Der Mittelpunkt ihres Universums ist sie selbst: Olive Kitteridge, Mitte Siebzig, wohnhaft in Maine. Als kühle Pragmatikerin lebt die ehemalige Lehrerin mit allerlei festgefahrenen Urteilen über sich, die Welt und die Fehler anderer Leute. Es ist also beileibe kein einfacher Charakter, den die Autorin Elizabeth Strout in ihrem neuen Roman der Sympathie ihrer Leser anempfiehlt. Als übergroßes Ego präsentiert sie uns Olive vielmehr in 13 kurzen Episoden abwechselnd aus der Innen- und Außenperspektive.
So begegnen wir Olive gleich zu Beginn des Romans durch die Augen Jack Kennsions, eines gerade verwitweten und nicht minder barschen Alten, dem zwischen Supermarktregal und Parkplatz in der Gestalt der hemdsärmeligen Olive gleichsam unverhofft ein zweiter Lebensfrühling blüht:
"Jetzt gestattete Jack es sich doch, an Olive Kitteridge zu denken: Groß, wuchtig; mein Gott, war sie eine seltsame Frau. Aber sie hatte ihm gefallen, sehr sogar, sie hatte eine Ehrlichkeit – war es Ehrlichkeit? – irgendetwas hatte sie an sich. Verwitwet auch sie, hatte sie ihm (so fühlte es sich für ihn an) praktisch das Leben gerettet. Sie waren ein paar Mal essen gegangen, ins Konzert; er hatte sie auf den Mund geküsst. Er hätte laut auflachen können, wenn er nur daran dachte. Auf den Mund. Olive Kitteridge. Als würde man einen seepockenverkrusteten Wal küssen."
In der Literatur geht es ums Ganze
Mit diesem unwahrscheinlichen Aufeinandertreffen beginnt für die beiden Mitt-Siebziger eine ebenso notwendige wie heilsame Liebesgeschichte, die sogar in eine Ehe mündet. Denn so zynisch und ungeschickt im Umgang mit ihren Mitmenschen Olive und Jack sind, haben sie doch beide das Herz am rechten Fleck, und sie brauchen einander. Denn in den Schleppnetzen ihrer Biografien hat sich über die Jahre jeweils so Einiges angesammelt. Überall liegt es im Argen: Jack leidet am angespannten Verhältnis zu seiner Tochter, die an der liberalen Westküste lebt und deren Liebe zu einer Frau er nicht akzeptieren kann. Olive wiederum ist entfremdet von ihrem Sohn Christopher. Der hatte bei ihr weiß Gott keine einfache Kindheit und versucht sich jetzt in New York an seiner eigenen verkorksten Version vom Familienglück. Elizabeth Strout:
"Ich glaube für die Fiktion ist das Dramatische immer interessanter. Mich interessiert es nicht, über normale glückliche Beziehungen zu schreiben – was soll das bringen? Es gibt sie. Eine tolle Sache, genieße sie, wer sie hat. Aber für das Lesen, das Schreiben von Literatur geht es immer um das Dramatische und die tieferen Nischen des menschlichen Verstandes."
Und so mäandert Olive zwischen heillos verworfener Vergangenheit und irgendwie passabler Gegenwart durch ihr Leben. Zu Beginn der Handlung ist sie 74 Jahre alt, am Ende 83, und das Älterwerden und Scheitern, das Alleinsein und die Gedanken an den nahenden Tod ziehen sich durch die knapp 350 Seiten des Romans. Denn dass sie Fehler gemacht hat, weiß Olive natürlich: Ihren ersten Ehemann, Henry, hat sie vor allem in den Jahren vor seinem Tod nicht gut behandelt.
