Auf kein Buch wartete man in Italien im vergangenen Herbst sehnlicher als auf das von Elena Ferrante. Ihr kleiner römischer Verlag e/o gab die ersten Zeilen schon einige Monate zuvor per Twitter bekannt, ohne den Titel zu verraten, Journalisten mutmaßten über den Inhalt, ungeduldige Leserinnen und Leser meldeten sich im Netz zu Wort, die Druckfahnen wurden bis zum letzten Moment unter Verschluss gehalten und dann in einem Schwung mitten in der Nacht an die Rezensenten verschickt. Und am Abend vor dem Erscheinungstermin fanden landauf, landab Partys mit Lesungen statt.
Geschickt bewirtschaftete Ferrantes Verlag die Aura der geheimnisvollen Schriftstellerin. Bis heute hält die Autorin unbeirrbar an ihrer Anonymität fest; zu der unsympathischen Enthüllungsaktion ihrer vermeintlichen Identität durch den Wirtschaftsjournalisten Fabrizio Gatti vor vier Jahren nahm sie nie Stellung. Stattdessen erfand sie eine neue Heldin, die mit folgenden Worten ihre Stimme erhebt:
"Zwei Jahre bevor mein Vater von zu Hause wegging, sagte er zu meiner Mutter, ich sei sehr hässlich. Der Satz wurde leise gesprochen, in der Wohnung, die sich meine Eltern, frisch verheiratet, im Rione Alto, oben in San Giacomo dei Capri, gekauft hatten. Alles – Neapels Orte, das blaue Licht des eisigen Februars, jene Worte – ist geblieben. Ich dagegen bin weggeglitten und gleite auch jetzt noch weg, in diese Zeilen hinein, die mir eine Geschichte geben wollen, während sie eigentlich nichts sind, nichts von mir, nichts, was wirklich begonnen oder wirklich seinen Abschluss gefunden hätte: nichts als ein Knäuel, von dem niemand weiß, nicht einmal, wer dies hier gerade schreibt, ob es den passenden Faden einer Erzählung enthält oder nur ein verworrener Schmerz ohne Erlösung ist."
Weggleiten aus der eigenen Gefühlswelt
Dies ist der Auftakt von Ferrantes neuem Roman "Das lügenhafte Leben der Erwachsenen". Ein glänzender Einstieg, und Ferrante-Leser stoßen auf ein Motiv, das ihnen aus der neapolitanischen Tetralogie und den Essays vertraut ist: Ein Weggleiten aus der eigenen Gefühlswelt, bei dem etwas in Rutschen gerät und sich genau in dem Moment entzieht, in dem diesen Erfahrungen durch den Akt des Erzählens Kausalität verliehen werden soll. Denn eine Geschichte hat zwangsläufig einen Anfang und ein Ende. Aber selbst das scheint unsicher zu sein, genauso spürbar, so betont die Stimme, sei ein diffuser Schmerz, der die Abfolge der Ereignisse vernebele. Ein deutliches Signal an den Leser: Wir sollten ihrer Version der Geschehnisse durchaus misstrauen. Die Autorin etabliert schon im ersten Satz eine changierende Doppelung und arbeitet, streng genommen, mit zwei Figuren: der erwachsenen Ich-Erzählerin, die mit dem Wissen um die Gegenwart aus der Retrospektive einen Handlungsfaden entrollt, und der Heldin, einem knapp dreizehnjährigen Mädchen, dem ein ungeheuerlicher Satz ihres Vaters zu Ohren kommt.
Und so sehr die Erzählerin ihre Unsicherheit betont, sie suggeriert schon hier, dass dies der Ausgangspunkt des Zerfalls ihrer Familie gewesen sei. Mehr steht im ersten Kapitel des Romans auch gar nicht, in der typischen, eilig getakteten Ferrante-Dramaturgie folgt gleich ein zweites. Hier lernen wir den Vater Andrea Trada besser kennen. Er ist Lehrer für Philosophie und Geschichte am Gymnasium, politisch wach, charismatisch und seiner Tochter Giovanna, später Giannina oder Nanì genannt, immer zugewandt. Auch sonst versorgt uns die Erzählerin mit einigen Details: Giovanna wurde am 3. Juni 1979 geboren, die Handlung setzt folglich Anfang der 1990er Jahre ein. Die bisher sehr gute Schülerin bekommt plötzlich schlechtere Zensuren, und eines Abends beklagt sich Andrea bei seiner Frau Nella, Giovannas Mutter, Latein- und Griechischlehrerin und nebenbei Korrektorin von Heftchenromanen, über das störrische Wesen Giovannas.
