"Wir sehen jetzt hier den Schattenbahnhof der Anlage. Er befindet sich auf der untersten Ebene und hat 15 Gleise, sozusagen der Parkplatz der Anlage, und nun fährt gerade die erste Lok hier auf die Strecke."
Nils Nießen leitet das Verkehrswissenschaftliche Institut an der RWTH Aachen. Während er erzählt, setzt sich eine dunkelgrüne Lok mit zwei blauen Waggons in Bewegung.
"Nachdem sie dann diesen Bahnhof verlassen hat und einmal um die Kurve fährt, wird sie dann oben auf der Anlage ankommen und in den ersten Bahnhof einbrechen, und wir sehen sie dann auf der Anlage ankommen."
Erster Halt des Zuges: M-dorf. Das ist einer der Bahnhöfe auf der "Eisenbahntechnischen Lehr- und Versuchsanlage" – kurz: ELVA. In einem Kellersaal der Universität schlängeln sich auf vier Ebenen 1200 Meter Gleise der Spurbreite H0 über einen 20 Meter langen dunkelgrauen Tisch.
Die Anlage im Maßstab 1:87 soll dabei helfen, die Probleme der großen Bahn besser zu verstehen. Und sie soll Studierenden das komplexe Zusammenspiel von Sicherungstechnik und Zugbetrieb vermitteln.
Eisenbahnlabor seit den 1960er Jahren
Deshalb stehen an den Seiten des Saals verschiedene Stellwerktechniken in Originalgröße. Darunter auch massive Hebel, die schon Ende des 19. Jahrhunderts gebaut wurden. Sie sind bei der Bahn teilweise heute noch im Einsatz.
"Wir stehen jetzt vor einem mechanischen Stellwerk mit verschiedenen Hebeln. In Blau dargestellt sind die Weichenhebel. Wenn ich jetzt einen Weichenhebel bediene, muss ich die Handfalle ziehen, den Weichenhebel umlegen, und dadurch wird dann automatisch auf der Modellanlage die entsprechende Weiche umgelegt."
Nur wenn die Weichen richtig eingestellt sind, lässt sich auch der Signalhebel nach unten drücken, der freie Fahrt signalisiert. Um diese Grundlagen der Sicherungstechnik zu vermitteln, wurde die ELVA in den 60er Jahren gebaut. Künftig aber soll sie immer mehr der Forschung dienen.
Komplett digital gegen Störungen im Betriebsablauf
Dafür wurde die Anlage drei Jahre lang komplett renoviert. Viele Arbeitsstunden und 750.000 Euro wurden investiert in neue Schienen, Züge und Sensoren. Dazu ein hochmodernes elektrisches Stellwerk, das per Mausklick vom Computer aus bedient werden kann.
Eigentlich ein Traum für jeden Modelleisenbahner. Aber Nils Nießen beschäftigt sich privat gar nicht mit Miniaturzügen. Sein Kollege und Laborleiter Jürgen Jacobs hat zu Hause eine Modellbahnanlage, die ruht aus Zeitgründen aber gerade. Die ELVA muss für ihn nur eins sein: funktional:
"Wir haben natürlich nur den Anspruch, die Technik und den Eisenbahnbetrieb und die Eisenbahnsicherungstechnik darzustellen. Das heißt, bei uns finden Sie explizit nur alles das, was dafür auch notwendig ist. Insbesondere keine Häuser, keine Bäume und sonstige Dinge, was Sie im Endeffekt im Modellwunderland oder sonstwo bei diesen Showanlagen finden werden."
"Wir haben natürlich nur den Anspruch, die Technik und den Eisenbahnbetrieb und die Eisenbahnsicherungstechnik darzustellen. Das heißt, bei uns finden Sie explizit nur alles das, was dafür auch notwendig ist. Insbesondere keine Häuser, keine Bäume und sonstige Dinge, was Sie im Endeffekt im Modellwunderland oder sonstwo bei diesen Showanlagen finden werden."
Dominoeffekt bei Zugverspätungen
Aktuell läuft ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertes Projekt. Es geht um ein altes Problem: Nach einer ersten Verspätung – zum Beispiel wegen eines gestörten Signals – gerät eine Zugfahrt aus dem Takt. Und diese Urverspätung pflanzt sich dann wie ein Dominoeffekt fort.
"Auf der Anlage können wir das modellieren, indem wir gezielt Urverspätungen einstreuen. Wir können ein Streckengleis sperren, eine Weichenstörung simulieren. Dadurch ist unser Fahrplan gestört und wir erkennen an der Anlage, wie sich das auswirkt, welche Zugfahrten davon betroffen sind und welche geeigneten Maßnahmen der Disponent ergreifen muss, um wieder einen flüssigeren Betrieb hinzubekommen."
Dabei haben die Forscher grundsätzlich zwei Arten von Konflikten im Blick:
"Zum einen ist das der sogenannte Anschlusskonflikt. Das ist, wenn im Bahnhof eine Zugfahrt Verspätung hat, Reisende dort umsteigen möchten, und aufgrund der Verspätung ein Zug auf einen anderen warten muss, um diesen Übergang zu ermöglichen. Die zweite Konfliktart ist der sogenannte Belegungskonflikt. Der ergibt sich, wenn zwei Züge zeitgleich auf die Strecke ausfahren möchten, wenn sie also die Infrastruktur zur gleichen Zeit beanspruchen. Das geht nicht, das wird durch die Signale geregelt. Auch hier muss dann eine Zugfahrt warten und erleidet eine Verspätung."
Algorithmen sollen die Auswirkung von Störungen minimieren
Im Moment entscheiden noch menschliche Disponenten, welcher Zug Vorrang bekommt. Künftig aber sollen das immer öfter Algorithmen übernehmen. Weil aber der Schritt vom Computer zur echten Bahn zu groß wäre, dient die ELVA sozusagen als Zwischenetappe, um die neuen Techniken zu testen.
Nach dem Projekt will Nils Nießen der Bahn die Ergebnisse präsentieren. Er hofft darauf, dass sie eines Tages helfen können, Züge wieder pünktlicher zu machen. Aber er wird Geduld brauchen.
"Eisenbahn ist schon ein recht träges System. Es dauert halt mehrere Jahre, teilweise Jahrzehnte, ehe Innovationen sich durchsetzen können. Die Hoffnung wäre, dass sich das in den nächsten fünf bis zehn Jahren im Eisenbahnbetrieb etabliert, und dass wir erst Computersysteme zur Unterstützung einsetzen können und langfristig dann den Disponenten durch Computerprogramme komplett ersetzen."
"Eisenbahn ist schon ein recht träges System. Es dauert halt mehrere Jahre, teilweise Jahrzehnte, ehe Innovationen sich durchsetzen können. Die Hoffnung wäre, dass sich das in den nächsten fünf bis zehn Jahren im Eisenbahnbetrieb etabliert, und dass wir erst Computersysteme zur Unterstützung einsetzen können und langfristig dann den Disponenten durch Computerprogramme komplett ersetzen."
Bis dahin wird es noch eine Weile dauern. Und mindestens so lange werden auf der Eisenbahntechnischen Lehr- und Versuchsanlage in Aachen die Züge weiter fahren.