Roland Tomson geht zu seiner Lagerhalle. Eine große Scheune aus Holz. Er zeigt auf ein weißes Boot – ein paar Meter lang – das auf einen Anhänger montiert ist.
"Das Boot ist mein Hauptarbeitsmittel. Mit Boot und Jeep fahre ich dann runter zum Meer. Dann geht es Weiter zur Mole, und in fünf Minuten bin ich an den Netzen."
Dort zieht er dann die Fische aus der Ostsee, vor allem den Europäischen Stint. Roland Tomson ist seit 25 Jahren Berufsfischer, unweit der Kurstadt Pärnu, im Südwesten Estlands.
In der Regel fährt der 45-Jährige jeden Morgen raus, vier Tonnen Fanggut kann er mit seinem Boot transportieren. Das meiste davon wird nach Russland exportiert, ein bisschen auch in die USA.
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Estland – Die Wende nach der Wende".
"Generell geht es mir gut, ich mag meinen Beruf. Er ist anstrengend, aber ich mag ihn. Aktuell sind wir zu zweit, aber auf dem Gelände hier gibt es insgesamt elf Fischer. Zu Sowjetzeiten war das alles Teil einer Kolchose, zwölf Brigaden, zehn Mann, wahnsinnig groß."
Die sowjetische Geschichte wirkt auch hier nach, wie fast überall in Estland. Aber Roland Tomson kommt in der Marktwirtschaft gut zurecht. Er sieht zufrieden aus in seinem Camouflage-Parka mit der aufgenähten Estland-Flagge und mit der Mütze tief im Gesicht.
"Endlich schaut eine Partei auf die einfachen Leute"
Aber ihn stört es, wenn Beamte in Brüssel und Tallinn Fischfang-Entscheidungen treffen, ohne dass sie sich auskennen, wie er jedenfalls meint. Und wenn gleichgeschlechtliche Paare Kinder adoptieren.
"Mit Ekre schaut endlich eine Partei auf die einfachen Leute, und sorgt dafür, dass es ihnen besser geht, dass die Familie wertgeschätzt wird. Ich bin für Ekre und wähle sie seit Jahren."
Die klassische Mann-Frau-Kind-Familie ist der Estnischen Konservativen Volkspartei, kurz Ekre, wichtig. Neben dem Thema Migration und EU-Kritik. Seit einigen Monaten sind die Rechtskonservativen Teil der Regierung. Rund um Pärnu waren sie bei den Wahlen besonders stark.
Die regionale Parteichefin ist Helle Kullerkupp, 57 Jahre alt, gelernte Hebamme. Sie empfängt im Touristeninformationszentrum – Pärnu ist ein beliebter Ferienort.
Ekre kritisiert "Propaganda" für sexuelle Minderheiten
Am Kragen ihres Pullovers trägt sie eine Brosche in blau, schwarz, weiß, die Farben Estlands. Kullerkupp, die in Pärnu auch im Stadtrat sitzt, kommt schnell auf das aktuelle Lieblings-Thema ihrer Partei zu sprechen: die traditionelle Familie und die staatliche Finanzierung von Organisationen, die sich für sexuelle Minderheiten einsetzen.
"Es ist klar, dass es gleichgeschlechtliche Paare seit dem alten Rom gegeben hat. Aber es ist eine andere Sache, wenn das als Ideologie und Propaganda betrieben wird. Was uns hauptsächlich stört, ist, dass das in die Schulen, in die Jugendzentren, und auch in Lehrbücher getragen wurde und dass das vom Staat finanziert wird."
"Ideologie" wirft Ekre Initiativen vor, die sich für die Rechte von LGBT einsetzen, also Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Personen. Seit Wochen kämpft die Partei landesweit dafür, ohne Rückendeckung des Premiers, dass die Unterstützung mit Steuergeldern eingestellt wird.
Politische Bilanz bislang eher bescheiden
Vor kurzem wurde in Pärnu eine Filmvorführung von Ekre-Mitgliedern gestört, Besucher einer LGBT-Infoveranstaltung wurden beschimpft. Kullerkupp behauptet, die Medien würden die Ereignisse verzerrt wiedergeben. Das gelte auch für die Koalition in Tallinn: Dort gebe es nicht nur Spannungen und Personaldebatten, wie oft dargestellt.
"Keine der bisherigen Regierungen hat in den ersten sechs Monaten so viel erreicht wie die jetzige und so wichtige Themen zur Debatte gestellt."
Große politische Initiativen, die umgesetzt sind und erste Ergebnisse zeigen, gibt es nach Ansicht von Experten bisher nicht. Allerdings hat die Regierung die Alkoholsteuer gesenkt, damit die Menschen für ihre Einkäufe nicht mehr ins Nachbarland Lettland fahren. Eine Rentenreform ist auch geplant.
Lokaljournalistin: "Wir sind besorgt"
Siiri Erala hat eine Ausgabe ihrer Zeitung in der Hand. Sie zeigt auf den Leitartikel, den sie Mitte Oktober geschrieben hat. Kurz nach der Störung der LGBT-Infoveranstaltung.
"Darin steht, dass eine estnische Regierungspartei eine Minderheit drangsaliert. Die ganze Redaktion ist dagegen, Minderheiten zu bedrohen. Und wir sind besorgt: Heute trifft es sexuelle Minderheiten, morgen oder im nächsten Jahr könnten es andere sein."
Siiri Erala, 37 Jahre alt, ist Chefredakteurin von Pärnu Posttimes, eine Lokalausgabe der größten und ältesten Zeitung des Landes.
Wenn Erala über den Wahlerfolg von Ekre in der Gegend erzählt, wechselt sie ins Estnische. Ekre sei im Wahlkampf sehr präsent gewesen, Parteichef Mart Helme kommt von hier. Und:
"Im Landkreis leben die Leute in Dörfern, wo man von einem estnischen Durchschnittsgehalt nur träumen kann. Ekre hat emotionale Themen aufgegriffen, die mit einfachen Worten erklärt werden können. Die anderen Parteien haben oft darüber geredet, dass man Probleme auf dem Land mit schnellem Internet lösen kann. Das ist für die Leute vielleicht schwer begreiflich."
Politische Adresse für die, die sich alleingelassen fühlen
Viele Wähler hätten ihr auch erzählt, dass sie sich von den anderen Parteien vernachlässigt und im Stich gelassen fühlen, sagt Siiri Erala. Ekre hätte ihnen zugehört.
Aber den Punkt mit der Vernachlässigung sieht die Journalistin nicht.
"Es geht der Region Pärnu wirtschaftlich nicht so schlecht, und es gibt hier diese Mentalität, dass wir unser Leben selbst in die Hand nehmen und klarkommen. Ein dominantes Gefühl der Vernachlässigung ist bestimmt nicht vorhanden. Im Gegenteil."
Fischer Roland Tomson läuft eine Holztreppe hoch, auf den Dachboden seiner Scheune. Auf mehreren Stangen hat er ein Fischernetz aufgespannt, das näht er hier zusammen. Es ist jetzt schon 20, 30 Meter lang, am Ende werden es 150 Meter.
"Fischsack nennen wir das Netz hier, das ist ziemlich teuer. Das Material, aus dem es besteht, heißt Dyneema, ein Kilo kostet 100 Euro."
Tomson regt sich gern über die EU-Direktiven und Regeln beim Fischfang auf. Aber für das Netz braucht er die Europäische Union: 75 Prozent der Kosten übernimmt Brüssel.