Archiv

Elektronische Gesundheitskarte
Von der Realität überholt

Seit gut 15 Jahren schon wird sie angekündigt: die elektronische Gesundheitskarte, die zur digitalen Krankenakte werden soll. Doch Ärzte und Krankenkassen blockieren sich seit der Einführung. Die Digitalisierung des Gesundheitswesens steckt fest und Gesundheitsminister Jens Spahn scheint ratlos.

Von Manuel Waltz |
    Gesundheitskarten verschiedener Krankenkassen liegen auf einem Tisch.
    Die elektronische Gesundheitskarte (eGK) gilt seit dem 1. Januar 2015 als Versicherungsnachweis der gesetzlichen Krankenversicherung (dpa / Jens Kalaene)
    Die Idee vom Anfang der 2000er-Jahre klang gut: Die Digitalisierung des Gesundheitswesens wird von denen organisiert, die das auch umsetzen müssen. Die Verbände von Ärzten, Apothekern, Krankenhäusern und die Krankenkassen sollten in einer gemeinsamen Gesellschaft, der Gematik, die elektronische Gesundheitskarte entwickeln. Dazu: die notwendige technische Infrastruktur samt Datenschutz. Ein Milliardenprojekt. Die Bilanz bei Tino Sorge, Gesundheitspolitiker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, fällt heute ernüchtert aus.
    "Der auch politische Denkfehler war vor vielen Jahren, dass man meinte, dass ein politisch organisiertes Konstrukt, auch in Kooperation mit den Selbstverwaltungskörperschaften, dazu imstande wäre, technische Lösungen am Markt zu entwickeln. Aber das funktioniert ja nicht."
    Vernetzt, sicher, effizienter: So soll, so könnte ein digitales Gesundheitswesen aussehen, und sein Kernstück sollte die Krankenkassenkarte sein, die zur elektronischen Krankenakte wird – soweit der Plan aus dem Jahr 2003. Doch Ärzte und Kassen blockierten sich, alles wurde teurer und dauerte länger. Ende dieses Jahres soll das System eigentlich fertig sein. Doch das scheint auch in der Regierungskoalition keiner mehr zu glauben. Stattdessen könnten einzelne Krankenkassen und Internetkonzerne neue Standards setzen.
    "Und in zwei bis drei Jahren diese privaten Marktanbieter so eine hohe Marktabdeckung haben, dass wenn dann die Telematik-Infrastruktur, so wie von der Selbstverwaltung angedacht, im Rahmen der Gematik an den Markt geht, wenn wir weitere Verzögerungen haben, dass dann die Nutzer sagen: Ist mir egal, ich habe schon längst andere Systeme, die für mich gut funktionieren und die deshalb gar nicht genutzt wird."
    System von der Realität überholt
    Tino Sorge verweist darauf, dass das System von der Realität überholt wurde. Als man sich im Gesundheitsministerium, noch unter SPD-Ministerin Ulla Schmidt, die elektronische Gesundheitskarte ausgedacht hat, da hatte noch kaum jemand ein Smartphone. Heute aber bieten Krankenkassen, Apple oder Google Apps an, die Krankendaten speichern und verarbeiten, elektronische Krankenakten also. Davon ist die Gematik noch meilenweit entfernt.
    Im Süden von Leipzig ist Schwester Lysann hinter den Empfangstresen einer großen Gemeinschaftspraxis gegangen. Diese Praxis hier ist etwas Besonderes, denn im Gegensatz zu den meisten anderen hat sie schon die neuen Geräte, Konnektoren genannt, in die die Gesundheitskarten der Patienten gesteckt werden.
    "Der liest die Karte ein, dann wird das online abgeprüft, und hier sind dann diese Daten, die sich dann geändert haben zum vorherigen Quartal. Also hier sieht man dann zum Beispiel, der Patient war vorher Mitglied, ist jetzt Rentner."
    Die Daten sind jetzt zwar aktuell, dafür dauert es länger als vorher, berichtet Schwester Lysann. Auch mit dem Anschließen der Konnektoren war sie eine Weile beschäftigt, erinnert sie sich.
