In Ottawa ist eine neue Zeitrechnung angebrochen: "It’s Stützle time" kündigt der Hallensprecher an.
Tim Stützle, ein 19-jähriger Teenager aus Tönisvorst am Niederrhein, soll die seit Jahren schwächelnden Senators endlich aus der Krise führen. Er gilt in Kanadas Hauptstadt als Hoffnung, Versprechen und Perspektive zugleich. Als die NHL-Vereine im Herbst bei der so genannten Draft die weltweit besten Nachwuchsspieler unter sich aufteilten, wählte Ottawa Tim Stützle - und zwar bereits an dritter Stelle. Wer so früh auserkoren wird, der soll später mal das Gesicht des Vereins werden, Führungsspieler und Leistungsträger. Stützle hat damit kein Problem:
"Deswegen wurde ich so hoch gedrafted, um vielleicht da auch ein bisschen einen Umschwung zu machen. Für mich ist das eigentlich einfach nur eine Ehre, dass ich so hoch angesehen werde und ich versuche einfach, das auch zu bestätigen. Mir macht’s Spaß, wenn ich immer Druck hab’ und immer gut spielen muss und auch mein Bestes zeigen muss."
Sofort als Stammspieler in Ottawa etabliert
Nun ist das mit gedrafteten Spielern immer so eine Sache. Einige werden ins Trainingslager ihrer neuen NHL-Klubs eingeladen, um sich mal zeigen zu können, andere bleiben bei ihren Vereinen, um sich dort vorerst weiter zu entwickeln. Tim Stützle hingegen ist sofort Stammspieler in Ottawa geworden. Genau so hatte es sich Manager Pierre Dorion erhofft, als sich die Senators im Oktober für Stützle entschieden haben:
"Tim ist ein Spitzentalent, ein dynamischer Offensivspieler mit großartiger Schnelligkeit, großartigem Eishockey-IQ und tollen Fähigkeiten. Wann immer er auf dem Eis ist, kreiert er im Angriff etwas. Wir freuen uns, ihn nächste Saison bereits im Team zu haben."
Zum Vergleich: Quinton Byfield, der von den Los Angeles Kings an zweiter Stelle und somit eine Position vor Stützle gedrafted wurde, stand noch kein einziges Mal im NHL-Kader.
Mit 19 Jahren ist Stützle derzeit der jüngste Profi der gesamten Liga. Bereits seine Vertragsunterschrift ist in den kanadischen Medien ein großes Thema gewesen. Es war von einer "Waffe" die Rede, einem "spektakulären Starspieler" und "ganz viel Potential".
Stützle sagt: "Der Hype, wo ich nach Ottawa gekommen bin, war schon sehr, sehr groß. Das habe ich auch gemerkt in den sozialen Medien."
"Hat alles, was man braucht"
So viel Aufregung um einen deutschen Spieler hat es nicht einmal gegeben, als Leon Draisaitl 2014 in die Liga kam. Wie Stützle wurde auch er damals an dritter Stelle ausgewählt. Draisaitl spielt seitdem für die Edmonton Oilers - ist mittlerweile nicht nur dort ein Star, sondern sogar in der vergangenen Saison Topscorer und "wertvollster Spieler" der Liga geworden. Er traut seinem jungen Landsmann ganz viel zu: "Sehr, sehr talentierter Junge. Er hat alles, was man braucht in der Welt und er wird seinen Weg schon erfolgreich gehen."
Draisaitl und Stützle haben beide Deutschlands bekannteste und beste Talentschmiede durchlaufen - das Nachwuchszentrum der Adler Mannheim. Dort, bei den Jungadlern, ist Marcus Kuhl seit zehn Jahren Sportdirektor. In dieser Zeit hat er sowohl Draisaitl als auch Stützle heranwachsen sehen. Er sagt:
"Kann man nicht vergleichen. Es sind zwei verschiedene Spieler. Beide auf ihre Art und Weise sehr, sehr talentiert. Also Weltklasse-Spieler. Wobei der Leon natürlich außergewöhnlich ist im scoren und von der Größe her, vom Können her."
Profi-Zeit in Mannheim hat Stützle geholfen
Tim Stützle ist als Vierjähriger erstmals in Krefeld auf dem Eis gewesen. Bereits im Schüler-Alter sei er den Mannheimer Nachwuchs-Scouts aufgefallen, sagt Kuhl. Mit 15 Jahren dann der Wechsel vom Krefelder EV zu den Jungadlern nach Mannheim.
"Von Anfang an hatte er ja eigentlich alles, was man zum Eishockey spielen braucht. Die Spielintelligenz, die läuferischen Fähigkeiten, Körperbeherrschung, das Auge, guten Schuss. Er war eigentlich komplett, ja. Musste nur noch reifen, wachsen und seinen Körper trainieren."
Dass sich Stützle auf Anhieb in der NHL durchgesetzt hat, führt er auch auf die vergangene Saison zurück. Während 18-jährige Nachwuchsspieler in Nordamerika in Juniorenligen gegen Gleichaltrige antreten, spielt Stützle bei den Mannheimer Adlern schon vor seinem Wechsel in die NHL Männereishockey. Stützle sagt:
"Das war ja auch der Grund, warum ich in Mannheim bleiben wollte, weil ich einfach von den Jungs auch unglaublich viel lernen konnte, da dann schon vielleicht einen Schritt weiter war, als wenn noch ein Jahr irgendwo Juniorenhockey gespielt hätte."
"Seine Fähigkeiten sind unglaublich"
Doch weil Stützle so lange in Mannheim geblieben ist, war er in Nordamerika lange Zeit lediglich den Experten ein Begriff - bis zur Junioren-WM Ende Dezember/Anfang Januar in Edmonton. Das Turnier hat in Nordamerika einen hohen Stellenwert - und Stützle hatte seine große Bühne. Als Kapitän führte er Deutschland erstmals ins Viertelfinale - und wurde zum besten Stürmer der WM gewählt.
Im Februar dann auch die erste Auszeichnung in der NHL. Stützle wird "Rookie of the month", also Liganeuling des Monats. Mittlerweile hat er 42 NHL-Spiele absolviert, wegen einer Verletzung nur zu Saisonbeginn drei Partien verpasst. Trainer D.J. Smith sieht sein größtes Talent auf einem guten Weg.
"Seine Fähigkeiten sind unglaublich. Aber gerade im ersten Jahr kann diese Liga dich manchmal fertigmachen. Wenn es nicht so läuft, verlierst du an Lockerheit, verkrampfst. Ich denke, Timmy versteht das NHL-Spiel jetzt immer besser. Er ist ein helles Köpfchen und wird für ganz lange ein richtig guter Spieler sein."
Einziger negativer Aspekt: seine Eltern können die ersten NHL-Schritte ihres Sohnes wegen Covid-19 nicht vor Ort verfolgen, sondern nur aus Deutschland, 5800 Kilometer entfernt. Stützle sagt:
"Natürlich war es am Anfang vielleicht nicht das Leichteste für sie. Wenn ich mich vielleicht mal so vier, fünf Tage nicht melde, dann kriege ich schon mal meinen Anruf von der Mama oder vom Papa, dann rufen die zusammen über Facetime an. Aber sonst versuche ich eigentlich, mich ein- oder zweimal die Woche auf jeden Fall zu melden."
Damit die Eltern trotz der Entfernung so viel wie möglich mitbekommen, von seinem neuen Leben in einem neuen Land und einer neuen Liga.