Der zweite Mann ist der Richtige
Wie eine Steinmauer beschreibt Olive einmal die Hartherzigkeit, welche sich im Älterwerden zwischen sie und die Gefühle zu ihrem Mann geschoben habe. Den gutmütigen Henry, er war eine der Hauptfiguren des Vorgängerromans, lernen wir als Leser hier zwar nicht mehr kennen. Olives Ehe mit ihm aber geistert stets durch ihren Kopf und grundiert dort ihr spätes zweites Eheglück. Denn dass es sich mit ihr und Jack so spät im Leben jetzt anders verhält, das ist eine Erkenntnis, die Olive erst in der vergleichenden Rückschau ereilt. Und auch das kommt erst, als das fortschreitende Alter ihr einen neuerlichen Verlust beschert:
"Als er starb, neben ihr, im Schlaf, schlugen Ozeane der Angst über ihr zusammen. Tag für Tag beutelte die Angst sie. Komm zurück, dachte sie immerzu, oh bitte bitte bitte komm zurück! Acht Jahre waren sie zusammen gewesen, die so unaufhaltsam vorbeigestürzt waren wie eine Lawine, und doch – entsetzlich! – erschien er ihr manchmal als ihr richtiger Mann. Henry war ihr erster Mann gewesen, und nach ihm war Jack gekommen, ihr richtiger Mann. Ein entsetzlicher Gedanke, es konnte unmöglich war sein. Wie schnell die Dunkelheit nun hereinbrach!"
Und so wird es zunehmend einsamer um die alternde Olive. Doch zum Glück, für Olive und für uns, gibt es ja auch noch die gut ein Dutzend anderen kleinen Haupt- und Nebenfiguren in Strouts kurzweiligem Episodenroman. Wie Olive sind sie allesamt Bewohner des fiktiven Kleinstädtchens Crosby, das malerisch an einer Bucht an Maines Atlantikküste liegt.
Olive Kitteridge, in den Augen der Anderen
Deren Leben streifen Olives eigene Existenz immer wieder nur kurz und in blassen Tangenten. Doch es sind ihre Schicksale, die auf gut der Hälfte des Romans Olives eigene Misere spiegeln. Da ist etwa Cindy, die krebskranke Mittfünfzigerin, deren Mann, Familie und Freunde ihr die Krankheit schlicht nicht zugestehen wollen. Nur Olive kommt zu Besuch und redet mit der sterbenden Mutter über den Tod. Da ist das Ehepaar, das nach einer Affäre des Mannes seit Jahrzehnten mit einem dicken gelben Trennstreifen das gemeinsame Haus in zwei separate Leben trennt. Und da sind die zahllosen Eltern, Kinder und Geschwister im Buch, die allesamt keinen Kontakt mehr miteinander haben und bei deren Beziehungen ebenso Vieles im Argen liegt wie in Olives eigener Biografie.
Als Erzähltechnik ist dieses Sammelsurium von immer nur angerissenen Handlungssträngen geschickt gewählt. Denn als einzige Gewährsperson mit Blick auf das Leben taugt Olive mit ihren starken und teilweise schrulligen Ansichten nur bedingt. Doch für die Autorin hat diese Technik auch noch einen zweiten, ganz pragmatischen Grund: Elizabeth Strout erklärt:
"Olive Kitteridge … sie ist so eine große Figur, dass ich sie nicht auf jeder einzelnen Seite haben wollte. Als ich das erste Buch über sie geschrieben hatte, merkte ich, dass wir sie auch durch die Augen anderer Leute sehen müssen, aus anderen Blickwinkeln und Perspektiven. Also sehen wir hier Olive auf eine ganz bestimmte Art durch eine Person, und dann sehen wir sie auf eine ganz andere Art durch andere Augen. Genau so funktioniert doch das Leben: Wir denken alle, wir kennen jemanden, aber die Person, die wir da zu kennen glauben, wird von anderen Leuten ganz anders gekannt als von uns."
Denn als Mittelpunkt Crosbys ist die geschäftige Olive überall und zugleich nirgendwo, nur so richtig nahe ist sie dabei eigentlich niemandem. Sie verbringt viel Zeit zuhause, sie lästert, tratscht und ist neugierig. Und genau diese Balance zwischen Nähe und Distanz, dieser lebenslange Drahtseilakt des Kennens und Kennenlernens ist es, der sich nach dem Tod von Olives beiden Ehemännern als Grundton durch ihr Leben zieht.