"'Mit der Pubertät hat das nichts zu tun. Sie kommt nun ganz nach Vittoria.' Hätte er gewusst, dass ich ihn hörte, hätte er sicherlich nicht in dieser Art gesprochen, die ganz anders war als unsere gewohnte, fröhliche Unbeschwertheit. Die beiden glaubten, die Tür zu meinem Zimmer wäre geschlossen, ich schloss sie immer, ihnen war nicht klar, dass einer von ihnen sie offengelassen hatte. So erfuhr ich mit zwölf Jahren aus dem Munde meines Vaters, der sich bemühte, leise zu sprechen, dass ich nun wie seine Schwester wurde, eine Frau, die – das hatte ich von ihm gehört, seit ich denken konnte - die Hässlichkeit und die Boshaftigkeit in Person war."
Die neapolitanische Tante
Schockiert betrachtet sich Giovanna von nun an stündlich im Spiegel und beobachtet ihren sich wandelnden Mädchenkörper. Ausgerechnet ihr Vater, den sie liebt und verehrt, spricht so grob über sie. Denn seine Verwandtschaft ist tabu, Andrea war immer froh, der neapolitanischen Unterschicht entkommen zu sein. An die seltenen Besuche bei der Familie ihres Vaters hat das Mädchen nur ungefähre Erinnerungen. Ihre ganze Kindheit hindurch war Vittoria für Giovanna kaum mehr als ein Schreckgespenst aus den Erzählungen ihrer Eltern, verrückt, unberechenbar, impulsiv. Im Kleiderschrank stöbert Giovanna alte Fotos auf, auf denen die Gestalt ihrer Tante mit schwarzem Filzstift übermalt ist. Wie ein Sarg steht sie neben ihrem jungen, gewinnenden Vater.
Über das Motiv der Fotografien verdichtet sich bereits hier, was dann die Dynamik der Handlung bedingt: das Bild, das sich Giovanna von ihren Eltern gemacht hat, bekommt Risse, die Idealisierung zerbricht. Und Vittoria wird zur Obsession. Mit ihren Nöten bleibt Giovanna wochenlang allein, bis sie sich schließlich ihrer Mutter anvertraut. Vittoria missgönne dem Vater den gesellschaftlichen Aufstieg, rechtfertigt Nella den Kontaktabbruch. Doch Giovanna entscheidet, dass sie ihre Tante kennenlernen will. Nach einigen Widerständen akzeptieren ihre Eltern den Wunsch. Vittoria, die als Putzfrau arbeitet, wohnt in Pascone, wie das Viertel der Tante im Roman genannt wird, nahe beim Gewerbegebiet. Es ist dasselbe, in dem die Neapelreihe spielt, auch wenn es dort nicht so heißt, und wieder entwirft Ferrante eine soziale Topographie der Stadt. Während Giovanna im eleganteren oberen Teil aufgewachsen ist, in der Via San Giacomo dei Capri auf dem Vomero, wo die Mittelschicht zu Hause ist, leben die Verwandten des Vaters in ihrem angestammten Quartier weit unten, am Rand der Altstadt. Andrea begleitet seine Tochter im Auto in das Viertel, das aus trostlosen Wohnblocks inmitten von Brachen und verlassenen Industrieanlagen besteht. Von dem armseligen Haus, in dem auch der Vater aufgewachsen ist, bröckelt der Putz.
