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"Elysée-Vertrag ist bis heute ein enormer Mythos"

Wer heute in Frankreich "Kaiser" sage, denke nicht an Wilhelm Zwo, sondern an Franz Beckenbauer, bilanziert der Publizist Alfred Grosser das deutsch-französische Verhältnis 50 Jahre nach Unterzeichnung des Elysée-Vertrages. Ein Abkommen, das man feiern solle, meint Grosser.

Christoph Heinemann im Gespräch mit Alfred Grosser |
    Heinemann: Professor Grosser, 50. Jahrestag des Elysée-Vertrages, woran erinnern Sie sich vor allem, wenn Sie an den 22. Januar 1963 denken?
    Grosser: Dass ich schon damals kritisch gegenüber dem Vertrag eingestellt war. Ich erinnerte schon damals daran, dass der große Tag der 9. Mai 1950 war. Und damals wusste ich noch nicht, dass nach der triumphalen Rückkehr von de Gaulle von seiner wunderbaren Deutschlandreise im September, dass Bundeskanzler Adenauer seine Feder genommen und an Robert Schumann geschrieben hat: "Während der ganzen Zeit des Besuchs des Generals habe ich an Sie gedacht, denn Sie haben mit dem Montanunion-Vorschlag den Eckstein gelegt zur deutsch-französischen Freundschaft."
    Heinemann: Dennoch, wäre dieser Vertrag ohne die beiden Persönlichkeiten, ohne Charles de Gaulle und ohne Konrad Adenauer zustande gekommen?
    Grosser: Nein, ohne Konrad Adenauer gewiss nicht. Denn er wollte ja einen Vertrag, de Gaulle wollte nur ein Protokoll. Und der Kanzler hat darauf bestanden, einen Vertrag zu haben, was ihm dann sehr schlecht bekommen ist, denn die Sache musste dann in den Bundestag. Und zur Ratifizierung hat der Bundestag eine Präambel geschrieben, die alles enthielt, was de Gaulle missfallen konnte: England rein, stärker – noch stärker – hin zu Amerika und Supernationalität in Europa.
    Heinemann: Also ein Fehlstart?
    Grosser: Ja, es ist interessant zu sehen, dass das ganze Jahr '63 als Stillstand gilt; zunächst als Konrad Adenauer weg war und dann Ludwig Erhardt kam. Und mit dem konnte de Gaulle überhaupt nicht reden, das heißt, de Gaule machte große Zukunftsprojekte und Erhardt antwortete nicht. Das nannte man ihr Gespräch, und de Gaulle sagte dann: Der Vertrag ist wie die Rose und lebt nur einen Tag. Und Adenauer hat dann doch noch geantwortet, die Rose könnte wieder aufleuchten. Und dann – ein enormer Mythos bis heute: der Vertrag.
    Heinemann: Da kannte sich Adenauer aus mit den Rosen. Was haben Sie damals erwartet und erhofft?
    Grosser: Eigentlich wenig. Ich war vom Vertrag etwas überrascht. In einem Punkt zum Beispiel war etwas drin, was auch noch im Lissabon-Vertrag steht. Ich dachte in meiner Naivität damals, in einem Vertrag legt man fest, wo man einig ist. Auf dem Gebiet der Verteidigung sagte man: Wir werden versuchen, uns einig zu werden. Im Lissabon-Vertrag steht es noch schlechter: Man wird versuchen, in einer ersten Periode sich einig zu werden über die gemeinsame Verteidigungspolitik, die dann in einer zweiten Zukunft gemeinsam Verteidigung führen könnte. Aber zwei Dinge sind in dem Vertrag, und das habe ich damals sehr begrüßt: Erstens, dass sich alle auf allen Ebenen treffen müssen, nicht nur die beiden hohen Herren zweimal im Jahr, sie tun das viel häufiger, aber auch die hohen Beamten und die niedrigeren Beamten. Und da gibt es jetzt eine Verbindung zwischen beiden Verwaltungen, die hervorragend ist. Und zweitens die Schaffung des Jugendwerkes, das wunderbar verbreitet hat, was in den fünfziger Jahren bereits bestand.
    Heinemann: Taugen die Mechanismen, die damals verabredet wurden, heute zur Krisenbewältigung?
