Karin Fischer: Die jüngste Flüchtlingskatastrophe auf dem Mittelmeer mit bis zu 950 Toten ist nicht nur eine Folge von Krieg, Armut, politischer Unterdrückung oder Hoffnungslosigkeit, sondern auch der europäischen Flüchtlingspolitik, die im Grunde keine ist. Die Erklärungen, wer alles durch Unterlassung schuldig geworden sei, steigen exponentiell an an Tagen wie heute, ebenso aber das Gefühl der Hilflosigkeit bei allen Beteiligten und Unbeteiligten.
Die Politiker wollen das Flüchtlingsproblem extern lösen, also die Lebensbedingungen vor Ort verbessern. Das aber liegt nicht in ihrer Hand. Europa selbst schottet sich ab, mit Frontex noch mehr als mit dem früheren Modell Mare Nostrum, das auch etwas freundlicher klang. Was wir jetzt wieder gelernt haben: Mehr Hilfe bedeutet mehr Flüchtlinge, mehr Schlepper, besser organisierte Meeresrouten nach Europa. Aber stimmt das denn?
"Das ist ein politischer Ausnahmezustand"
Den Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen, Claus Leggewie, habe ich vor der Sendung gefragt, ob er als Chef eines bedeutenden Think Tanks Modelle kennt, wie diese Situation, die täglich Menschenleben kostet oder gefährdet, entschärft werden könnte.
Claus Leggewie: Natürlich habe ich keine Patentrezepte. Es wäre auch gut, wenn wir angesichts dieser menschlichen Tragödie einen Moment innehalten würden und zugeben, dass keiner die Lösung parat hat. Das ist ein politischer Ausnahmezustand, in dem wir uns bewegen.
Das ist kein Problem der Politiker, bei dem sich die Gesellschaft zurücklehnen kann. Die Politiker, die ich kenne, suchen nach neuen Policy-Instrumenten. Aber das trifft eben auf die Pfadabhängigkeiten einer Flüchtlings- und Einwanderungspolitik, die eigentlich von vorvorgestern ist und die der neuen Situation nicht angemessen ist.
Ich glaube, wir müssen unterscheiden zwischen der direkten Hilfe für Bürgerkriegsflüchtlinge - und das muss tatsächlich erst mal in der Region mit der Schaffung von "safe haven", also mit sicheren Zufluchtsorten für mögliche Flüchtlinge beginnen, dann natürlich Frontex in ein Instrument ausbauen, das die Sicherheit nicht von uns schützt, sondern die Sicherheit derjenigen, die sich da aufs Meer begeben, und das dann hier weitergeht im Sinne einer Traumaverarbeitung. Was wir erleben sind hoch traumatisierte Menschen, ob die nun aus Syrien oder aus Somalia oder aus anderen Regionen kommen.
"Große Zahl von Klimaflüchtlingen in der Zukunft"
Dann haben wir es zu tun mit Armutsflüchtlingen aus Schwarzafrika, die dieselben existenziellen Ängste an die Küsten treibt und natürlich auch dieselbe Situation in den Booten, aber hier bietet sich natürlich eine Regularisierung von Einwanderung in Europa an. Das heißt, dieser Kontinent sagt ohnehin, wir müssen auf die Dauer Einwanderung möglich machen, also soll er es eben jetzt tun und nicht zehn Jahre warten.
Und schließlich, um es noch etwas dramatisch zuzuspitzen: Wir werden in Zukunft eine große Zahl von Klimaflüchtlingen noch zu gewärtigen haben, die die Weltgemeinschaft in Form von Kontingentierung aufteilen muss. Viele derjenigen, die jetzt zu uns kommen, sind auch längst Klimaflüchtlinge, weil viele Bürgerkriege den Anlass einer ökologischen Dürre oder anderer Umweltschäden haben, und viele, die aus Schwarzafrika kommen, längst deswegen arm sind, weil die ökologischen Probleme dort viel zu groß geworden sind.
Fischer: Damit haben Sie jetzt, Claus Leggewie, viele Felder angesprochen, auch viele unterschiedliche. In Europa heißt es immer, sehr viel mehr Flüchtlinge als jetzt könnten wir nicht aufnehmen. Aber stimmt das denn wirklich?
"Menschen kommen aus höchster existenzieller Not"
Leggewie: An was misst sich das? Das müsste dann immer zurückgefragt werden. Misst sich das an der Propaganda rechtspopulistischer Kreise, die sagen, das Boot ist voll? Das erleben wir schon seit den 70er-, 80er-Jahren. Misst sich das an der Kapazität einzelner Kommunen, teilweise Nothaushalts-Kommunen, die dann auch noch Geld für Flüchtlinge bereitstellen sollen, die dann Wohnraum und Unterkünfte bereitstellen sollen, was für die objektiv sehr schwierig ist? Misst sich das an der Bevölkerungsdichte in Europa? Misst sich das an bestimmten regionalen Bevölkerungsdichten, oder misst sich das an einer politischen Situation, die wir klar erkennen?
Diese Menschen kommen doch nicht zu uns aus Daffke oder weil sie in die Sozialsysteme einwandern wollen. Sie kommen zu uns in aller Regel, von Missbrauchsfällen abgesehen, aus höchster existenzieller Not, und da gibt es keine sozusagen Quantität, hinter der dann man sagen kann, jetzt ist Schluss.
Wir kennen das doch aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Wir denken gerade an den armenischen Völkermord, der auch ein solcher war, und auch dort war es natürlich so, dass sich alle Staaten den Flüchtlingen gegenüber restriktiv verhalten haben. Aber wir wissen, wie schwierig das für die Menschen im Einzelnen war und wie gut es für Menschen ist, die aus Europa geflohen sind im Dritten Reich oder auch vor dem Gulag geflohen sind, dass sie Zuflucht gefunden haben.