"Ich klingelte, hielt die Luft an. Nichts. Ich zählte langsam bis vierzig, mein Vater hatte mir vor vielen Jahren geraten, das jedes Mal zu tun, wenn ich mich unsicher fühlte. Als ich bei einundvierzig angekommen war, klingelte ich erneut, dieses zweite Schrillen klang übertrieben laut. Zu mir drang ein Geschrei im Dialekt, eine Explosion heiserer Töne, was zum Henker, immer mit der Ruhe, ich komme ja schon. Dann energische Schritte, ein Schlüssel, der sich gut viermal im Schloss drehte. Die Tür ging auf, eine ganz in Hellblau gekleidete, hochgewachsene Frau erschien, die dichte Mähne pechschwarzer Haare im Nacken zusammengebunden, dünn wie eine gesalzene Sardelle und trotzdem mit breiten Schultern und großem Busen. Sie hielt eine brennende Zigarette zwischen den Fingern, hustete, sagte, zwischen Italienisch und Dialekt schwankend. 'Was ist denn, ist dir schlecht, musst du pissen?' 'Nein.' 'Und wieso klingelst du dann zweimal?' Ich murmelte. 'Ich bin Giovanna, Tante Vittoria.' 'Weiß ich, dass du Giovanna bist, aber wenn du nochmal Tante zu mir sagst, mach lieber auf der Stelle kehrt und hau ab.' Ich nickte, war entsetzt. Einige Sekunden starrte ich in ihr ungeschminktes Gesicht, dann schaute ich zu Boden. Vittoria schien mir so unerträglich schön zu sein, dass ich den dringenden Wunsch hatte, sie als hässlich anzusehen."
Die Sinnlichkeit der Unterschicht
Mit diesem Satz endet der erste Teil von "Das lügenhafte Leben der Erwachsenen" – einer jener Cliffhanger, auf die sich Ferrante so gut versteht, ein erster Höhepunkt, bei dem man schon ahnt, dass Vittoria eine große Anziehungskraft auf ihre heranwachsende Nichte ausüben wird. Die Tante lebt in einer anderen Welt mit anderen Gesetzen, einer anderen Sprache. Bei Vittoria herrscht Direktheit, eine ursprüngliche Religiosität, Sinnlichkeit, keine wohlerzogenen Floskeln, sondern Vitalität. Ihr Bruder, Giovannas Vater? Ein hinterhältiger Typ, der die Tradition der Familie verleugne und sie nicht unterstützt habe bei ihren Plänen. Außerdem habe Andrea ihren Geliebten Enzo verraten. Überhaupt würden ihr die Eltern eine Menge Lügen erzählen. Vittoria legt eine Platte auf, tanzt mit Giovanna, wirbelt sie durch das Zimmer. Und ihre Nichte fängt an, sich selbst mit anderen Augen zu sehen. Ihr fällt auf, wie verwöhnt und angepasst sie ist. Um ihre Empfindungen für sich behalten zu können, verstellt sie sich ihren Eltern gegenüber, erzählt erfundene Geschichten und findet sogar Gefallen daran.
Vittoria scheint sehr viel aufregender als alles, was sie bisher kannte. Ein Entfremdungsprozess setzt ein, der die an sich normale Lösung vom Elternhaus noch forciert. Dieser Prozess knüpft sich an ein ganz bestimmtes Objekt: ein geerbtes Armband, das Vittoria, so sagt sie, der Nichte zur Geburt geschenkt habe. Zuerst wird nur darüber gesprochen, dann taucht es auf, ziert aber immer wieder andere Handgelenke. Ähnlich wie in der neapolitanischen Tetralogie, in der die ambivalente Bindung zwischen Lila und Lenù sich in einer Puppe, die verloren ging, materialisierte, arbeitet Ferrante auch hier mit einer symbolischen Ebene. Das Armband, beinahe ein Märchenmotiv, wird zu einem Unterpfand, gewinnt mit jedem Besitzerwechsel eine neue Valenz. Und plötzlich beginnen die Lebenslügen von Giovannas Eltern zu zerbröseln. Es stellt sich heraus, dass Vittoria Recht hatte – vieles an der Existenz von Andrea und Nella war Fassade. "Das lügenhafte Leben der Erwachsenen" ist also nicht nur die Geschichte einer Jugend im Neapel der frühen 1990er Jahre, sondern vor allem ein weiblicher Entwicklungsroman mit Krisen, Brüchen, Katastrophen und der Demontage zweier bürgerlicher Familien. Auf Zusammenbrüche dieser Art versteht sich Elena Ferrante bestens, sie ist eine äußerst gewiefte Konstrukteurin, die Spannungsbögen angelegt, mit "suspense" operiert, effektvoll Enthüllungen inszeniert, die sich dann als Finte herausstellen und wieder eine andere Wendung nehmen. Welche das sind, darf an dieser Stelle keinesfalls verraten werden, denn die Autorin spielt mit genau diesem ursprünglichen Genuss des handlungszentrierten Lesens, wie wir es aus unserer Kindheit kennen, dem Harry-Potter-Effekt.
