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Elizabeth Strout: "Alles ist möglich"
Der raue Stoff des Lebens

In der Kleinstadt Amgash gibt es nicht viel, was die Menschen von ihren Schicksalen ablenken kann. Doch bei der amerikanischen Erfolgsautorin Elizabeth Strout ist es immer spannend, ganz normalen Menschen beim Leben zuzusehen. Das gilt auch für ihren neuen Roman.

Von Eberhard Falcke |
    Buchcover: Elizabeth Strout: „Alles ist möglich“
    Elizabeth Strout liefert bewegende Schicksale aus dem Herzen Amerikas (Buchcover: Luchterhand Verlag, Foto: imago stock&people / Marco Destefanis)
    Die Menschen in Amgash, einer Kleinstadt in Illinois, haben es schwer, wenn auch nicht so schwer, daß sich daraus Schlagzeilen machen ließen. Außer vielleicht im Falle von Tommy Guptill, dem eines Nachts seine gesamte Milchfarm abgebrannt ist. Doch die Beschwernisse und Dramen der meisten anderen sind einfach aus dem rauen Stoff, aus dem das Leben oft besteht. Pete Barton leidet auch als reifer Mann noch immer unter den Grausamkeiten seiner bitterarmen Kindheit. Patty Nicely ist früh Witwe geworden und muss sich nun von Schülern, die sie in Ausbildungsfragen berät, wegen ihres Übergewichts verspotten lassen. Und Charlie Macauley schleppt nach wie vor ein Trauma aus dem Vietnam-Krieg mit sich herum. Trotzdem gehen alle ziemlich entschlossen ihren Weg und manche schaffen es dabei sogar heraus aus der Enge. Das Schicksal der Figuren von Elizabeth Strout umfasst die ganze Spanne von Not und Leid bis zu Erfüllung und Erfolg. Darum trägt ihr neuer Roman ganz zu Recht und mit einigem Hintersinn den Titel "Alles ist möglich". Sogar Dottie ist es gelungen, sich mit ihrer Frühstückspension aus dem Nichts eine bescheidene, doch selbständige Lebensgrundlage aufzubauen:
    "Als jüngere Frau hätte sie bestimmt Erfolg mit etwas haben können, das ihr Hirn stärker auslastete als die Zimmervermietung. Aber Dottie war keine Frau, die seufzte und klagte, das hatte ihre gute Tante Edna ihr mit auf den Weg gegeben: Eine Frau, die seufzt und klagt, ist wie eine Portion Dreck, die man dem lieben Gott unter den Fingernagel schiebt."

    Elizabeth Strout besitzt ein großartiges Gespür für das Ineinanderspielen von Glück und Unglück im Leben und für das Ringen ihrer Figuren, dabei eine gangbare Balance zu finden.
    Die Vergangenheit bleibt gegenwärtig
    Ein anderes Kind der fiktiven Kleinstadt Amgash ist Lucy Barton. Sie stand bereits in Strouts vorangegangem Roman "Die Unvollkommenheit der Liebe" im Mittelpunkt. Ihr ist es gelungen, sich von der familiären Herkunft, die von Armut und brutaler Herzenskälte geprägt war, zu befreien und eine erfolgreiche Schriftstellerin zu werden. Als sie aus New York anreist, um nach vielen Jahren ihre weiterhin in dürftigen Verhältnissen vegetierenden Geschwister zu besuchen, wird sie bei der Konfrontation mit der verdrängten Vergangenheit von regelrechten Panikattacken überfallen:

    "Hört auf damit", befahl sie. "Hört sofort auf." Sie sah von Vicky zu Pete. Sie sagte – und ihre Stimme war laut und unstet: "So schlimm war es auch wieder nicht." Schweigen machte sich im Zimmer breit.
    Nach einer Weile sagte Vicky sehr ruhig: "Es war noch viel schlimmer, Lucy." Lucy schickte einen Blick zur Decke hoch und fing an, ihre Hände zu schütteln, als hätte sie sie gewaschen und könnte kein Handtuch finden. "Ich pack‘s nicht", sagte sie heftig. "O Gott, ich pack‘s nicht ..."

    Auch wenn es nicht immer in solcher Zuspitzung auftritt, ist dies das latente Muster, das sich für alle neun Kapitel in diesem Romans wiederholt: Elizabeth Strout porträtiert ihre Figuren zwar in alltäglichen Situationen, aber dennoch können die schmerzlichen Verletzungen der Vergangenheit jederzeit in die Gegenwart einbrechen. In solchen Momenten zeigt sich, wie diese Menschen wurden, was sie sind: durch das, was sie selbst geschafft haben, aber ebenso durch das, was ihnen angetan wurde. Damit führt uns die Autorin nicht nur in eine höchst anschaulich geschilderte amerikanische Provinzwelt, die unter einem tief hängenden Himmel zwischen endlosen Maisfeldern liegt, sondern in die Provinz des Menschen überhaupt, wo das Durchschnittliche zugleich als etwas Wesentliches erkennbar wird.
    Die Scham der Wahrheit
    Wie schon Elizabeth Strouts Roman "Mit Blick aufs Meer" hat auch "Alles ist möglich" die Struktur einer Folge von Erzählungen, bei denen jeweils eine andere Figur im Mittelpunkt steht, ganz ähnlich wie in "Winesburg, Ohio", dem modernen Klassiker dieses Erzählmodells, den Sherwood Anderson 1919 herausbrachte.
    Elizabeth Strout kann mit diesem großen Vorläufer ohne weiteres mithalten und findet dabei zugleich einen ganz eigenen Ton. Sie setzt die verschiedensten sozialen Schichten ins Bild, vom verwahrlosten Hinterwäldler über kleine Geschäftsleute bis zu reichen Villenbesitzern. Manche haben ihre Geheimnisse, einige haben zwei Gesichter, andere führen ein Doppelleben. Für den Vater der Schauspielerin Annie Appleby galt all das zugleich. Er war schwul, hatte Liebhaber, seine Familie wollte es nicht wahrhaben, dennoch gab es genügend irritierende Anzeichen:

    "Die Wahrheit war immer da gewesen. Sie waren mit steter Scham groß geworden. Aber am besten, so schien ihr, verstand sie trotz alledem ihren Vater. Und einen Moment lang beschäftigte sie das: dass ihr Bruder und ihre Schwester nie die Leidenschaft kennengelernt hatten, die einen Menschen dazu trieb, alles zu riskieren – nur um dem weißen Gleißen der Sonne näher zu sein, das für ein paar kurze Augenblicke die Erde vergessen ließ."

    Es ist erstaunlich, welche Spannweite von Charakteren, Themen und Konflikten Elizabeth Strout in ihrem Porträt-Reigen aus dem amerikanischen Heartland aufbietet. Und obwohl sie in Hinblick auf Empathie und Wertung durchaus ihre Akzente setzt, wird nirgendwo ein belehrender Zeigefinger spürbar, werden die Figuren nie als Demonstrationsobjekte für irgendetwas benutzt. So entsteht der perfekte Eindruck, wir könnten den Leuten aus Amgash direkt und unmittelbar dabei zusehen, wie sie ihr Leben führen.
    Elizabeth Strout: "Alles ist möglich"
    aus dem Amerikanischen von Sabine Roth
    Luchterhand Literaturverlag, München. 252 Seiten, 20 Euro.