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EM 2024 in Deutschland
"Als hätten wir nun endlich mal wieder ein Spiel gewonnen"

Der Sportsoziologe Gunter Gebauer hält die Vergabe der Fußball-EM 2024 an Deutschland für eine Möglichkeit, nach dem Reinfall der WM wieder nach vorne zu schauen. Der deutsche Fußball habe Probleme in der Nachwuchsarbeit, sagte er im Dlf. Auch die Entwicklung beim Thema Nationalstolz sei bedenklich.

Gunter Gebauer im Gespräch mit Dirk Müller |
    Der Philosoph Gunter Gebauer, 2015 in Köln auf der dritten phil.COLOGNE.
    Der Sportsoziologe und Philosoph Gunter Gebauer: Aufgrund der wirtschaftlichen Schwäche des Konkurrenten Türkei sei es von vornherein klar gewesen, dass der Zuschlag für die EM 2024 an Deutschland gehen würde (dpa / Horst Galuschka)
    Dirk Müller: Die Europameisterschaft 2024 geht nach Deutschland. Eine klare Entscheidung der UEFA-Exekutivmitglieder für Deutschland und gegen die Türkei, der einzige Mitbewerber – auch noch ein Seitenaspekt vielleicht beim Besuch des türkischen Staatspräsidenten in Berlin. Fußball-EM 2024, in deutschen Stadien, ein Zuschlag in einer Zeit, wo sich gar nicht mehr allzu viele Länder um eine Ausrichtung eines solchen Mammut-Turniers bemühen. Unser Thema nun mit dem Berliner Philosophen und Sportsoziologen Professor Gunter Gebauer. Guten Morgen!
    Gunter Gebauer: Guten Morgen, Herr Müller
    Müller: Herr Gebauer, brauchten wir diesmal kein Geld zahlen?
    Gebauer: Das glaube ich nicht, dass Geld gezahlt worden ist. Die Dinge waren eigentlich von vornherein auch aufgrund der wirtschaftlichen Schwäche der Türkei relativ klar. Es ist auch diesmal nicht die FIFA, die entscheidet, sondern die UEFA, das heißt das europäische Gremium, das durchaus anders geleitet wird, von einem anderen Präsidenten als damals Blatter. Das ist der neue Präsident Ceferin, so dass man eigentlich erwarten konnte, dass die Vorteile, die klar auf der Hand liegen, für die Austragung in der Bundesrepublik Deutschland ausschlaggebend sein würden.
    Zu sehen mit weißer Schrift auf blauem Hintergrund: "UEFA - Euro 2024 - Germany".
    Deutschland wird EM-Gastgeber 2024. (dpa / UEFA via Getty Images)
    "Das Ökonomische dürfte ausschlaggebend gewesen sein"
    Müller: 12:4, das war ja ein ganz klares Votum. Da waren ja doch einige überrascht. Aber für Sie war das im Grunde eingepreist?
    Gebauer: Nein! Ganz so ist es nicht. Man weiß ja nie, wie solche Wahlmänner entscheiden. Man weiß nicht, was im Hintergrund passiert, ob da nicht vielleicht doch noch andere Interessen dabei sind. Die Türkei ist eigentlich für den Fußball, für die Fußballindustrie, sowohl für die Vereine als auch für die Sportartikel-Industrie ein interessantes Land, weil es ist erstens ein großes und entwicklungsfähiges Land, und es gibt sehr viele weitere interessante Länder, die hinter der Türkei liegen, was da noch kommt. Das sind Länder, die sicher für den Fußball gut erschließbar sind und in denen auch noch sehr gute Anlagemöglichkeiten sind.
    Müller: Normalerweise ja immer ein Kriterium für die Gremien zu sagen, da gehen wir hin.
    Gebauer: Eigentlich ja. Aber in diesem Fall waren die Dinge relativ klar. Ich glaube, das Ökonomische dürfte ausschlaggebend gewesen sein, der Verfall der türkischen Lira. Dann war völlig unklar, ob die vielen Versprechungen, die Erdogan gemacht hat, wirklich haltbar sein würden. Auch seine eigene Stellung könnte ja in den Jahren, die noch vor uns liegen, ins Wackeln geraten. Das ist ja alles nicht ausgemacht.
    Müller: Und ein bisschen auch die Politik? Hat das auch eine Rolle gespielt?
    Gebauer: Ich weiß nicht genau, ob die Politik der Bundesrepublik Deutschland da eine Rolle spielen konnte. Ich glaube, eher nicht.
    "Bei der UEFA wollte man sich nicht die Hände schmutzig machen"
    Müller: Ich meine noch mehr die türkische Seite, das Vorgehen Erdogans nach innen.
    Gebauer: Ja, natürlich. Aber auf der anderen Seite, glaube ich, wollte man sich da bei der UEFA auch nicht entblößen und sich die Hände schmutzig machen, indem man zu sehr eingeht auf Forderungen eines türkischen Autokraten.
