Archiv

Elena Ferrante: "Geschichte des verlorenen Kindes"
Abschied von den genialen Freundinnen

Mit "Meine geniale Freundin" begann die Neapolitanische Saga von Elena Ferrante, mit der "Geschichte des verlorenen Kindes" endet sie. Die vier Bände mit ihren mehr als 2.000 Seiten erweisen sich als ein großes, realistisches Zeitbild Italiens aus weiblicher Perspektive.

Von Julia Schröder |
    Buchcover: Elena Ferrante: Die vier Bände der Neapolitanischen Saga
    Buchcover: Elena Ferrante: Die vier Bände der Neapolitanischen Saga (Buchcover: Suhrkamp Verlag, Hintergrundfoto: Gerda Bergs)
    Erwachsenwerden ist nichts für Feiglinge - und Altwerden erst recht nicht. Es gilt, Abschied zu nehmen von den beiden genialen Freundinnen. Fast sechzig Jahre umfasst die Geschichte von Raffaella Cerullo und Elena Greco, die einander nur Lila und Lenù nennen und im "Rione", einem namenlosen Armeleuteviertel von Neapel, aufwachsen.
    Elena Ferrantes Neapolitanische Saga hat von Anfang an das Verschwinden zum Thema gehabt, die große Auslöschung. Mit dem vierten und abschließenden Band des Zyklus hat das Verlorengehen es endlich in den Titel geschafft: Die "Geschichte des verlorenen Kindes" erweist und bestätigt, wie auch der Vorgängerband "Geschichte der getrennten Wege", die Bedeutung dieses groß angelegten Erzählprojekts. Und zugleich hinterlässt das Ende der insgesamt mehr als 2.000 Seiten ihre gefesselte Leserin alles andere als zufrieden, sondern aufgestört und weitergrübelnd - so wie es sein soll bei guter Literatur.
    "Kein Mensch erinnerte sich mehr an sie"
    Lenù, die wir schon zu Beginn des ersten Bandes kennen gelernt hatten als alte Frau, die von Lilas spurlosem Verschwinden erfährt, verlassen wir am Ende des letzten Bandes mit der Gewissheit, dass sie die Freundin nie wiedersehen wird. Auch wenn sie all diese Seiten nur aus einem Grund gefüllt hat: um reale Erinnerungsstücke - die sie nicht hat - zu ersetzen mit Erzählung, um Lila in ihrem ganzen aufregenden, zerstörerischen, genialen Widerspruch lebendig zu halten, um die Freundschaft lebendig zu halten und damit sich selbst.
    "Aber Spuren von ihr gab es wirklich keine mehr. Als ich (…) in der Stadt war, schlenderte ich durch den Rione und fragte aus Neugier herum: Kein Mensch erinnerte sich mehr an sie, oder vielleicht taten alle nur so. (…) Wozu sind nun alle diese Seiten gut gewesen? Ich wollte Lila festhalten, sie wieder an meiner Seite haben, und nun werde ich sterben, ohne zu erfahren, ob es mir gelungen ist."
    Mit "Meine geniale Freundin", dem ersten Band des Zyklus, hatte die unter dem Pseudonym Elena Ferrante schreibende Autorin international Furore gemacht. Der Kindheitsroman der 1944 geborenen Mädchen endete 1961 mit der viel zu frühen Hochzeit der unbändigen, hoch begabten und unausrechenbaren Lila und der Entscheidung der ebenso begabten, aber angepassten Ich-Erzählerin Lenù, sich aus dem "Rione" herauszuarbeiten.
    Italienisches Panorama der sechziger Jahre
    Das Buch hatte bei Kritik wie Leserschaft große Neugier geweckt, wie es mit diesen oft gegensätzlich verlaufenden, vielfältig verwobenen Frauenleben weitergehen würde. Und der zweite Band löste diese Hoffnungen nicht nur ein, sondern übertraf die Erwartungen durch ganz neue erzählerische Qualitäten sogar noch. Die ebenso grausame wie pittoreske kleine Welt des "Rione", des Quartiers voller Armut, Gewalt, wilder Aufstiegshoffnung und bösem Blut, weitet sich darin zum italienischen Panorama der sechziger Jahre.