Anders als in der Serie über die "Geniale Freundin" geht es hier nicht um den sozialen Aufstieg, den sich ein Mädchen aus der Unterschicht über Bildung erkämpft. Ferrante setzt eine Generation später an und malt sich aus, was passiert, wenn jemand seine Herkunft komplett verleugnet und welche Folgen diese Art der Spaltung hat. Die Autorin bietet nicht einfach eine simple Dichotomie: die bürgerliche, wohl temperierte Welt mit ihren Konventionen auf der einen Seite, die archaische, vitale Welt der plebejischen Neapolitaner auf der anderen. Sich allmählich in ihr eigenes Erwachsenwerden vorzutasten, heißt für Giovanna gerade, Ambivalenzen auszuhalten. Zuerst ist die Bekanntschaft mit Vittoria eine große Befreiung. Die Tante benennt die Dinge, wie sie sind, erklärt der Dreizehnjährigen ohne Scheu, was es bedeutet, mit jemandem Sex zu haben, und für die behütete Giovanna ist dieses Wissen um das eigene Begehren, die eigene Körperlichkeit, schockierend und betörend zugleich. Nach vielfältigen Verwicklungen, bei denen sich die Ich-Erzählerin der eigenen Destruktivität bewusst wird und sie sogar auskostet, lernt sie zwei Jahre später ausgerechnet in der Gemeinde ihrer Tante einen jungen Mann kennt, der genau wie ihr Vater sein Milieu verlassen hat, aber ohne die Verbindung zu kappen: den Universitätsdozenten Roberto aus Mailand, der ursprünglich aus Pascone stammt und sich mit Moralphilosophie beschäftigt. Er hält in der Kirche einen Vortrag.
Das Liebesgeflüster der Groschenromane
"Mir schien, als wäre an seinem Rücken eine lange, nur für mich sichtbare Goldkette befestigt, an der er leicht pendelte, ganz als würde er von der Kuppel herabhängen, seine Schuhspitzen berührten kaum den Boden. Als er den Tisch erreichte und sich umdrehte, hatte ich den Eindruck, dass sein Gesicht fast nur aus den Augen bestand. Sie waren hellblau, hellblau in einem dunklen, knochigen, unregelmäßigen Gesicht, das von einer widerspenstigen Haarmähne und einem dichten, blau schimmernden Bart umschlossen war. Ich war fünfzehn Jahre alt, und kein Junge hatte mich bis dahin wirklich gereizt, schon gar nicht Corrado, schon gar nicht Rosario. Doch kaum hatte ich Roberto gesehen – noch bevor er den Mund auftat, noch bevor er sich für irgendetwas begeisterte, noch bevor er ein Wort sagte -, spürte ich einen heftigen Schmerz in der Brust, und ich wusste, dass sich nun alles in meinem Leben änderte, dass ich ihn wollte, dass ich ihn unbedingt haben musste, dass ich, obwohl ich nicht an Gott glaubte, jeden Tag und jede Nacht dafür beten würde und dass nur dieser Wunsch, nur diese Hoffnung, nur dieses Gebet mich davon abhalten konnten, jetzt, augenblicklich, tot umzufallen."