Das heißt, wir müssen hier einfach nach oben gehen mit unseren Flüchtlingszahlen. Es ist Unsinn, dass dies eine Einladung an Schlepperbanden oder an Armutsflüchtlinge ist, wenn wir das tun, worüber wir eben schon gesprochen haben.
"Härtere Reaktion gegen rechtsradikale Menschen"
Fischer: Sie haben gerade schon Beispiele aus der Geschichte genannt, Herr Leggewie, und tatsächlich wäre unser Wohlstand ja wirklich ein positiver Maßstab. Es gibt ja ein durchaus weit verbreitetes Bewusstsein davon, dass wir, soll die Welt denn allgemein gerechter werden, etwas abgeben sollten davon. Und wenn man Leute direkt befragt, ob sie helfen würden, dann würden das auch viele tun. Hinkt sozusagen die Politik dem Anstand der Leute auch hinterher, wenn man jetzt mal Pegida als Phänomen bei Seite lässt?
Leggewie: Ja! In gewisser Weise stimmt das, und das ist auch die große Ressource, aus der wir jetzt in dieser Situation eines Ausnahmezustandes, in der keiner eine Patentlösung bereit hat und in der es hart wird, diese Problematik zu bearbeiten, die größte Ressource ist tatsächlich die überwiegende Bereitschaft der deutschen und europäischen Bevölkerungen, sich mit dem Problem aktiv und hilfreich auseinanderzusetzen und nicht nur darüber zu reden.
Die Störfeuer, die von Pegida, NPD und wem auch immer oder Front National in Frankreich kommen, die muss man energisch beantworten. Zu einer Einwanderungspolitik gehört auch eine härtere Reaktion gegen rechtsradikale Menschen, die die Flüchtlinge vertreiben oder unter Druck setzen. Das gehört alles zusammen und natürlich müssen wir auch deutlich machen, dass das Argument, dass die Ursachen der Flüchtlingsbewegung natürlich draußen, nämlich dort, wo Krieg, Hunger und ökologische Katastrophen sind, dass wir die natürlich auch angehen müssen. Denn in diesem New Deal, dem großen New Deal, der für die Weltgesellschaft insgesamt ansteht, werden natürlich die reichen Nationen zur Solidarität verpflichtet. Das ist doch selbstverständlich, dass man in einer solchen Situation nicht auf seinem Wohlstand hocken bleibt, der letztlich durch die kriegerische Situation weltweit und durch ökologische Katastrophen ohnehin bedroht ist.
Also fangen wir doch besser jetzt an, entsprechend proaktiv hilfreich zu sein, als zu warten, bis sich die Situation immer weiter verschärft. Ich würde empfehlen, hin und wieder in Schriften aus den 70er-, 80er-Jahren reinzuschauen, und es waren nicht irgendwelche Multi-Kulti-Fantasten, die damals gesagt haben, das wird kommen, das ist alles wunderbar, was kommt, sondern diese Szenarien, die jetzt eskalieren, die sind alle voraussehbar gewesen und eine proaktive Politik hätte uns hier gut getan.
"Die Gesellschaft, in der wir leben, benötigt Einwanderung"
Fischer: Dann lassen Sie uns aber doch ein bisschen in die Zukunft schauen und vielleicht auch herumspinnen. Sie haben die 70er-Jahre erwähnt. Bootsflüchtlinge aus Afrika, könnten die entvölkerte Dörfer und Äcker in Brandenburg beleben, indem junge Architekten neue Bauten für eine zukünftige neue Zivilisation entwerfen? Gibt es denn überhaupt solche gesellschaftlichen Utopien konkret heute noch?
Leggewie: Es gibt viele Modelle. Zunächst mal kümmert man sich um Flüchtlingsstädte, die Paul Roemer und andere im Moment sich ausdenken, in den betroffenen Regionen. Aber natürlich können wir uns etwas ausdenken für demographisch schrumpfende Regionen. Es mangelt dort ja nicht an Infrastruktur, es mangelt dort höchstens an der berühmten Willkommenskultur.
Es ist ja auch nicht leicht, Menschen von X nach Y zu verpflanzen. Aber wenn wir die Geschichte der Flüchtlingsbewegung anschauen, ist es genauso gelaufen. In menschenleere oder zunächst mal unwahrscheinlich wirkende Räume sind Flüchtlinge eingewandert. Schauen Sie sich heute ein beliebiges Dorf in Hessen oder Niedersachsen oder Schleswig-Holstein aus der Luft an, dann sehen Sie noch genau, wo die Zubauten der damaligen sogenannten Heimatvertriebenen sind. Die Straßen heißen teilweise auch noch so.
Natürlich kann unsere Gesellschaft das stemmen und es ist gar nicht falsch, hier auch über künftige ökonomische oder Wohlfahrtsvorteile zu reden. Diese Gesellschaft, in der wir leben, benötigt Einwanderung. Sie hat bekanntlich eine sehr ungünstige Alterspyramide und insofern ist hier tatsächlich Platz.
Aber natürlich müssen die Menschen nicht zu uns kommen, die nicht wollen. Eigentlich müssen wir dafür sorgen, dass sie dort bleiben können, wo sie hergekommen sind, und das setzt natürlich auch Instrumente der Außen- und der Entwicklungspolitik voraus, die diese Plätze, aus denen die Menschen kommen, sicherer macht.
Fischer: Das war Claus Leggewie, der Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen, über das Drama der Migration und mögliche europäische Hilfe.
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