    Müller: Herr Gebauer, wenn wir über 2024 jetzt reden – das haben wir vorher schon mal getan, aber seit gestern haben wir diese Entscheidung aus der Schweiz bekommen -, dann denken viele, die damals schon alles verfolgen konnten, an 2006, an das Sommermärchen. Das war fröhlich, das war unverkrampft, das war in Teilen sogar auch patriotisch. Da durften die Deutschen Fahnen aufhängen und wurden politisch dann nicht verdächtigt. Da hat sich ja vieles verändert, auch vielleicht das Öffentlichkeitsbild der Deutschen in der Welt. Diese Aufbruchsstimmung, die das damals ausgelöst hat, sehen Sie die jetzt immer noch?
    Gebauer: Nein, überhaupt nicht. Man darf nicht vergessen: Vor 2006 war es eigentlich in vielen Kreisen nicht besonders angesehen, wenn man die Nationalhymne mitgesummt hat - von Mitsingen konnte ja gar nicht die Rede sein -, oder Nationalflaggen geschwenkt hat. Das hat sich während dieser WM merkwürdigerweise und relativ schnell gedreht. Ich habe das genau aus der Nähe verfolgt, wie in meiner Straße zum Beispiel die Nachbarn anfingen, deutsche Flaggen in ihren Balkon zu hängen. Das war vorher absolut undenkbar.
    Und es war im Grunde genommen vier Wochen – man hat das Patriotismus genannt, weil man kein anderes Wort zur Verfügung hatte. Es war die Annäherung an Nationalsymbole, wie sie eigentlich in jedem anderen Land selbstverständlich sind, aber in Deutschland aufgrund der Vergangenheit mehr oder weniger Tabu waren.
    Nun hat sich das aber eingebürgert und schon zwei Jahre später, vier Jahre später noch viel stärker, gab es Flaggen, Nationalsymbole, Bemalung und so weiter in allen Variationen. Da war es dann sogar so, dass beim Public Viewing in Berlin vor dem Brandenburger Tor diejenigen ausgebuht wurden, die keine Nationaltrikots anhatten. Da schwenkte das um in eine Art von fast militantem Nationalismus. Das war sehr unangenehm.
    "Es gibt eine militante Anforderung an Integration"
    Müller: Wenn wir innenpolitisch jetzt nicht allzu sehr ins Detail einsteigen, aber die politische Entwicklung mit dem Aufstieg der AfD – wir wissen nicht, wie das weitergeht, aber der AfD-Anteil könnte ja laut Umfragen auch noch größer werden, noch mehr werden dementsprechend, ohne das jetzt bewerten zu wollen. Aber wird es dann wieder problematisch, mit deutschen Symbolen durch die Gegend zu laufen?
    Gebauer: Ja! Das ist es ja schon eigentlich in der Vergangenheit geworden, wenn militant diejenigen niedergebrüllt werden, die sich nicht öffentlich zu Deutschland bekennen. Wir sehen das ja auch daran, dass eingefordert wird, dass die deutschen Fußball-Nationalspieler, egal woher sie ursprünglich gekommen sind, die deutsche Nationalhymne deutlich mitsingen. Da sind ja wieder ganz viele Lippenleser am Werke, die genau verfolgen, wer da nun singt, wer nicht singt. Das war einer der Gründe, warum Özil sofort in Verdacht geriet, weil er eben nicht gesungen hat, sondern offensichtlich, wie er selber sagte, still gebetet hat. Das war nun etwas, was ein deutscher Nationalspieler eigentlich nicht tun sollte.
    Es gibt eine militante Anforderung an Integration. Das ist auch das, was diesen ganzen Fall Özil so hochgekocht hat. Das heißt, alle Spieler, auch diejenigen, die hier nicht geboren sind, oder die hier geboren sind, aber andere Nationalitäten in der Familie haben, werden verpflichtet auf ein einziges Modell und man verpflichtet sie auf bestimmte Verhaltensweisen. Man muss sich wohl fühlen im deutschen Nationaltrikot und das Publikum muss entsprechend anfeuern und man muss sich entsprechend formieren, dass die deutsche Mannschaft unterstützt wird. Das ist eigentlich eine, wie ich finde, bedenkliche Entwicklung.
    "Fall Özil hätte ganz anders moderiert werden müssen"
    Müller: Ich möchte das Stichwort Özil gerne noch mal aufgreifen, weil mich gestern ein Hörer erreicht hat, der sich am Telefon ein bisschen aufgeregt hat: Kann doch nicht wahr sein, wie bei uns die Debatte Özil verlaufen ist, weil er sich mit Gündogan zusammen auf einem Foto mit Erdogan gezeigt hat, damals in London aufgenommen. Und jetzt kann der Bundespräsident heute mit Erdogan im Schloss Bellevue herumlaufen, und auch die Kanzlerin wird sich mit dem Staatspräsidenten zeigen. Dann war das ein bisschen früh, was Özil gemacht hat, und heute wäre es wieder möglich?
