Jetzt ist der Islamische Staat auch in der deutschen Theatersprache angekommen. Als der Henker, von ihrer Mutter Klytämnestra beauftragt, die wütende Rebellin Elektra töten soll, hält er ihr von oben herab das Messer an die Kehle – dieses mörderische Medienbild des IS hat sich Westeuropäern mittlerweile eingebrannt. Doch was folgt aus der extremen Metapher? Höchstens, dass vermeintlich gerechte Gewalt jederzeit in terroristische Mega-Gewalt übergehen kann. Wenn es keinen Feind gibt, gegen den man Revolution machen kann, kann sich die Wut über schlechte Verhältnisse nur noch in Totalzerstörung und Selbstdestruktion entladen.
Das ist der Grundgedanke bei der Elektra-Version des Dortmunder Dramaturgen Alexander Kerlin. Von Euripides' Version ist in seiner Fassung nur der Anfang erkennbar: Elektra, die wütende Tochter, heiratet denjenigen, der sie gerade noch umbringen wollte und wird Bauersfrau. Im Schauspiel Dortmund schleppt sie als Aschenputtel in 30er-Jahre-Arbeiter-Uniform staubigen Schotter über die Bühne und schlachtet auf der Videoleinwand Schweinehälften, um sich schon mal im Töten zu üben, bis der Bruder kommt. Euripides' antiker Chor ist zu zwei Landmädchen geworden, die sie in schwingenden Röcken auf Schritt und Tritt verfolgen und lustig, ironisch und zynisch als private Einpeitscherinnen fungieren.
Als Orest und Pylades endlich wie zwei Rucksacktouristen vorbeikommen, wirft sich Elektra Orest erst einmal lüstern an den Hals, bis hin zur großzügigen Vergabe ihres Slips – während sein Freund Pylades völlig unauffällig in der Ecke herumsteht. Dann werden freudetaumelnd die Rachepläne gegen die Mörder des Vaters Agamemnon entwickelt.
Die Botschaft: Eindeutige Feindbilder und Gewissheiten haben sich heute aufgelöst
Paolo Magelli inszeniert Kerlins "Elektra" zunächst wie einen gerechten Partisanenkampf der 30er-Jahre, inklusive passender Frisuren und Kostüme. Erst, als der Racheplan in die Tat umgesetzt werden soll, zeigt sich, dass die Bösen nicht so eindeutig zu erkennen sind. In Alexander Kerlins radikaler Umdeutung des Elektra-Stoffs wird selbst der trojanische Krieg zur inszenierten Verschwörungstheorie, die nur dazu gedient hat, Elektra und Orest zu radikalisieren. Und Klytämnestras Mord an ihrem Ehemann Agamemnon wird vielleicht zur gerechten Tat.
Elektra als Kind: "Helena hat Griechenland verraten."
Klytämnestra: "Nein. Das ist die geschminkte Geschichte der Verschwörung. Die Wahrheit ist: sie sind nie nach Troja gelangt. Ein Sturm verschlug sie nach Ägypten, wo sie bis heute friedlich miteinander leben. Helena war eine Ausrede. Agamenon wollte Griechenland großmachen... Helena war der schönste Vorwand für einen Krieg, den die Geschichte je gesehen hat.
Elektra/Orest: "MAMA du lügst! Du lügst! DU LÜGST!"
Wer hat hier Recht? Wer hat hier wen instrumentalisiert? Das weiß heute wohl niemand mehr so genau, eindeutige Feindbilder und Gewissheiten haben sich aufgelöst. Und während Elektra ihre Mutter ohne zu zögern noch mit bloßen Händen erwürgt, wird Orest von Zweifeln überfallen: anstatt Ägist zu ermorden, schafft er in Dortmund nur einen blutigen Schweinekopf vorbei und bricht in völliger Verwirrung zusammen. Ein Vakuum der moralischen Werte, in die auf einmal eine neue Dimension des Terrors einbricht: Orests Freund Pylades, der stille Mann in der Bühnenecke, zieht sich einen schwarzen Gestapo-Ledermantel an und erteilt mit der Axt in der Hand willkürliche Befehle, hebt zur ultimativen Nihilismus-Rede an, live untermalt von der edel besetzten Punk-Band LIVE ON STAGE.
Gut gespielt, schön anzusehen - aber wenig differenziert
Von Motiven der Elektra-Oper von Richard Strauss ist da nicht mehr viel zu spüren, vom Elektra-Stoff nichts übrig. Man fragt sich, warum man überhaupt noch einen antiken Stück-Namen benutzt, um mit Holzhammermethoden die ideologische Verwirrung von heute auf die Bühne zu bringen. Wenn sich alle Gewissheiten erledigt haben, so die Analyse, bleiben nur noch Macho-Ersatzreligionen wie Faschismus oder Islamismus übrig. So schließt sich der Kreis zum Anfangsbild. Und obwohl die Inszenierung gut gespielt, gut getimed, schön anzusehen ist – besonders differenziert ist das nicht.