    Elena Ferrante: "Meine geniale Freundin"
    Elena Ferrantes "Meine geniale Freundin" - der erste von vier Bänden der neapolitanischen Saga (Imago / Suhrkamp)
    Lila hat durch die Ehe mit einem aufstrebenden Lebensmittelhändler scheinbar den Aufstieg in ein sorgenfreies Leben geschafft: Sie firmiert fortan als Signora Carracci. Es beginnt die, wie der Romantitel lautet, "Geschichte eines neuen Namens". Der Preis für diesen Aufstieg ist hoch. Ihr Mann kungelt mit den örtlichen Mafiosi, und bereits in der Hochzeitsnacht bringt er Lila gewaltsam bei, welche Art der Unterwerfung von einer Ehefrau erwartet wird.
    Die lerneifrig-strebsame Lenù versucht derweil, ihre eigene Lebensperspektive zu finden, ist dabei hin und her gerissen zwischen den Erwartungen des Rione und ihrer heimlichen Liebe zu Nino Sarratore, dem besten Schüler ihres Gymnasiums, der schon für Zeitschriften schreibt.
    "Sobald wir uns rühren, machen wir was falsch"
    "Jugendjahre" ist der Untertitel dieses zweiten Teils. Die Mädchen sind zwischen 17 und Mitte zwanzig, es ist die Zeit, in der das Leben doch eigentlich richtig Fahrt aufnehmen soll. Ausgerechnet Lila beginnt im Urlaub auf Ischia eine leidenschaftliche Affäre mit Lenùs Schwarm Nino. Lenú leidet - und beginnt zu schreiben. Lilas Leben gerät in die Sackgasse, während Lenú zielstrebig ihren Bildungsgang verfolgt, glorios das Abitur ablegt, mit Stipendium zum Studieren in den Norden gehen kann und Anschluss an linksintellektuelle Kreise findet. Lila aber, die ein Kind bekommt, bleibt - wie immer - nur der Pfad der Selbstzerstörung, um die Ketten ihrer Ehe zu sprengen.
    Während des folgenreichen Strandurlaubs spricht Lilas mitgereiste Mutter Nunzia einen Satz aus, der als Motto über dieser Geschichte zweier Frauenleben stehen könnte. "Dein ganzes Leben lang liebst du Menschen, von denen du nie wirklich weißt, wer sie sind." Das gilt nicht nur für Lila mit ihrem wilden Zerren an allem, was nach Zügel aussieht. Es gilt auch für Lenú, deren Motive keineswegs immer so unbedarft oder zögerlich sind, wie sie selbst sich gern einredet. Und für die Männer, mit denen die beiden zu tun haben, gilt es erst recht. Lenús Stoßseufzer - "sobald wir uns rühren, machen wir was falsch" - leuchtet den Abgrund ihrer Zeit aus, an dem diese beiden Frauen wandeln.
    Blick auf ein Wohnhaus im Rione Luzzatti in Neapel (Italien), aufgenommen am 23.11.2017. 
    Wohnhaus im Rione Luzzatti in Neapel - Es wird angenommen, dass Elena Ferrante das Leben der Romanhelden ihrer Neapel-Tetralogie in diesen Stadtteil Neapels verortet. (dpa / Lena Klimkeit)
    In Lenùs Leben bleibt trotz der äußeren Erfolge, trotz ihrer Beziehungen mit interessanten jungen Männern, ein unausgefüllter Rest. Was das Mädchen aus dem Rione vor allem lernt, ist, sich auch an die neuen Milieus anzupassen.
    "Ich würde immer Angst haben: Angst davor, einen falschen Satz zu sagen, einen übertriebenen Ton anzuschlagen, unpassend gekleidet zu sein, kleinliche Gefühle zu offenbaren, keine interessanten Gedanken zu haben."
