Fußball-EM 2024
EM bringt den deutschen Nahverkehr an seine Grenzen

Überfüllte Züge und chaotische Verkehrsverhältnisse an einigen Spielorten werfen einen Schatten auf das Turnier. Fans und Verantwortliche ziehen eine gemischte Zwischenbilanz und hoffen auf Besserung für die verbleibenden Spiele.

Von Matthias Friebe | 22.06.2024
Mit Fußballfans überfüllter Bahnsteig
Beim Spiel Serbien gegen England in Gelsenkirchen kam es rund um das EM-Spiel zu Verkehrschaos. (IMAGO / Offside Sports Photography / Simon Stacpoole)
„Nächster Halt: Gelsenkirchen Hbf!“ - Extra für die Europameisterschaft hat Schalke-Legende und EM-Botschafter Gerald Asamoah die Ansagen für die Straßenbahnen in Gelsenkirchen aufgenommen. Für so etwas hatten viele Fans aber kein Ohr beim ersten Spiel dort zwischen Serbien und England.
Auch bei Miguel Delaney war der Frust groß. Der Reporter der englischen Zeitung „The Independent“ war schon bei vielen Turnieren. Die EM in Deutschland sei die am schlechtesten organisierte, schreibt er in den sozialen Medien, als er auf dem Weg zum Stadion in einer vollen Straßenbahn steckt.

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Inzwischen ist der Frust etwas verraucht: „Der Schlüssel zu einem Turnier ist ganz einfach: leicht zu und von einem Stadion zu kommen. Hier war es mit das Schlimmste, was ich je erlebt habe. Vor allem in Nordrhein-Westfalen. Gelsenkirchen! Düsseldorf war auch nicht viel besser.“

Gelsenkirchen gibt sich überrascht von der Kritk am Verkehrskonzept

Gerade vom ersten Spiel in Gelsenkirchen finden sich in den sozialen Medien etliche Bilder und Video-Clips von vollen Bahnsteigen mehrere Stunden nach Abpfiff.

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Der Gelsenkirchener Verkehrsdezernent Jörg Konietzka ist überrascht über die massive Kritik. Er zieht insgesamt ein positives Fazit, sagt dann aber auch: „Ja, es gab Stauungen, ja man musste warten. Aber man kann sich das auch erklären. Wenn 50.000 Menschen gleichzeitig mehr oder weniger in eine Richtung reisen wollen, alle zum Hbf Gelsenkirchen und dann weiter über die Rheinschiene, Düsseldorf und Köln, dass es dann zu Wartezeiten kommt. Wir können nicht 50.000 Menschen gleichzeitig transportieren.“
Gut 35.000 Personen mussten mit Bus und Straßenbahn bewegt werden, das sind mehr als dreimal so viele wie bei einem Zweitliga-Spiel der Schalker. Und: Alle mussten in die gleiche Richtung – zum Hauptbahnhof.
Das örtliche Verkehrsunternehmen Bogestra weist die Kritik ebenfalls zurück. Das System habe auch beim Spiel Serbien gegen England seinen Dienst getan, der Umlauf der Bahnen habe funktioniert, teilt die Bogestra auf Anfrage des Deutschlandfunks mit. Auch Reporter Miguel Delaney telefoniert mit dem Verkehrsbetrieb. „Sie waren – ich will nicht sagen – ablehnend gegenüber der Kritik, sie sehen einfach nicht dieselben Probleme.“

Mehr Züge nach dem zweiten Spiel in Gelsenkirchen

Anders als die englische Fanbotschaft. In einem Statement nach dem Spiel schreiben die Fanvertreter von teils gefährlicher Überfüllung, zu wenig Schildern und schlechter Beleuchtung rund ums Stadion. Es sei nur dem ruhigen Verhalten der Fans zu verdanken, dass nichts Schlimmeres passiert sei.
Die Forderung der Fans, das Konzept nachzubessern, lehnen die Verantwortlichen der Stadt zunächst ab. Für das zweite Spiel zwischen Spanien und Italien gibt es dann aber doch kurzfristig mehr direkte Züge Richtung Essen.
Mit Erfolg, sagt der Gelsenkirchener Stadtdirektor Luidger Wolterhoff: „Im Prinzip 2,5 Stunden nach dem Spiel war selbst der Bahnhof leer, das heißt im Bahnhof haben sich zu dem Zeitpunkt keine Menschen mehr befunden, die auf einen Zug warteten. Das - finde ich - ist ein Ergebnis, was sich wirklich sehen lassen kann.“
Die Zeitspanne zwischen Abpfiff und geleerten Bahnhöfen und Straßenbahn-Stationen ist die Währung, in der die Verkehrsbetriebe bei Großereignissen rechnen.