    Grosser: Also manchmal gibt es Mechanismen, die da standen, später, 1983 zum Beispiel wird ein Protokoll gemacht. Das heißt: Beide Regierungen überreichen der anderen Seite ihre Haushaltsplanung, bevor diese zum Parlament geschickt wird. Das ist nie geschehen. Und dieses Protokoll von 1983 kann jeder nachlesen, aber es ist nie gemacht worden. Heute wird der Vertrag toll gefeiert. Also, es gibt zehn Bücher und fünf Sondernummern von Zeitschriften. Es gibt die gemeinsamen Sitzungen der beiden Parlamente.
    Heinemann: Am kommenden Dienstag.
    Grosser: Das war allerdings weniger bedeutend als das vorige, das nicht genug gewürdigt wurde, vor zehn Jahren, weil die Parlamente in der Zeit zusammenkamen in Versailles – die Überwindung einer doppelten Kränkung: Die Kränkung Frankreichs 1871.
    Heinemann: Die deutsche Reichsgründung.
    Grosser: Und die Kränkung Deutschlands 1919.
    Heinemann: Der Versailler Vertrag.
    Grosser: Versailler Vertrag.
    Heinemann: Wofür steht Berlin?
    Grosser: Berlin steht nicht mehr für Preußen, und das muss in Deutschland gesehen werden, dass der einstige Feind eigentlich nicht Deutschland 1871 und vorher, sondern Preußen war. In unserer Literatur steht "der preußische Offizier", die Soldaten sind manchmal deutsch, aber der Offizier ist preußisch. Und 1945 kam die erste Weisung aus Paris an die Verwaltung in Baden-Baden – der Besatzung: Preußen kommt mehr vor als Hitler.
    Heinemann: Wobei Preußen ja auch Kultur und Königin Luise bedeutet, und nicht nur Wilhelm Zwo.
    Grosser: Ja, also dass sich die deutsch-französischen Beziehungen verbessert haben, sage ich heute immer so: Wenn man heute in Frankreich "Kaiser" sagt, dann denken die Leute nicht an Wilhelm den Zweiten, sondern an Franz Beckenbauer.
    Heinemann: Schön zu wissen, wir kommen nachher noch auf die Kaiserin zu sprechen. Ist der Elysée-Vertrag – sie haben eben vom "Feiern" gesprochen –, ist der ein Grund zum Feiern?
    Grosser: Ja, man soll feiern. Aber dieses Mal, glaube ich, finde ich es ein bisschen übertrieben. Es ist so viel geschehen. Unser Präsident Hollande – die Kanzlerin will er umarmen - , aber er wird doch um mehr Unterstützung in Mali bitten.
    Heinemann: Kommen wir noch drauf zu sprechen - auf Mali. Ein kleiner Schönheitsfehler: Am Dienstag werden voraussichtlich auch zwei Abgeordnete des rechtsextremen Front National im Reichstag Platz nehmen. Wohin sollte man die beiden setzen?
    Grosser: Neben die CSU.
    Heinemann: Rechts oder links?
    Grosser: Neben die CSU, denn die CSU hat ja immer dafür gesorgt, dass es nichts rechts von ihr in Bayern gibt. Und so schlimm, wie – ich sage mal – Ihre NPD, ist der Front National auch wieder nicht.
    Heinemann: Wobei die NPD nicht im Bundestag ist.
    Grosser: Sie ist nicht im Bundestag, sie war in Sachsen, sie war wo anders. Und bei uns ist das Schlimme, dass unser Präsident Sarkozy die Mauer gebrochen hat zwischen den Republikanern, alles, was der Republik treu ist, und der Familie Le Pen.
    Heinemann: Noch einmal zur Feier zurück. Die Tageszeitung "Le Monde" sprach von einem "superbe bal des hypocrites", von einem Fest der Heuchler. Würden Sie auch so weit gehen? Sehen das viele Franzosen?