    Gebauer: Nun sind das vollkommen verschiedene Bereiche, um die es hier geht. Der Bundespräsident ist hier in diplomatischer Mission unterwegs und versucht, die Wogen zu glätten, vernünftige Beziehungen zur Türkei wiederherzustellen, egal was da sonst geschehen ist. Das wird natürlich hinter den Kulissen auch besprochen. Bei Özil war das eine andere Geschichte. Da war es ja so, dass er nun dringend aufgefordert war, sich von dieser sehr starken Sympathiebezeugung, die ja auch darin kulminierte, dass er Erdogan als seinen Präsidenten bezeichnet hatte, dass er sich zumindest dazu äußern sollte.
    Er musste sich ja noch nicht mal davon distanzieren. Das wäre eigentlich auch ein bisschen viel verlangt für jemand, der türkische Wurzeln hat. Aber er hat sich nicht einmal dazu geäußert, und ich glaube, das ist das, was auch im Kreis der Nationalmannschaft Befremden hervorgerufen hat. Er ist auch jetzt nicht erreichbar. Das ist sehr misslich. Die ganze Debatte ist von beiden Seiten sehr schlecht geführt worden, ganz besonders schlecht, wie ich finde, vom DFB, insbesondere vom Präsidenten. Das hätte ganz anders moderiert werden müssen. Aber wahrscheinlich hat man die Wucht dieser Begegnung mit Erdogan völlig unterschätzt.
    dpatopbilder - 13.05.2018, Großbritannien, London. Recep Tayyip Erdogan, Staatspräsident der Türkei, hält zusammen mit Fußballspieler Mesut Özil vom englischen Premier League Verein FC Arsenal, ein Trikot von Özil. Der türkische Präsident Erdogan ist zu Besuch in London. (zu dpa-Meldung: «Foto mit Erdogan: Özil und Gündogan sorgen für Wirbel» vom 14.05.2018) Foto: Uncredited/Pool Presdential Press Service/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
    Ein Treffen zwischen Türkeis Präsident Recep Tayyip Erdogan und dem Fußballspieler Mesut Özil hatte in Deutschland eine heftige Kontroverse über politische Haltung und Integration ausgelöst (Uncredited/Pool Presdential Press Service/AP/dpa)
    "Man fragt sich, was mit dem Fußball los ist"
    Müller: Mit der Europameisterschafts-Entscheidung von gestern ist Reinhard Grindel wieder fest im Sattel?
    Gebauer: Ja. Ich denke, im Augenblick ja. Er war durchaus ein Wackelkandidat. Er ist nicht unbedingt ein starker Präsident. Er ist auch ein Notnagel gewesen nach dem Rücktritt von Niersbach. Er arbeitet sehr stark mit der Autorität der Amateurverbände zusammen. Das stößt auf Widerstand bei den Profis, und die Profis sind nun diejenigen, die ein bisschen das Image des deutschen Fußballs ausmachen. Und er vertritt die Interessen des Fußballs nicht sehr professionell. Nun hat er sich gestern offenbar gut geschlagen und kann sich erst einmal sicher fühlen. Auf sehr lange Sicht wird das nicht gut gehen, denke ich.
    Müller: Reden wir über das Sportliche. Ist das gut? Ist das konstruktiv, produktiv für den deutschen Fußball, dieser Zuschlag, wie Jogi Löw das formuliert hat?
    Gebauer: Ja. Ich denke, auf jeden Fall erst mal ist es gut, weil der deutsche Fußball und all diejenigen, die den Fußball lieben in Deutschland, sagen wir mal, die Nationalmannschaft und ihre Spiele, in eine Leere gefallen sind. Das war plötzlich durch dieses entsetzliche Ausscheiden, durch diese schlechte Figur, die die Nationalmannschaft abgegeben hat, so etwas wie ein emotionaler Reinfall.
    Man saß da, die Bundesliga hat wieder angefangen, aber auch sie ist jetzt alles andere als begeisternd, wenn man sieht, dass Mannschaften wie Schalke nach vier, fünf Spielen punktlos am Tabellenende herumdümpeln und auch andere Mannschaften, auf die man vielleicht mal bestimmte Hoffnungen gesetzt hat, sich auch nicht gut schlagen.
    Man fragt sich, was ist mit dem Fußball los. Es ist so etwas wie Angst vor der Zukunft, weil man sieht, bestimmte Positionen in der Nationalmannschaft sind überhaupt nicht besetzt, bestimmte Stürmer. Wir wissen gar nicht, wer da jemals noch Tore schießen soll. Wir sehen Probleme in der Nachwuchsarbeit. Da hat man auch vorher gesagt, wir haben die beste Nachwuchsarbeit der Welt. Inzwischen ist klar, haben wir nicht. Da gibt es andere Länder, die es viel besser können.
    Der Fußball erhält durch diesen Zuschlag ein neues Projekt. Jetzt kann man anfangen, jetzt kann man irgendwas sagen. Und das Interessante war bei der Berichterstattung gestern Abend: Der "Sieg" Deutschlands über die Türkei wurde dargestellt, als sei das ein Fußballspiel, als hätten wir nun endlich mal wieder ein Spiel gewonnen.
    Müller: Und das mit 12:4!
    Gebauer: Und das mit 12:4 – ein eindeutiger Sieg, der ganz klar war, und diesen Sieg hält man nun in den Händen und feiert ihn.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.