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Elementarteilchen entlarven Langfinger

Physik. - Neutrinos galten unter Physikern lange als wahre Geisterscheinung, denn sie treten mit anderer Materie kaum in Interaktion und können daher auch nur schwer nachgewiesen werden. Doch ausgerechnet die spukhaften Partikel sollen jetzt helfen, Plutoniumdiebe zu überführen.

Von Ralf Krauter | 24.04.2006
    Der Physiker Nathaniel Bowden ist überzeugt, dass Neutrinos nach Jahrzehnten der Grundlagenforschung nun endlich auch einmal für praktische Anwendungen herhalten sollten. Angewandte Neutrinophysik – so bezeichnen Bowden und seine Kollegen von den Sandia National Laboratories im kalifornischen Livermore ihre Arbeit. Die Forscher konnten zeigen, dass Neutrinos ein nützliches Werkzeug für die Überwachung des nuklearen Brennstoffkreislaufes sind.

    "Neutrinoforscher benutzten früher häufig Kernreaktoren als billige Neutrinoquellen – etwa als sie herausfinden wollten, ob Neutrinos eine Masse haben oder nicht. Für diese Experimente verwendete man die Antiteilchen der Neutrinos, so genannte Antineutrinos, die bei jeder Kernspaltung entstehen, als eines der Reaktionsprodukte beim radioaktiven Betazerfall. Im Laufe der Versuche hat man gelernt, dass die Zahl der frei gesetzten Antineutrinos davon abhängt, wie viel Uran und Plutonium in den Brennstäben des Reaktors enthalten ist. Und wir drehen den Spieß jetzt einfach um. Wir verwenden diese Abhängigkeit der Antineutrino-Emission zur Überwachung des spaltbaren Materials."

    Um zu verhindern, dass waffentaugliches Uran oder Plutonium in falsche Hände gerät, überwacht die Internationale Atomenergie Agentur IAEA weltweit minutiös, wie viel spaltbares Material in Kernkraftwerken verbraucht wird und wohin das entstandene Plutonium gelangt. Allerdings müssen sich die Experten in Wien dabei bislang mit Informationen aus zweiter Hand begnügen. Die Kraftwerksbetreiber melden Brennstoffart und –verbrauch und die Fachleute der IAEA prüfen dann die Plausibilität dieser Angaben.

    "Wir wollten zeigen, dass man mit einem relativ kleinen Neutrinodetektor in der Nähe eines Kernreaktors ziemlich genau überwachen kann, mit welcher Rate er angereichertes Uran in Plutonium umwandelt."

    Verglichen mit den Riesendetektoren, die Grundlagenforscher weltweit betreiben, um mehr über die Geisterteilchen zu erfahren, ist die Antineutrino-Spürnase, die Nathaniel Bowden und seine Kollegen entwickelt haben, ein Winzling. Ein Tank mit einem Kubikmeter einer speziellen Nachweisflüssigkeit genügt. Ein aberwitzig kleiner Bruchteil aller hindurch fliegenden Antineutrinos verrät sich darin durch kurze Lichtblitze. Aufgrund der Myriaden von Teilchen, die ein Kernreaktor freisetzt, ist die niedrige Detektionsrate aber überhaupt kein Problem. Ein gängiger drei Gigawatt-Druckwasserreaktor produziert täglich rund zehn hoch 22 Antineutrinos – eine eins mit 22 Nullen. Bei voller Reaktorleistung gehen den Forschern so selbst mit ihrem Mini-Detektor jeden Tag rund 400 Antineutrinos ins Netz – genug für eine vernünftige Statistik, das belegen die Testmessungen an einem Atomkraftwerk in Kalifornien.

    "Die Antineutrino-Signatur verrät uns nicht nur ziemlich genau, mit welcher Leistung der Reaktor gerade läuft. Wir sehen auch, mit welcher Rate das Uran in den Brennstäben in Plutonium umgewandelt wird. Bei der Spaltung eines Uranatoms entstehen nämlich etwas mehr Antineutrinos als bei der Spaltung eines Plutoniumatoms. Im laufenden Betrieb sinkt die Antineutrino-Emission deshalb allmählich. Während eines typischen Brennstoffzyklus von eineinhalb Jahren entstehen in den Brennstäben eines Druckwasserreaktors etwa 300 Kilogramm Plutonium. Im gleichen Zeitraum sinkt die Antineutrino-Zählrate um fünf bis zehn Prozent."

    Wodurch sich der Plutonium-Gehalt der Brennstäbe per Ferndiagnose ermitteln lässt. Ein Antineutrino-Detektor in 30 oder 50 Metern Entfernung vom Reaktor genügt, um ins Innere zu spähen und den Atomkontrolleuren in Echtzeit verlässliche Daten zu liefern. Und weil Antineutrinos durch nichts aufzuhalten sind, hätten Nuklear-Hasardeure de facto keine Chance, die Messwerte so zu beeinflussen, dass sie unbemerkt spaltbares Material abzweigen können.