    Wer wäre die bessere Schriftstellerin gewesen?
    Elena Ferrante erzählt all dies, wie schon im ersten Band, mit unaufdringlicher Meisterschaft, in die sich aber bereits Signale der Widerständigkeit des Stoffs wie solche einer literarischen Selbstreflexivität mischen. Ja, Lenù wird zur Schriftstellerin, aber nur, indem sie sich bei Lila bedient. Die Frage, was sie die eine ohne die jeweils andere wäre, ohne dass der Blick der Freundin auf ihr ruhte, bewegt beide. Aber Lenù muss sich fragen - und zwar bis zum Ende des letzten Bandes -, ob Lila nicht doch auch die bessere Schriftstellerin gewesen wäre.
    "Aber vor allem wollte ich (ihr) beweisen, dass ihr Buch aus Kindertagen tief in meinem Kopf verwurzelt war, bis es im Lauf der Jahre ein neues Buch hervorgebracht hatte, ein anderes, erwachsenes, meines, das gleichwohl untrennbar mit ihrem verbunden war, mit den Phantasien, die wir uns auf dem Hof unserer Spiele gemeinsam ausgemalt hatten, sie und ich in einem fort, geformt, verformt, umgeformt."
    Am Ende dieser "Geschichte eines neuen Namens" bleibt Lila in Neapel, gedemütigt, aber ungebrochen, getrennt vom wohlhabenden Ehemann wie vom feurigen Liebhaber, mit kleinem Kind und einem höllischen Job in der Wurstfabrik, während Lenù in einer Mailänder Buchhandlung die erste Autorenlesung aus ihrem ersten Buch hält. Sie hat ihr Programm "Aufstieg durch Bildung" geschafft, wie es scheint.
    Kindheitsmuster wiederholen sich
    Im dritten Teil der Saga wendet sich wiederum das Blatt. Die Freundinnen erleben die turbulent-fatalen späten sechziger und siebziger Jahre, von der Aufbruchstimmung des Pariser Mai bis zu den Anschlägen der Brigate Rosse. Allerdings, und das besagt schon der Titel des Buchs - "Geschichte der getrennten Wege" - an ganz verschiedenen Orten und aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. Ein Kindheitsmuster der beiden wiederholt sich: Das Glück der einen und das Unglück der anderen halten sich die Waage, ja, sie scheinen einander fast zu bedingen.
    Elena Ferrante: "Die Geschichte der getrennten Wege" und der Vesuv bei Neapel im Hintergrund
    "Die Geschichte der getrennten Wege" ist der dritte Teil der Neapolitanischen Saga von Elena Ferrante (Suhrkamp Verlag/picture alliance/dpa/Foto: Barone)
    Dottoressa Elena Greco ist zwar erfolgreich mit ihrem Roman, in dem sich viele Frauen ihrer Generation und ihres Herkommens wiedererkennen, und hat Pietro, einen vielversprechenden Spross linken Geistesadels geheiratet. Aber in der Ehe mit dem unbeholfenen Professor für alte Sprachen fühlt sie sich wie eingesperrt, zumal sehr bald zwei Töchter sich einstellen und weitere literarische Erfolge ausbleiben.
    In Florenz und Mailand begegnet sie den wie überall in Europa auch in Italien rebellierenden Studenten und beginnt, sich mit feministischen Diskursen zu beschäftigen. Alte wie neue Freunde radikalisieren sich, Proletariersöhne wie Professorentöchter verlieren beim bewaffneten Kampf gegen Faschisten und kapitalistische Ausbeuter Vorderzähne und Ideale. Und selbstverständlich sind alle Kommunisten.
    Alle, außer Lila. Für einen entscheidenden Augenblick gerät sie zwar in den Kampf für die Rechte der Arbeiter. Aber letztlich wird der Akt des Widerstands zum Sprungbrett einer Karriere als Computerexpertin ausgerechnet bei den Solaras, hohen Tieren der Camorra, die sie von Jugend auf gehasst hat.