Abendstimmung über Maine
Diese tiefe innere Einsamkeit ist es auch, die letztlich alle Figuren in Strouts Roman teilen. Und so ist Olive eine wie alle, eine von uns, und genau dadurch erringt sie sich beim Lesen dann doch unsere Sympathien. Als eine einfühlsame Etüde über das Älterwerden ist Strouts Roman so letztlich viel mehr als nur die Studie eines einzelnen Charakters:
"Es gibt diesen gesellschaftlichen Mythos, dass Menschen ein bestimmtes Alter erreichen und dann einfach mit allem aufhören. Und mir ist klar geworden, dass Olive nicht einfach so aufhört mit allem, dass wir alle im Alter nicht einfach stillstehen und aufhören: Wir haben weiterhin tiefe Gefühle, wir wachsen weiter. Ich wollte sehen, wie sich das bei ihr entfaltet, aber in der derselben Gemeinde, in Crosby, wo sie lebt."
Und diese Stadt Crosby ist, neben Olive selbst, die eigentliche Konstante und zweite Protagonistin des Buchs. Denn Crosby, die immer wieder ins Romangeschehen hineinleuchtende Bucht und die titelgebenden langen Abende im südlichen Maine, komplementieren letztlich auf wundersame Weise all die gebrochenen Biografien und menschlichen Verwerfungen, die im Zentrum der Handlung stehen. Elizabeth Strout:
"Maine ist ein sehr alter und sehr weißer Staat. Die Einwohner leben dort meist schon sehr, sehr lange, und sie haben Familien dort, die ebenfalls schon sehr, sehr lange da leben. Es ist also beinahe wie ein eigenes kleines seltsames Land, und das habe ich einzufangen versucht. Denn es ändert sich ja Gott sei Dank. Nicht-weiße Menschen ziehen nach Maine und Leute wie Olive – deren Weltsicht wird irgendwann verschwinden, und sie sollte es auch. Diese Atmosphäre war es, die ich einfangen wollte … Und ja, die Landschaft ist natürlich bezaubernd."
"Und so saß sie da und betrachtete den Himmel, die Wolken hoch oben, und dann sah sie hinunter zu ihren Rosen, die sich phantastisch gemacht hatten in dem einen Jahr. Sie beugte sich vor und schaute genauer hin – da, gleich hinter der Blüte dort kam noch eine Knospe! Das machte sie richtig froh, der Anblick dieser neuen kleinen Rosenknospe. Und dann lehnte sie sich wieder zurück und dachte an ihren Tod, das Staunen und die Beklommenheit ergriffen aufs Neue von ihr Besitz. Er würde kommen."
Veränderung ganz bis zum Schluss
Ganz am Ende des Romans sitzt die Hauptfigur Olive also inmitten dieser grün-goldenen Pracht und betrachtet sich selbst vor dem Hintergrund ihres nahenden Todes und der Einsamkeit auf dem Weg dahin. Doch vorgegeben und unausweichlich, so lautet eine der Botschaften des Romans, ist diese ganze soziale Misere keineswegs. Denn Möglichkeiten zur Veränderung und zum Neuanfang ergeben sich jedem Einzelnen von uns immer, auch im hohen Alter noch. Und so entwickeln sich genau wie im Bild vom blühenden Rosenstrauch auch im Verlauf dieses fabelhaften Romans noch an den unwahrscheinlichsten Orten und Stationen des Lebens immer und immer wieder kleine Keime und Knospen.
Elizabeth Strout: "Die langen Abende"
aus dem amerikanischen Englisch von Sabine Roth
Luchterhand Literaturverlag, München. 352 Seiten, 20 Euro.
aus dem amerikanischen Englisch von Sabine Roth
Luchterhand Literaturverlag, München. 352 Seiten, 20 Euro.