    Grosser: Nein, so weit würde ich nicht gehen, denn beide – Hollande und Angela Merkel – sind nüchterne ruhige Leute, die sich nicht lieben sollen, das brauchen sie auch nicht, die aber vernünftig miteinander verhandeln. Und beide haben in einem Grundproblem recht, für das es keine Lösung gibt. Die Kanzlerin sagt, man muss sparen und sparen und sparen, in Griechenland, in Spanien und so weiter. Aber dadurch geht die Wirtschaft kaputt. Und wie können die das erarbeiten, was man braucht, um seine Schulden zurück zu bezahlen. Das sagt Hollande. Und was ist da die Lösung – zwischen dem Sparen und dem Investieren? Das kann nur eine europäische sein mit enormem europäischem Geld. Aber das wollen beide nicht.
    Heinemann: Der Artikel, den ich gerade zitiert habe, war überschrieben – und da ist die Kaiserin: "Angela Impératrice", also Kaiserin Angela. Und darin schreibt Arnaud Leparmentier: Die Deutschen verachten die Franzosen wegen ihrer zunehmenden wirtschaftlichen Schwäche. Und die Franzosen werfen den Deutschen Machtstreben vor. Ist das deutsch-französische gegenwärtige Verhältnis damit beschrieben?
    Grosser: Nein, nur teilweise. Was stimmt, dass der Abstand in der Tat immer größer wird. Es erscheint ein Artikel von mir am Mittwoch in "La Croix", wo ich betone, was die "Süddeutsche Zeitung" geschrieben hat, dass Europa verarmt und Deutschland triumphiert. Volkswagen hat noch nie so viel produziert. Es hat noch nie so viele Angestellte und Arbeiter gegeben wie jetzt, also so viele Stellen gegeben. Und bei uns ist die Wirtschaftskrise immer noch total. Da wächst der Abstand. International gesehen, weltpolitisch gesehen sind wir zu recht oder unrecht in Frankreich immer noch vor der Bundesrepublik, weil die – nicht nur wegen der Vergangenheit, sondern überhaupt – zurückhaltend ist. Manchmal ist das schüchtern, manchmal richtig, wenn sie "nein" sagt zum Irak-Krieg. Das war eine große Leistung von Schröder, bevor er in den Dienst von Putin getreten ist. Man ist zurückhaltend, und Frankreich ist in der UNO, hat die Atompolitik und interveniert in Mali, zu recht oder zu unrecht. Aber es trifft sich, dass hier Deutschland nicht imperial ist, sondern weiterhin in der Außenpolitik zurückhaltend.
    Heinemann: Frankreich steht im Krieg, Sie haben es gesagt. Der Philosoph Bernad Henry Lévy hat in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" geschrieben, Frankreich kämpfe für die Demokratie. Geht es nicht auch um das Uran für französische Atomanlagen?
    Grosser: Nein, es geht also erstens Mal Bernard Henry Lévy sollte hier kein Gehör finden und in Frankreich kein Gehör finden. Er sagt die furchtbarsten Dinge.
    Heinemann: Also Frankreich kämpft nicht für die Demokratie.
    Grosser: Nein, aber Frankreich kämpft zum Schutz auch für das Land überhaupt. Wenn Bamako eingenommen wird von Rebellen, fliehen Abertausende, Hunderttausende. Sie beginnen schon zu fliehen. Und ich glaube, es war unrecht, es so schnell zu machen. Amerika wirft jetzt Frankreich vor, allein gehandelt zu haben. Und ich weiß nicht, wie unsere Truppen in der Wüste in ihrer städtischen Bekleidung wirklich durchhalten können – in einem enormen Land. Ich weiß nicht, wie es ausgehen wird. Aber die ganze französische politische Szene steht hinter Francois Hollande.
    Heinemann: Noch.
    Grosser: Noch. Aber das kann man am Anfang immer sagen.
    Heinemann: Könnte es sich herausstellen, dass Frankreich mit diesem Krieg überfordert ist?
    Grosser: Es könnte sich herausstellen, dass es überfordert ist. Ich weiß nicht, wie lange es reicht – unsere Munition, unsere Flugzeuge, unsere Truppen. Eine Frage ist: Gegen was kämpft man? Man kämpft gegen Waffen, die aus Libyen genommen worden sind, die wahrscheinlich teilweise französische Waffen waren, genau wie in Afghanistan. Die Taliban kämpfen mit amerikanischen Waffen, die ihnen gegeben wurden gegen Russland. Also, es ist wirklich kompliziert, wenn einer gestürzt ist – im Fall des großen französischen Verbündeten in Libyen. Das hatte ein enormes Waffenlager gehabt, und das ist jetzt verbreitet über ganz Nordafrika.
