Während Frankreich bisher bei dieser EM noch kein Tor aus dem Spiel heraus erzielen konnte, nimmt Spanien mit seinen torreichen Siegen immer mehr die Favoritenrolle auf den Titel ein. Taktikexperte Tobias Escher sieht sie trotzdem noch nicht als Sieger des anstehenden Halbfinales zwischen Spanien und Frankreich. Denn die Innenverteidigung der Franzosen ist die stärkste des gesamten Turniers, so der Sportjournalist und Blogger. Das einzige Gegentor bisher war ein Elfmeter des polnischen Stürmers Robert Lewandowski im Gruppenspiel gegen Polen.
„Ich glaube, das ist genau der Weg, den Didier Deschamps sehen möchte,“ so der Autor mehrerer Sachbücher über Taktiksysteme im Fußball im Deutschlandfunk-Interview. Die Gesamttaktik der Franzosen sei, möglichst wenig Tore zu kassieren. Das sehe man schon an der Aufstellung: wenige Stürmer, sondern viele Spieler im zentralen Mittelfeld.
Unter den Favoriten nur Spanien und Deutschland mit offensivem Fußball
„Wenn man es einer Mannschaft zutrauen kann, diese französische Mauer zu durchbrechen, dann sind es die Spanier“, analysiert Escher. Die Spanier spielen bisher sehr offensiv, greifen mit fünf bis sechs Spielern an, stören ihre Gegner früh, verzeichnen viele Ballgewinne und Konterchancen.
„Die Spanier sind sicherlich zusammen mit Deutschland das einzige Team gewesen von den Favoriten, die wirklich offensiven Fußball spielen, die auch wirklich den Gegner früh stören möchten."
Zwar haben die Spanier jetzt einige verletzte oder gesperrte Spieler, dennoch glaubt Sportjournalist Escher, dass das neue Spielsystem der Spanier erfolgreich sein könnte. Denn sie hätten ihren langjährigen Ballbesitz-Fußball weiterentwickelt:
„Die Spanier können immer noch sehr toll passen. Sie sind immer noch das Team, das die härtesten Pässe von allen spielt. Aber die Pässe sind kein Selbstzweck mehr.“ Die technische Stärke also behalten, aber variabler im Spiel geworden – ob das der Schlüssel gegen die Franzosen sein kann?
Wenige Tore lägen nicht nur an der Verletzung von Mbappé
Escher ist sich auf jeden Fall sicher, dass die kaum vorhandene Offensive von Frankreich nicht an der Verletzung von Mbappé liege.
Zwar ist es schon so, dass die Maske störe, Mbappé verhaltener spiele und Kopfbälle meide, aber der Stürmer habe selbst gesagt, dass er keine Tore wie früher schießen könne, wenn nicht auch die Pässe, wie bei der EM 2022 von Paul Pogba, die Chancen dazu einleiten würden.
Englands Trainer werde immer risikoscheuer
Auch auf das zweite Halbfinale zwischen England und der Niederlande schaut Tobias Escher voraus, der auch gelegentlich im Podcast Rasenfunk zu hören ist.
„Ich würde schon behaupten, dass sie sehr, sehr stark vom Glück und ihrer individuellen Klasse leben,“ stellt er den Engländern ein bisheriges Zeugnis aus.
Gerade Englands Trainer Gareth Southgate wird bei dieser EM wegen seiner taktischen Entscheidungen viel kritisiert. „Er war noch nie ein Trainer, der Risiken eingegangen ist, aber mit jeder Niederlage, die ihm passiert ist, ist er risikoscheuer geworden,“ erklärt Escher das Trainerverhalten.
So traue er sich nicht, von den Stars auch einige auf die Bank zu setzen, obwohl das Zusammenspiel auf dem Feld nicht gut funktioniere. „Er scheut sich auch, mehr Angreifer auf das Feld zu schicken, er scheut sich seine Außenverteidiger weit nach vorne zu schicken. Das sind alles sehr risikofreie Ideen.“
England bisher mit viel Glück durch's Turnier gekommen
Taktikexperte Tobias Escher glaubt nicht, dass es der fußballerisch beste Weg sei, sich mit möglichst wenig Risiko durch so ein Turnier zu schummeln. Damit das funktioniere, gehöre auch immer Glück. Und das hatte England bisher: Im Spiel gegen die Slowakei im Achtelfinale gab es bis zum Fallrückzieher von Jude Bellingham keinen Torschuss und gegen die Schweiz im Viertelfinale hatte England erst im Elfmeterschießen Erfolg, da sie die besseren Schützen hatten.
Glück auch, weil sich die offensichtlich stärksten Teams, in den Augen von Escher Spanien und Deutschland, schon im Viertelfinale gegenseitig ausgeschaltet haben. Aber auch Englands Gegner im Halbfinale, die Niederlande, holt noch nicht das Maximum aus dem Kader heraus.
Ein mutiges Spiel gerade von englischer Seite wäre, ein, zwei Stars auf der Bank zu lassen, „um eine Mannschaft zu bekommen, die kohärenter spielt“. Für ein offensives Spiel wären die Spieler da, in der englischen Innenverteidigung gibt es hingegen schon Lücken – zu viele, um nur defensiv gegen die Niederlande zu spielen.
„Die individuelle Klasse ist schon auffällig“, resümiert Escher das Turnier bisher. Denn dank denen schaffen es Teams doch „trotz offensichtlicher, taktischer, fußballerischer Mängel sehr weit zu kommen.“
sl