    Vom Kiezroman zum großen Zeitbild aus Frauenperspektive
    Die beiden jetzt dreißigjährigen Frauen treffen sich nach Jahren wieder in einer großen Familienszene in Neapel - ein atemraubendes Trauerspiel raffiniert-brutaler Heimholung.
    "Gigliola kam frisch vom Friseur, stöckelte mit hohen Absätzen einher und glitzerte golden an Ohren, Hals und Armen. Sie steckte nur knapp in einem grünglänzenden, tief ausgeschnittenen Kleid, und ihr dick aufgetragenes Make-up begann schon zu bröckeln. Sarkastisch und ohne Umschweife sprach sie mich an: 'Da wären wir also, extra zu Ehren der studierten Herrschaften. Alles klar bei dir, Lenù? Ist das da das Genie von der Universität? Verdammt, hat dein Mann schöne Haare!' Pietro (…) sprang mit einem schüchternen Lächeln auf und konnte sich nicht beherrschen, unwillkürlich starrte er auf die große Woge von Gigliolas Busen. Sie bemerkte es mit Genugtuung. (…) Wer hatte dieses ganze Theater inszeniert? Wer hatte die verschiedenen Anlässe zum Feiern zusammengefügt? Natürlich Elisa, aber von wem gedrängt? Vielleicht von Marcello. (…) Was wollte er beweisen? Dass das hier Solara-Revier war? Dass ich, auch wenn ich von diesem Ort geflohen war, doch zu ihm gehörte und damit auch zu ihnen? Dass sie mich zu allem zwingen konnten, indem sie Zuneigung, Sprache, Bräuche mobilisierten, aber auch zerstörten und, je nach Bedarf, das Hässliche schön und das Schöne hässlich machten?"
    Elena muss also erkennen, dass sie den Rione niemals wirklich hinter sich lassen wird. Und sie erkennt noch etwas anderes: dass Frauen das sind, was Simone de Beauvoir das "andere Geschlecht" genannt hat - sekundäre Wesen, für immer definiert als Adams Rippe, als etwas, das nur ist, weil es aus der Seite des ersten Menschen genommen wurde.
    In einer Diskussionsrunde von Geschlechtsgenossinnen empfindet sie es einmal so: "Keine unserer Gesten oder Reden, keiner unserer Gedanken oder Träume schien, einmal gründlich analysiert, uns zu gehören."
    All die klugen Einsichten helfen allerdings wenig, als Nino, der intellektuelle Schwarm ihrer Jugend, wieder aufkreuzt. Erst hat er Lilas Leben ruiniert, nun schickt er sich an, auch Lenùs Leben zu ruinieren. Die frustrierte, verknallte Professorengattin lässt sich - Feminismus hin oder her - wieder einmal von einem Mann sagen, wo es langzugehen habe. Mit diesem sardonischen Augenblick endet der dritte Band - und die Neapolitanische Saga hat sich, wie ein Vexierbild, vom Kindheits- und Kiezroman zum großen, reichen Zeitbild aus Frauenperspektive gewandelt.
    Persönlichen Katastrophen und moralischer Zerfall
    Der vierte Teil, "Geschichte des verlorenen Kindes", umfasst nun die Zeitspanne vom Ende der Siebziger bis ins Jahr 2007. Die beiden Frauen erleben die Zeit von "Reife" und "Alter", so heißen die beiden Großkapitel dieses wie seine Vorgänger sehr voluminösen Buchs. Ihre zuvor "getrennten Wege" kreuzen sich wieder, Lila und Lenù werden erneut zu den engen Freundinnen, die sie in früher Jugend waren. Sie bekommen gleichzeitig ihre späten Töchter, Lenù kehrt zurück nach Neapel, ja, sie zieht sogar in das alte Viertel, den Rione, ins selbe Haus wie Lila, wo sie gegenseitig ihre Kinder beaufsichtigen. Und beide sind beruflich sehr erfolgreich: Lila mit ihrer Firma für Büro-Software und Lenù als geachtete Schriftstellerin und einflussreiche Publizistin Elena Greco. Alles in Butter im Rione also?