    Heinemann: Wer in einen Krieg eintritt, sollte wissen, wie und auch wann er wieder herauskommt. Weiß Präsident Hollande das?
    Grosser: Nein, aber das wusste der amerikanische Präsident, das wusste die Kanzlerin auch nicht, als sie in Afghanistan engagiert waren.
    Heinemann: Mit den bekannten Ergebnissen.
    Grosser: Ja, mit schlechten Ergebnissen, aber es kann auch manchmal gute Ergebnisse geben.
    Heinemann: Hätte die Bundesregierung, Sie haben die Kanzlerin erwähnt, den Präsidenten früher, umfangreicher, vielleicht auch lautstarker unterstützen sollen?
    Grosser: Also jetzt schickt Deutschland zwei Flugzeuge. Sie sind mehr parlamentarische Demokratie als wir, aber manchmal gilt es, Entscheidungen schnell zu treffen, bevor der Bundestag intervenieren kann. Und sie hat eine Unterstützung angeboten, hat gesagt, das sei ein Krieg für Europa. Das sagen alle anderen auch, das sagt die UNO auch, das sagt der Generalsekretär der UNO auch. Nur steht Frankreich mit einigen afrikanischen Ländern, die ein paar hundert Leute schicken, allein.
    Heinemann: Ein Krieg für Europa, nicht ein Krieg für Mali?
    Grosser: Ein Krieg, in dem Europa engagiert ist. Wenn Mali fällt, was passiert dann weiter?
    Heinemann: Ist in Frankreich – ist in Paris die Zeit der "Francafrique" vorbei, der Unterstützung also für fragwürdige Regime gegen wirtschaftliche Vorteile?
    Grosser: Es sollte vorbei sein, das war ein großes Versprechen von Francois Hollande. Nun ist die Lage dramatisch geworden, und man tut das, was man eigentlich nicht tun wollte. Und jetzt ist auch Algerien mit infiziert mit dem furchtbaren Massaker, das diese Woche stattgefunden hat. Und man weiß nicht, wie weit sich dieser Krieg ausbreitet. Vor allen Dingen, weil ja der der Geiselnahmen bei Algier, also in Algerien, ist einer der Chefs der Nachfolger von Al Kaida.
    Heinemann: Herr Grosser, wenn man sich die Außenpolitiken anschaut: Libyen – Frankreich und Deutschland sind unterschiedlicher Meinung. Aufwertung der Palästinenser in der UNO – Frankreich und Deutschland sind unterschiedlicher Meinung. Gibt es eine Art deutsch-französischer Außenpolitik oder gibt es die nicht?
    Grosser: Es gibt vor allen Dingen keine europäische, und der Beweis, dass die beiden keine europäische Außenpolitik wollten ist, dass sie zugestimmt haben, dass erstens eine Engländerin – das heißt sowieso europaskeptisch – und dann eine inkompetente Dame die Außenministerin Europas wird.
    Heinemann: Lady Ashton meinen Sie?
    Grosser: Ja, Lady Ashton. Was hat sie jetzt zu der Krise gesagt? Gar nichts.
    Heinemann: Was kann sie denn sagen?
    Grosser: Ja, sie könnte im Namen von Europa sprechen. Nehmen wir den Fall Israel. 1980 gab es eine europäische Einheit um Israel zu sagen, ihr sollt nicht weiter so machen. In Venedig, das war ein großes Abkommen. Heute sagt niemand Israel irgendwas. Und das Letzte, was geschehen ist – das habe ich am Fernsehen mitbekommen – ist, dass Palästinenser Zelte aufmachen auf einem Boden der palästinensisch ist, zuerkannt worden ist als palästinensisch, und israelische Polizei schleppt die weg, damit Leute dort wohnen können, die Israeli sind, die geschützt werden und die eine Zweistaatenlösung unmöglich machen. Was sagt Europa? Was sagt die Kanzlerin? Was sagt Hollande? Niemand sagt etwas.
    Heinemann: Aber bevor es eine europäische Außenpolitik geben könnte müsste doch erst mal zwischen Paris und Berlin eine Linie gefunden werden.