Wenn das keine melodramatische Szene ist! Dass Roberto längst vergeben ist, schürt die Spannung zusätzlich. Hellhörigkeit ist aber angebracht, denn schließlich war zuvor an drei, vier Stellen davon die Rede, wie Giovanna in den von ihrer Mutter korrigierten und umgeschriebenen Heftchenromanen schmökert. Elena Ferrante bedient genussvoll die traditionelle Form des Romans. Die narrative Struktur ist weniger komplex als in ihrer Tetralogie, das Personal reduzierter, es gibt auch kein vergleichbares Panorama der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Autorin setzt weniger auf die sprachliche Modulation ihrer Milieus als vor allem auf ihre Figuren und deren Psychologie. Über ihre sich beständig verpuppende Ich-Erzählerin haben wir Teil an deren innerem Zustand, und dabei fällt der Umgang Giovannas mit ihren körperlichen Empfindungen und ihrer Sexualität ins Auge, der anfangs durch die Identifikation mit ihrer Tante eine andere Qualität gewinnt. Vittoria erinnert in ihrer starken Emotionalität und in ihrem moralischen Rigorismus ein bisschen an Lila, die begabte, abgründige Freundin aus der Neapel-Reihe. Aber auch Giovanna trägt Züge von Lila, denn für die neue Heldin wird ein unabhängiges, wildes Denken und Studieren zur großen Leidenschaft. Dass es nach ihrem Vater wieder eine paternalistische Figur ist, die dieses geistige Begehren in ihr weckt, gehört zu den Pointen des Romans. Giovanna, die bald mit Robertos Freundin Giuliana eng verbunden ist und auch den jungen Dozenten besser kennenlernt, diskutiert mit ihm nicht nur über Bußfertigkeit, sondern entwirft insgeheim sogar eine kleine moralphilosophische Liebestheorie.
Wieder legt Ferrante etliche Fährten aus, die der auf den ersten Blick simplen ästhetischen Form, genau wie das beständig irisierende Armband auf der Handlungsebene, eine weitere Bedeutungsschicht hinzufügen. Ebenso interessant ist das nie endende Spiel mit Masken, Verstellung und vordergründigen Identitäten. Denn das große Thema im gesamten Werk Elena Ferrantes ist das der Lüge, bei der es sich schließlich im Kern um eine literarische Praxis handelt – Lüge bedeutet Phantasie, bedeutet Befreiung von Zuschreibungen. Alles, was man Lüge nenne, so drückte es der Zeichentheoretiker und Philosoph Umberto Eco einmal aus, sei Gegenstand der Semiotik. Sprache kann also einen täuschenden Charakter entfalten. Ferrante bietet in "Das lügenhafte Leben der Erwachsenen" gleich mehrere Anknüpfungspunkte. Giovannas Mutter lektoriert, wie erwähnt, Heftchenromane, sogenannte "romanzi rosa", also ausschließlich Liebesgeschichten, in denen Giovanna, ähnlich wie Madame Bovary in ihren Ritterromanen, gern herumspickt. Romane, die extra für Frauen geschrieben seien, erklärt das Mädchen ihrer Tante. Genau dasselbe sagt man von Ferrantes Romanen. Das Ganze bekommt den Charakter eines Spiegelkabinetts, einer "mise en abyme" – wir lesen etwas, das vielleicht durch die Hände dieser fiktiven Mutter gegangen ist oder zumindest die Regeln dieses Genres mitschwingen lässt. Hinzu kommt außerdem die Figur der Freundin Giovannas, die etwas jüngere Ida. Ida beginnt, das Leben der Mädchen aufzuschreiben. Hier deutet sich ein Maskenspiel an, bei dem auch die gesamte Inszenierung von Ferrantes anonymer Autorschaft, die Verlagskampagnen und sogar die Umschlaggestaltung in ein anderes Licht rücken. Vielleicht sind wir selbst längst Teil des Ganzen. Was uns nicht davon abhält, Giovannas Zukunft entgegen zu fiebern.
"Als er ins Bad ging, nahm ich das Armband ab und legte es neben das Bett auf den Boden wie ein unheilbringendes Geschenk. Er begleitete mich bis vor die Tür, er war unzufrieden, ich heiter. Am nächsten Tag fuhr ich mit Ida nach Venedig. Im Zug versprachen wir uns, so erwachsen zu werden, wie es keiner anderen vor uns je passiert war."
Tatsächlich gibt es genügend lose Fäden, aus denen sich mindestens zwei weitere Bände mit demselben Personal stricken ließen. Wie dies von statten geht und wie Elena Ferrante das schillernde Lügengespinst weiter gestalten wird? Wir werden es erfahren.
Elena Ferrante: "Das lügenhafte Leben der Erwachsenen"
aus dem Italienischen von Karin Krieger
Suhrkamp Verlag, Berlin. 415 Seiten, 24 Euro.
aus dem Italienischen von Karin Krieger
Suhrkamp Verlag, Berlin. 415 Seiten, 24 Euro.