    Mitnichten. Der Abschluss dieses insgesamt 2.200 Seiten umfassenden Großwerks ist geprägt von persönlichen Katastrophen, fehlgehenden Hoffnungen, falschen Entscheidungen, Liebesverrat und moralischem Zerfall.
    Die "Geschichte des verlorenen Kindes" macht es seiner Leserin nicht leicht. Freilich fesselt das Buch mit zahlreichen überraschenden Wendungen, mit Zeitkolorit, dramatischen Szenen und genau beobachteten Gemütslagen. Lenù kommt in diesen bewegten Zeiten viel herum, ist nicht nur in Italien unterwegs, sondern auch in Frankreich, in Deutschland und den USA. Aber die Verluste überwiegen. Die Unsicherheit, die Hilflosigkeit, die Trauer, die Demütigung und die Enttäuschung.
    Feministische Positionen entpuppen sich als fadenscheinig
    Wegen des immer noch verführerischen intellektuellen Aufsteigers Nino Sarratore hat Lenù ihren Ehemann Pietro verlassen und mutet sich und ihren Töchtern ein unstetes Leben zwischen Neapel, Genua, Florenz und Mailand zu. Nino aber entpuppt sich als zwanghafter Womanizer: Lenù ertappt ihn in flagranti mit der Haushaltshilfe und erfährt zudem, dass er weiterhin mit Ehefrau und Kind zusammenwohnt. Und doch kommt sie nicht von ihm los und von dem, was sie selbst lange Zeit als "moderne Form des Zusammenlebens" verklärt. Die feministischen Positionen, die Elena in ihrem Schreiben formuliert, erweisen sich in ihrem ach so progressiven Alltag der Achtziger als ebenso fadenscheinig wie die linken Überzeugungen der Siebziger.
    In Linas Leben wird die Feindschaft der von Jugend auf gehassten Camorra-Brüder Solara immer bedrohlicher. Ihr Sohn entwickelt sich vom vielversprechenden Sonnenscheinchen zu einem dumpfen jungen Mann ohne Perspektive, in den sich dennoch Lenùs Töchter verlieben. Und in Italien - aufgerieben zwischen allgegenwärtiger Korruption, Drogenepidemie, linkem und rechtem Terror, blutigen Mafia-Fehden und Parteiengezänk - regieren wetterwendische Politkarrieristen wie Nino.
    Fluch und Gabe
    Als die beiden Frauen mit 36 Jahren hochschwanger sind, gerät sogar die natürliche Welt aus den Fugen: Am 23. November 1980 erschüttert ein schweres Erdbeben die Stadt Neapel - und Lilas scheinbar unerschütterliches Selbstbewusstsein.
    "Die Erde schwankte, ein unsichtbarer Sturm brach unter meinen Füßen los, schüttelte den Raum mit dem Heulen eines von Windböen gebogenen Waldes. Die Wände bekamen Risse, schienen sich zu dehnen, gerieten in den Ecken aus dem Fugen und fügten sich wieder zusammen. (…) Lila stand mitten im Raum, gebeugt, mit gesenktem Kopf, die Augen schmal, die Stirn gerunzelt, die Hände zur Stütze an ihrem Bauch, als fürchtete sie, er könnte ihr wegspringen und im aufstäubenden Putz verlorengehen. Die Sekunden vergingen, aber nichts deutete darauf hin, dass alles wieder ins Lot kam (…) Am Ende packte ich sie am Arm und schüttelte sie, Lila riss die Augen auf, sie schienen weiß zu sein. Der Lärm war unerträglich, die ganze Stadt lärmte, der Vesuv, die Straßen, das Meer, die alten Häuser in der Tribunali und im Spanischen Viertel und die neuen in Posilliposo. Lila riss sich los (…) Ich sah, dass ich mich geirrt hatte: Sie, die stets alles unter Kontrolle hatte, kontrollierte in diesem Augenblick gar nichts. Sie war starr vor Schreck, hatte Angst, zu zerbrechen, falls ich sie auch nur berührte."