    Grosser: Das gibt es manchmal, und es könnte bald wieder mal einen Anfang geben, wie es in Kuala Lumpur gemacht worden ist. Der französische Oberste Gerichtshof hat das Gegenteil gesagt, dass man gemeinsame Botschaften hat. Und von jetzt, die Botschaften arbeiten so gut zusammen überall in der Welt. Also, ich hatte den Vorteil, oft eingeladen zu werden von beiden Botschaftern zugleich. Und die sind freundschaftlich. Die bekommen Telegramme aus Russland, die tauschen die aus. Es gibt eine unwahrscheinlich enge Verbindung. Das heißt nicht, dass jede Entscheidung gemeinsam gemacht wird.
    Heinemann: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk mit dem Politikwissenschaftler Professor Alfred Grosser. Herr Grosser, ein Franzose betreibt seine eigene Außenpolitik – der Schauspieler Gérard Depardieu ist neuerdings russischer Staatsbürger. Ist das ein Aufstieg oder ein Abstieg?
    Grosser: Das ist ein enormer Abstieg, vor allen Dingen da er ungefähr jeden Monat ein paar Tage in einer Klinik in Paris verbringen muss gegen den Alkohol, den er in sich hat, um nicht völlig Alkoholiker zu werden. Aber das ist nur eine Nebensache. Zwei Dinge sind wichtig dabei. Das Erste, das könnte weder die Kanzlerin noch Hollande, plötzlich sagen, jemand ist Staatsbürger bei uns. Das kann der Diktator Putin machen. Und dass Depardieu gesagt hat, Russland ist eine Demokratie, das hat Schröder vor ihm gesagt, ein lupenreiner Demokrat, sagt er von Putin, bevor er in seinen Dienst trat über Gazprom. Und nun das Eigentliche ist, wieso gibt es so viele französische – man nennt sie in konservativen Zeitungen Emigranten, Steueremigranten, Steuerflüchtlinge. Ich bin Kind von deutschen Emigranten. Sarkozy ist Kind von ungarischen Emigranten. Emigration ist etwas anderes als sein Vaterland betrügen. Seine hohen Gagen beim Film kommen teilweise von Staatsgeldern, er ist Bürger Frankreichs, und ich habe vorgeschlagen – das wird niemand tun –, dass jeder, der seine Steuern im Ausland bezahlt, die französische Staatsbürgerschaft verliert. Denn wir haben jetzt ein Gesetz seit Sarkozy, ein junger Mann, der seit weniger als zehn Jahren Franzose ist und der zum zweiten Mal bestraft wird, zum Beispiel für einen Diebstahl im Laden, der kann seine Staatsangehörigkeit verlieren. Wenn er Milliarden wegschleppt, verliert er gar nichts.
    Heinemann: Was sagt der Exodus, was sagen andere Emigranten, von denen Sie gesprochen hatten, über den Begleitrummel aus, über den Zustand Frankreichs? Auslöser war ja der inzwischen vom Verfassungsgerichtshof gestoppte Plan der Regierung zur Besteuerung von Einkommen über eine Million Euro?
    Grosser: Ja, und es wird nachgerechnet, dass die, die in dieser Höhe sind, noch 80.000 Euro im Monat haben. Damit kann man leben. Und in Betracht nehmen sie, was bekommt ein Bahnhofsbeamter, was bekommt überhaupt jemand im Durchschnitt bei Ihnen und bei uns. Es ist ein Hohn zu sagen, die werden dadurch arm.
    Heinemann: Apropos arm – der Wirtschaftswissenschaftler und Historiker Nicolas Baverez hat in einem Gespräch mit der Tageszeitung "Le Figaro" Frankreich als größtes Risiko für die Eurozone bezeichnet, wirtschaftlich. Wie schwach ist Frankreich?
    Grosser: Nein, also die größte Gefahr für die Eurozone – erstens mal muss hier immer gesagt werden, was der einzige große deutsche Europäer Wolfgang Schäuble immer wiederholt.
    Heinemann: Der einzige?
    Grosser: Ja, der einzige Große. Vielleicht noch der Präsident des Europaparlaments.
    Heinemann: Martin Schulz.
    Grosser: Martin Schulz. Und wenn Schäuble sagt, es wäre eine Katastrophe für Deutschland, wenn es keinen Euro geben würde, das wird in Deutschland nicht verstanden, dass dann alles zusammenbricht und der deutsche Export – innerhalb Europas immerhin zwei Drittel des deutschen Exports – gestoppt wird.