Jahrelange Vorbereitungen auf EM-Verkehr

Und eine Abfrage bei allen Verkehrsunternehmen in den zehn Gastgeberstädten zeigt: Außer kleineren Störungen sind eigentlich alle sehr zufrieden. Aus Stuttgart heißt es, die Abreise habe im prognostizierten Zeitfenster geklappt.
Auch die DSW21 aus Dortmund erlebt eine reibungslose Abreise. Nach dem Spiel Türkei-Georgien sei das Stadion schon eine Stunde nach Abpfiff fast komplett geräumt gewesen. Die Vorbereitungen dafür liefen oft bis zu zwei Jahre - und das für vier bis sechs Spiele während des Turniers.
Gelsenkirchens Verkehrsdezernent Konietzka erklärt den großen Aufwand: „Auch am Stadion ist alles anders, die Eingänge haben neue Namen bekommen, einen äußeren Sicherheitsring gibt’s ums Stadion, dadurch haben sich auch Wegebeziehungen verändert, letztendlich musste man ein komplett neues Konzept erstellen.“
Auch weil vorher nicht klar war, wie viele Fans mit dem PKW oder mit Bus und Bahn anreisen wollen. Hinzu kommen die Fanmärsche der internationalen Fans. Die entlasten einerseits den Nahverkehr, weil Tausende den Weg ins Stadion zu Fuß antreten. Andererseits führt das aber auch zu kurzfristigen Sperrungen und Unterbrechungen der Bus- und Bahnlinien, wie Köln und Frankfurt mitteilen.

Britischer Reporter: Deutsche Bahn noch schlechter als in England

Das Bundesverkehrsministerium will sich auf Anfrage zu keiner Bewertung hinreißen lassen, stellt in der Antwort lediglich neutral die erhöhten Kapazitäten und Anstrengungen aller Beteiligten dar. Und die Verantwortung für Probleme im Regional- und Fernverkehr lägen bei der Deutschen Bahn.
„Für die Sicherstellung sind operativ die Verkehrsträger verantwortlich. Vereinzelte unvorhergesehene Herausforderungen (Verspätungen, Unwetterschäden etc.) sind im Einzelfall für die Betroffenen verständlicherweise ärgerlich.“
Ähnliches ist auch von den lokalen Verkehrsbetrieben zu hören. Die gute Kooperation wird von allen Seiten gelobt, der Verkehrsverbund Stuttgart lässt aber auch hier wissen: „Leider ist es nicht ganz gelungen, das Schienennetz in der Region Stuttgart während der EM frei von Baustellen zu halten.“
Die Bahn selbst bedankt sich für die Geduld der Fans und gibt in einer ersten Zwischenbilanz Störungen auf den Hauptachsen zu. Die beklagten viele Fans, sodass Reisen schwer planbar wurden.
„Independent“-Reporter Miguel Delaney ist schon vor dem Turnier von deutschen Kollegen gewarnt worden und sagt jetzt nach einer Woche bei der EM: „Die Warnung ist das eine, es war trotzdem anders als ich erwartet habe. Ich reise Woche für Woche durch England. Wir beschweren uns sehr über unsere Bahn, aber die Deutsche Bahn ist noch schlechter.“

Verkehrsexperte: Deutsches Netz an Überlastungsgrenze

Das sei einfach das neue Normal, meint dazu Christian Böttger, Verkehrsexperte von der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin. „Es ist keine Katastrophe, aber man sieht natürlich, dass das deutsche Netz an der Überlastungsgrenze ist. Uns fehlt das Personal, wenn zusätzlich Leute kommen. Früher hat man dann Sonderzüge gefahren, das geht jetzt nicht mehr.“
Der einst gute Ruf der Bahn ist hierzulande schon länger verflogen, die große Aufmerksamkeit des Turniers im In- und Ausland legt manches Problem jetzt einfach noch einmal besonders gut offen. „Natürlich werden die Anforderungen höher, die man hat und Deutschland hat traditionell ein Bahnsystem, das sehr effizient war. Das Sprichwort „Pünktlich wie die Eisenbahn“ zeigt das ja auch. Aber diesem Anspruch wird man nicht mehr gerecht.“
Insgesamt hat die Deutsche Bahn rund 3 Millionen Fahrgäste in der ersten Woche gezählt, das sei mehr als bei jedem anderen Fußballturnier früher. 14 Sonderzüge am Tag wurden eingesetzt, täglich ergebe das rund 10.000 Extra-Plätze im Fernverkehr. Nach knapp der Hälfte der Turnierspiele treten immer wieder Probleme auf. Das ganz große, von manchen befürchtete Desaster ist bisher ausgeblieben.

Lokale Verkehrsbetriebe bessern nach

Die lokalen Verkehrsbetriebe versichern, mit den Erfahrungen der ersten Spieltage noch besser zu werden. Mit Blick auf das Endspiel kündigt die BVG in Berlin schon an: „Beim Finale werden wir die relevanten Linien noch länger als bei den anderen Spielen in dichten Takten bis in die Nachtstunden fahren, damit die feiernden Fans sicher und zuverlässig nach Hause kommen.“
In Gelsenkirchen, der Stadt, die am meisten Ärger abbekommen hat zum Turnierauftakt, ist schon zwei Wochen vor Berlin das örtliche Finale. Das Achtelfinale mit dem Gruppensieger der Gruppe C ist das letzte Spiel in der blau-weißen Ruhrgebietsstadt.
Verkehrsdezernent Konietzka zieht trotz aller Kritik schon jetzt ein zufriedenes Fazit. „Wenn man bedenkt, was wir noch zusätzlich auf die Beine gestellt haben und dann zusätzliche Fahrten anbieten, trotz der Probleme, da auch an geeignetes Fahrpersonal zu kommen, glaube ich, haben wir da Großes geleistet.“
Vielleicht erleben das dann auch die englischen Fans noch einmal, sollte ihr Team Gruppe C gewinnen. Dann begrüßt sie Gerald Asamoah noch einmal: „Nächster Halt: Gelsenkirchen Hbf!"“