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"Elly Ney - Gesamtausgabe aller späten Aufnahmen"

Ungleich wichtiger als diese Trouvaille aus dem Hause "Motette/Ursina" ist die Cassette mit alten Aufnahmen der Pianistin Elly Ney, die als Limited Edition bei Colosseum Classics erschienen ist. Die zwölf CDs enthalten die späten Platten aus den fünfziger und sechziger Jahren, und zwar klassisch-romantische Solowerke ebenso wie drei Klavierkonzerte von Beethoven. Sogar einige wenige bisher unveröffentlichte Einspielungen sind vertreten, nicht jedoch der Dortmunder Privatmitschnitt. Auf der letzten CD wird dann Beethovens Heiligenstädter Testament gesprochen. Auf diese Predigt im rheinischen, also durchaus authentischen Tonfall wäre ein Choral von Old Shatterhand gerade recht! Die Edition schließt indes Brahmsens "Sandmännchen" an und lässt darauf noch Schuberts "Schlafe, holder, süßer Knabe" folgen, und spätestens da begreift man, dass Kara Ben Nemsi am liebsten Pianist geworden wäre und Variationen über Hadschi Halef Omar gespielt hätte. Auch Kunst und Leben der Pianistin Elly Ney stellen eine eigentümliche Emanation deutscher Befindlichkeit dar. Eigentlich verwunderlich, dass Syberberg keinen Film über sie gedreht hat. Pianistisch war Elly Ney nie ganz auf der Höhe ihrer Kollegen. Aber sie verstand es, mit vergleichsweise bescheidenen manuellen Fähigkeiten eine Aura zu schaffen und über den Schwaden unklarer Vergeistigung zu brüten wie die Pythia auf ihrem Dreibein. Sie verwirklichte dabei konsequent einen alten Traum der deutschen Romantik, den vom Leben als Gesamtkunstwerk. Auch das will gekonnt sein. Und es ist durchaus faszinierend, wie diese Pianistin jeden Akzent, jedes Ritardando präzise in die Erwartung ihrer Hörerschaft hinein spielte. Sie war so etwas wie die Pop-Ikone der deutschen Oberschicht der 50er und 60er Jahre. Dem heute ohne Andacht lauschen zu können, stellt schon eine wichtige Erfahrung dar. * Musikbeispiel: L. v. Beethoven 4. Satz Allegro aus: Sonate Nr. 12 As-dur op. 26 Eingefügt hat Colosseum auch die CD, die die Aufnahmen am historischen Beethoven-Flügel des Bonner Beethovenhauses aus dem Jahr 1965 enthält. Das alte Graf-Pianoforte ist viel zu hoch gestimmt und wimmert, dass Gott erbarm! Da schießt einem schon unvermutet Bülows Wort vom elenden Kastrat-Kasten durch den Kopf. Dennoch: Dass Elly Ney schon vor fast vierzig Jahren unter anderem sogar die Sonate op. 111 auf einem historischen Instrument spielte, kann ihre Verehrerschar heute ohne weiteres dem Walten des Weltgeistes zuschreiben. Eine interessante Farbe stellt diese CD auf alle Fälle dar. Übrigens gibt es dann die gleiche Op. 111 noch einmal in einer Aufnahme von 1968, mithin aus dem Todesjahr der Pianistin. Hier aber soll als Beispiel ihres Ausflugs an den Beethoven-Flügel jenes Albumblatt folgen, das sie als das ausweist, was sie wohl wirklich war: die Geweihte unter den höheren Töchtern Germaniens. * Musikbeispiel: L. v. Beethoven - Albumblatt "Für Elise" WoO 59 a-moll Das war die neue Platte im Deutschlandfunk. Heute ging es um eine CD des Labels MOTETTE/URSINA mit Werken von Karl May sowie ausgesuchten zeitgenössischen Orgelkompositionen und um die Kassette der Firma Colosseum, die fast sämtliche Aufnahmen der Pianistin Elly Ney bietet, die in den fünfziger und sechziger Jahren entstanden.

Norbert Ely |