    Heinemann: Aber Deutschland war doch schon vor dem Euro wirtschaftlich stark oder exportstark.
    Grosser: Ja, aber es wäre dazu nicht in der Lage, wenn alle anderen Währungen zusammenbrechen würden, wenn der Euro nicht mehr besteht.
    Heinemann: Bleiben wir noch mal bei Nicolas Baverez. Der sagt, Frankreich steuert auf einen – das muss man fast nicht übersetzen – "Prolétisation de la France et des Francais" zu, also eine Proletisierung des Landes durch einen wirtschaftlichen Abschwung, Rezession, steigendes Handelsbilanzdefizit, höhere Arbeitslosigkeit.
    Grosser: Das sagt der seit Jahren, das sagte er schon unter Sarkozy, das sage er schon vorher, und er gehört zu den düsteren Propheten, die dann darauf hoffen, dass ihre Prophezeiung wahr wird, sonst haben sie sich getäuscht.
    Heinemann: Aber glänzend steht Frankreich doch nicht da.
    Grosser: Nein, glänzend steht Frankreich nicht da, aber momentan gibt es auch ermutigende Dinge. Zum ersten Mal haben wir wirklich ein Abkommen Arbeitgeber-Arbeitnehmer, das ein bisschen an Deutschland erinnert. Das ist eine der Schwächen Frankreichs, das sind unsere Arbeitnehmer. Die Gewerkschaften sind daran gewöhnt seitdem sie bestehen seit Ende des 19. Jahrhunderts, radikal oppositionell zu sein, während bei Ihnen die Gewerkschaften gegründet worden sind als eine Art Hilfsorganisation für die Arbeiter und waren rechts von der Partei. Und auf der anderen Seite die Arbeitgeber wollen noch nicht einmal, dass die Arbeitnehmer wissen, wie der wirtschaftliche Zustand des Unternehmens ist. Und sie haben keinen Einblick und so weiter. Das hat jetzt eine kleine, aber wichtige Veränderung gegeben. Und die neuen wirtschaftlichen Maßnahmen von Hollande sind ein Dorn im Auge der Partei und sie müssen diszipliniert sein.
    Heinemann: Die hätten es gerne radikaler gehabt?
    Grosser: Ja, aber es ist sehr schwer durchzusetzen. Hollande ist ein Sozialdemokrat wie Angela Merkel. Es wird ihr genügend von ihrer Rechten vorgeworfen. Und er hat keine Hoffnung, dass sich das in Deutschland ändern wird, denn alle rechnen mit einer großen Koalition nach der Wahl, was keineswegs störend ist, denn Hollande ist im französischen Sinne kein Sozialist. Die Linke der Partei steht ziemlich weit links. Wie er die überzeugt ist schwierig, aber nicht unmöglich.
    Heinemann: Zur Reformpolitik. Sie sprachen von einer kleinen Reform, die jetzt auf den Weg gebracht wurde. Wenn man es vergleicht mit der Agenda 2010 – ob sie jetzt sinnvoll oder unsinnig war –, mit der Energiewende in Deutschland, von der niemand weiß, ob sie funktionieren wird, ist Frankreich ähnlich reformfähig?
    Grosser: Ja Moment, die Reform wurde durchgeführt, weil es wirtschaftlich aufwärts ging, und …
    Heinemann: Die Agenda 2010 nicht.
    Grosser: Doch.
    Heinemann: Da ging es abwärts. Zunächst ging es abwärts um die Jahrtausendwende.
    Grosser: Und dann, was uns sehr ähnelt, dass Sie auch einige Millionen Leute haben – Sie haben keinen Mindestlohn –, die weit unter einem Minimumlohn arbeiten. Und die Armut in Deutschland ist nicht gering und in beiden Länder könnte es vielleicht eines Tages einen Aufstand geben wird zwischen unten und ganz oben. Bei Ihnen und bei uns ist das ganze Bankensystem marode. Ihr großer Schweizer Mann Ackermann, im Rückblick, was hat er getan? Der hat gemogelt, der bekommt hohe Strafen in Amerika. Bei uns ist es ganz genau so. Und das Bankensystem ist nicht reformiert worden. In Basel III hat man jetzt entschieden: Nein, so schnell kontrollieren wir sie nicht. Und die Kanzlerin war auch nicht begeistert von der europäischen Kontrolle der Banken, obwohl es zum Beispiel der Bayerischen Landesbank sehr gut getan hätte, kontrolliert zu werden, bevor sie viel Geld verliert in Österreich. Also, es gibt eine ganze Menge von gemeinsamen Problemen, die nicht gelöst werden.