    Nutzen ist bisher überschaubar
    "Mit hohem Zeitaufwand mussten wir einfach diese Geräte auspacken, und dann wurde das kontrolliert, das wurde alles überprüft, ob das alles so richtig ist, ob das ordentlich versiegelt ist."
    Nur ganz wenige Arztpraxen haben diesen Schritt bisher gemacht. Die einzigen Konnektoren, die dem Bundesamt für Informationssicherheit sicher genug sind, passen meist nicht zu den Computer-Systemen, mit denen die Praxen arbeiten. Schwester Lysann zeigt den Serverraum, wo sich das Herz des Systems befindet.
    Älterer Mann schaut auf sein Smartpone, das Blutdruckwerte anzeigt.
    Das Smartphone zeigt die Blutdruckwerte an. (imago )
    "Der Raum, wo sich diese Box befindet, muss abgeschlossen sein, dass das nicht gestohlen werden kann, und darüber, ja, wird dann sozusagen die sichere Verbindung zur Krankenkasse aufgebaut und die Daten abgeglichen, derzeit."
    Gesundheits-Apps erobern den Markt
    Sehr viel Aufwand, um bislang bloß die Stammdaten der Patienten abzugleichen, aktuelle Adresse und Telefonnummer etwa: Der Nutzen des teuren Systems ist bisher überschaubar. Anders die Gesundheits-Apps, die derzeit den Markt erobern – ohne dass deren Nutzer sich besondere Gedanken um Datensicherheit zu machen scheinen.
    Kanzlerin Angela Merkel hat deshalb Gesundheitsminister Jens Spahn dazu aufgefordert, auch zu prüfen, wie diese Handy-Anwendungen künftig in das System integriert werden. Ein richtiger Weg, findet Parteifreund Tino Sorge.
    "Wir müssen darauf achten, dass wir ein System etablieren, also Grundstandards, die für alle gelten, und dass im Rahmen dieser Grundstandards die Anbieter ihre jeweiligen Lösungen auch im Markt platzieren können."
    Jens Spahn mit Angela Merkel im Bundestag
    Kanzlerin Angela Merkel lässt den Gesundheitsminister prüfen, wie Apps in das System integriert werden können. (imago stock&people)
    Für den Linken-Gesundheitspolitiker Achim Kessler klingt das allerdings zunehmend verzweifelt - und wie der Anfang vom Ende der elektronischen Gesundheitskarte.
    "Wie in eine noch nicht funktionierende Infrastruktur auch noch Apps integriert werden sollen, die ja eine weitere Sicherheitslücke darstellen, das hat er bis jetzt nicht ausgeführt, und wir können nur gespannt sein. Aber ich habe den Eindruck, dass es keine Strategie und keine technische Lösung gibt, die bereits ausgearbeitet wäre."
    Gesundheitsminister Spahn bekennt sich zur eKarte
    Gesundheitsminister Spahn hat zwar nach einigen missverständlichen Andeutungen jüngst sein Bekenntnis zur eKarte erneuert. Doch Kessler hört auch von Ärzten, die angesichts der Lage zögerten, die Konnektoren anzuschaffen.
    "Diejenigen, die mit dem System arbeiten sollen, sind unsicher, ob es tatsächlich zum Einsatz kommen wird. Ich finde, da ist jetzt auch dringender Handlungsbedarf geboten. Also der Gesundheitsminister Spahn muss jetzt einfach erklären, wie es weiter gehen soll."
    1,8 Milliarden Euro sind seit 2008 in das System geflossen, das bisher nur rudimentär funktioniert. Auch CDU-Mann Tino Sorge findet, dass nun bald konkrete Fortschritte sichtbar werden müssen.
    "Und jetzt immer mit dem Argument: Wir haben da schon viel Geld ausgegeben, jetzt können wir da nicht mehr zurück, halte ich für falsch. Würde ich auch sagen, im Zweifel alles auf Neustart, beziehungsweise auch neue Schwerpunkte setzen."
    "Alles auf Neustart" - das klingt derzeit allerdings ungefähr so realistisch wie "Einführung zum Jahr 2019".