt werden, und nach ner Weile sah's bei uns im Wedding im Studio aus wie ne Spezialbibliothek zum Thema Erster Weltkrieg. So viele Bücher hatten wir noch nie im Studio."
Tonaufnahmen von Kriegsgefangenen (die zu Sprachforschungszwecken einen Bibeltext sprechen mussten, das Gleichnis vom verlorenen Sohn), verbanden sie mit der Musik eines in Diksmuide begrabenen Renaissancekomponisten (der zu ausgerechnet diesem Gleichnis eine Motette komponiert hat).
Auch als Song und Sample verarbeitet: Die Harlem Hellfighters, ein Infanterieregiment schwarzer Soldaten, das von den Amerikanern wegen der damals herrschenden Rassentrennung nicht direkt eingesetzt werden konnte und deshalb an die französische Armee "ausgeliehen" wurde - inklusive seiner bald europaweit bekannten Jazzband.
"Und da gibt es eben Stücke, die die schon im Ersten Weltkrieg gespielt haben, die direkten Bezug auf den Ersten Weltkrieg haben, wo auch das ganze Getöse des Krieges sozusagen in die Lyrics eingearbeitet ist. "Watch out boys, there's a German Minenwerfer coming", etcetera, und dann macht der Schlagzeuger eben "Bumm"."
Statische Musik zum Ersten Weltkrieg
An anderer Stelle verballhornen die Neubauten Hymnen, nach einer Persiflage aus den Zwanzigerjahren - bringen den Antikriegsklassiker von Pete Seeger, den einst Marlene Dietrich sang, a capella - oder rechnen die Zeitachse der nationalen Kriegseintritte in Takte um und klöppeln es auf Plastikrohren - "statistische" Musik, wie Bargeld es nennt. Und pragmatisch...
"Ich hatte eigentlich gedacht an Styroporplatten, weil wenn man die aufspießt auf so einen Beckenständer und würde für jede Nation eine Styroporplatte spielen, würde sie sich während des Spielens immer weiter auflösen. Aber das hätte bedeutet, man hätte zum Bauhaus fahren müssen und Styroporplatten kaufen müssen, während die Rohre waren schon da. Also haben wir dann Rohre genommen."
Weniger intellektuell konzipiert ist "How Did I Die", ein Monolog der Gefallenen, den zu schreiben Blixa Bargeld am schwersten fiel.
"Nach ungefähr einer Woche Arbeit wollte ich eigentlich alles hinschmeißen, weil ich das Gefühl hatte, ich kann mich da nicht reinbegeben, das wird mir - nach sagen wir mal drei Monaten färbt das ab. Das wird mir zu viel."
These: Der Zweite Weltkrieg ist nur die Fortsetzung des Ersten
Er hat sich dann doch aufgerafft. "Wenn man über Tod singt, singt man immer auch über den eigenen Tod, das ist ganz einfach."
"How Did I Die", an dessen Ende die Soldaten auferstehen, ist das emotionalste, zentrale Stück. Drumherum: eine teils etwas konzeptlastige, aber sehr ideenreiche und kunstvolle Assoziationskette zwischen Song und atmosphärischem Geräusch, Tondokumenten und historischem Kabarett.
"Ich will ja nie irgendwas in die Welt setzen, was langweilig ist. Ich will auch nichts in die Welt setzen, was einfach nur lehrerhaft irgendwelche Dinge erklärt, oder wo einfach eine komplette didaktische Ebene notwendig ist, damit man das überhaupt goutieren kann."
Was nicht heißt, dass man nicht daraus lernen dürfte - auch als Band.
"Was deutlich wurde in dieser ganzen Arbeit, ist natürlich - oder nicht natürlich, ich bin nicht der Erste, der diese These aufstellt: Der Zweite Weltkrieg ist nur die Fortsetzung des Ersten. Der Erste Weltkrieg hat nicht befriedigend geendet, und dann fängt er eben irgendwann wieder an. Und in derselben Zeit, in der wir gearbeitet haben im Studio, kommt dann eben als Dimension noch hinzu, dass an denselben Verwerfungslinien in Europa sich schon wieder diese Konflikte auftun! Diese Annexion der Krim und so, das ist ja alles passiert, während wir das gemacht haben. Und wenn man dann so was wie "The Willy-Nicky-Telegrams", also ein Stück, was nur basiert auf der telegrafischen Korrespondenz zwischen Nicky, dem Zar von Russland und Willy, dem deutschen Kaiser - ist man natürlich versucht, nach ner Weile dann auch zu denken: Ja eigentlich könnte das jetzt auch "Die Angie-Wladi-Korrespondenz" heißen."