    Heinemann: Gleichwohl sagt Premierminister Jean-Marc Ayrault, Frankreich hat den Anschluss an Skandinavien und Deutschland verloren. Kann Frankreich diesen Rückstand aufholen und kann das unter der jetzigen Regierung passieren? Das war ja auch eine sozialdemokratische Regierung, eine rot-grüne, die die Agenda 2010 aufs Gleis gestellt hat.
    Grosser: Ja, und im Allgemeinen erwartet man von der linken Regierung, das zu tun, was die Konservativen nicht gemacht haben und erhofft nun, dass es keinen Widerstand der Linken geben wird. Das hofft Hollande auch, denn die nächsten Maßnahmen werden durchzusetzen sein mit einem harten Fraktionszwang. Ob der Fraktionszwang gelingen wird, weiß ich nicht. Und es ist sehr schwierig, denn unsere Ultralinken sagen,ihr übt Verrat aus, wenn ihr Hollande folgt.
    Heinemann: Blicken wir auf Deutschland. Wirtschaftlich steht Deutschland besser da, demografisch ist es umgekehrt. Die Deutschen sind nicht in der Lage, für ausreichenden Nachwuchs zu sorgen. Jetzt eine staatsbürgerliche Frage: welches Land ist reicher?
    Grosser: Wir. Also Frankreich nach Irland.
    Heinemann: Nein, ich meine jetzt nicht nur demografisch. Insgesamt.
    Grosser: Ja, demografisch. Die letzten Zahlen, die vorgestern veröffentlicht worden sind, sind die: wir sind bei 2,1 Kinder per Frau im Durchschnitt. Wir sind gerade nach Irland und vor allen anderen. Das heißt also, dass in wenigen Jahren die jungen Franzosen noch mehr Deutsch lernen sollten, als man es zum Beispiel schon im Elsass tut, um die Plätze einzunehmen, wo es keine jungen Deutschen mehr gibt. Aber vor ihnen kommen jetzt junge Spanier, Portugiesen, Griechen, die lernen intensiv Deutsch, weil sie ihr Land verlassen wollen. Und das ist für deren Länder eine Katastrophe.
    Heinemann: Für beide Seiten übrigens gilt das auch, denn sowohl in Deutschland lernen immer weniger Schüler Französisch, in Frankreich immer weniger Schüler Deutsch. 16 Prozent jetzt ungefähr, in Deutschland stark fallende Tendenz. Ist das ein Problem?
    Grosser: Es ist ein Problem, aber Frankreich holt langsam auf. Denn wenn man aus der Handelshochschule kommt und will eine Stelle, dann wird man gefragt, welche Sprache. Englisch, ja natürlich, aber was ist die andere Sprache? Denn die elektrische Fabrik in Württemberg will keine Franzosen, die englisch sprechen, sondern die Deutsch sprechen. Und man rechnet ungefähr heute schon mit 30.000 Stellen, die in Baden-Württemberg frei sind und wo man Franzosen bräuchte, die Deutsch sprechen. Deswegen auch die bilingualen Klassen im Elsass.
    Heinemann: Was möchten Sie, Professor Alfred Grosser, am Dienstag in den Festreden gerne hören?
    Grosser: Dass beide zusammen einen einzigen Satz sagen. Der ist 1974 gehalten worden von Jacques Chirac, damals junger Premierminister von Valéry Giscard d’Estaing, und der sagte, die Europapolitik ist nicht mehr Teil unserer Außenpolitik. Sie ist etwas anderes und unterscheidet sich nicht mehr von den Zielen, die wir vor uns haben. Wenn die beiden diesen Satz zusammen sagen könnten, würde ich schon zufrieden sein.
    Heinemann: Professor Alfred Grosser, vielen Dank für das Gespräch
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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