    Luft-Aufnahme von Neapel mit dem vesuv im hintergrund
    Der Vesuv ist der gefährlichste Vulkan Europas. 1980 erschütterte das Irpinia-Erdbeben die Regionen Kampanien und Basilicata zwischen Neapel und Potenza. (ETHZ)
    Und während Lenù versucht, sich und Lila im ausbrechenden Chaos zu retten, offenbart sich eine Wahrheit über Lila, der sich, wie sie sagt, "alle Konturen auflösen". Diese Frau erlebt sich Zeit ihres Lebens immer wieder in einem synästhetischen Sturm von Geräuschen, Farben, Gerüchen, der ihr jede Gewissheit über die reale Welt und das eigene Ich raubt. Das ist ein Fluch, zugleich eine Art schwarzer Gabe, in die Wiege gelegt von einer bösen Fee.
    Großer Prosazyklus, in dem Abgründe stehen bleiben
    Kurz vor dem Beben hat sich aber auch eine Wahrheit über Lenús Schreiben offenbart, die wir getrost als eine Wahrheit der Autorin Elena Ferrante verstehen können.
    "'Es ist falsch', dachte ich verwirrt, 'so zu schreiben, wie ich es bisher getan habe, indem ich alles aufzeichne, was ich weiß. Ich sollte so schreiben, wie sie spricht, Abgründe stehen lassen, Brücken bauen und sie nicht vollenden, den Leser zwingen, den Blick auf die Strömung zu heften (…)'"
    Genau das tut Elena Ferrante in diesem Buch und, rückblickend betrachtet, in dem ganzen Romanwerk. Nicht nur, dass sie in "Geschichte der getrennten Wege" und noch mehr in "Geschichte des verlorenen Kindes" ihr Alter ego Elena Greco immer wieder über ihr Schreiben und ihre Schriftstellerinnenexistenz reflektieren lässt: Alle vier Bände entpuppen sich tatsächlich als ein großer Prosazyklus, in dem Abgründe stehen bleiben und eine unaufhaltsame Strömung alle Gewissheiten mit sich nimmt.
    Das gilt besonders für die Form des letzten dieser Romane, in dem durch kontrastierende Rückblenden, nachgeholte Szenen und andere Maßnahmen der Irreführung ganz unauffällig scheinbar gesicherte Positionen und Perspektiven unterspült und ausgehöhlt werden. Aber es gilt auch für das, was hier letztlich verhandelt wird. Der Grund, auf dem die Figuren wie ihre Erzählerin stehen, ist unsicher, und sicher ist am Ende nur eines: die Auslöschung von allem, was sie waren, glaubten, hofften und liebten. Es bleibt nur die Erzählung.
    Am Schluss der Geschichte gibt es ein unverhofftes Wiedersehen mit zwei Relikten der gemeinsamen Kindheit, den beiden Puppen der Mädchen, die sie ehedem in einen dunklen Keller geworfen hatten. Aber Lila bleibt verschwunden, so wie ihre kleine Tochter verschwunden bleibt, deren Verlorengehen die größte der vielen Katastrophen dieses Romans und dieses Frauenlebens ist. Verschwunden wie die Hoffnung, es möge für die Geschichte ein glückliches Ende geben. Elena Ferrantes Neapolitanischer Zyklus, begonnen als farbenreiches Sittenbild aus Kinderperspektive, rundet sich so zu einem großen realistischen Epos unserer Tage.
    Elena Ferrante: "Geschichte des verlorenen Kindes", Übersetzung von Karin Krieger, 614 Seiten, 25 Euro
    Alle vier Bände der Neapolitanischen Saga erschienen im Suhrkamp Verlag