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Emmanuel Carrère: "Der Widersacher"
Die Suche nach dem Quell des Bösen

Ein Familienvater tötet seine Frau und seine Kinder. Der französische Autor Emmanuel Carrère macht sich in seinem dokumentarischen Roman "Der Widersacher" auf die Suche nach den Gründen – begleitet von der Frage, ob es legitim sei, über einen Mörder literarisch zu schreiben.

Von Dina Netz |
    Der französische Autor Emmanuel Carrère und sein Roman "Der Widersacher"
    Der französische Autor Emmanuel Carrère und sein Roman "Der Widersacher" (Cover: Matthes & Seitz Berlin / Portrait: dpa - Maxppp - Thomas Padilla)
    Emmanuel Carrère hat das Genre des "subjektiven Tatsachenromans" begründet. Das heißt, er bringt sich immer auch selbst in seine dokumentarischen Romane ein. Man guckt dem Autor gewissermaßen beim Schreiben über die Schulter. In "Der Widersacher" ist diese Methode konstitutiv für den Text, denn im Kern geht es Carrère um die Frage, ob es überhaupt legitim ist, über einen mehrfachen Mörder zu schreiben. Und wenn ja, in welcher Form und aus welcher Haltung heraus.
    Der Impuls, über Jean-Claude Romand zu schreiben, entstand aus Fassungslosigkeit über die Bandbreite des menschlichen Lebens, das solche Parallelhandlungen zulässt:
    "Während Jean-Claude Romand am Samstagmorgen, den 9. Januar 1993, seine Frau und seine Kinder tötete, saß ich mit meinen in einer Versammlung der Schule unseres älteren Sohnes. Gabriel war fünf Jahre alt, genauso alt wie Antoine Romand. Danach gingen wir zu meinen Eltern mittagessen und Romand ging zu seinen und brachte sie nach dem Essen um."
    "In dieser Mühle gefangen, niemanden enttäuschen zu wollen"
    Emmanuel Carrère interessiert sich immer schon für die menschlichen Abgründe, für die düsteren Untiefen, die schwer auszuloten sind. Ihn fesselt die Frage, welchen Antrieb Jean-Claude Romand hatte: Wie kommt ein angesehener Arzt und Familienvater, der sich anscheinend nie etwas hat zuschulden kommen lassen, dazu, seine ganze Familie auszulöschen? Kurz: Carrère will den "Widersacher" aufspüren, den Romand in sich tragen muss und der sein Leben zerstört hat.
    Carrère ist beim Prozess anwesend, wechselt Briefe mit Romand, die er im Buch zitiert, trifft Romand mehrfach persönlich und schildert im Hauptteil des Buches im überwiegend distanzierten Tonfall eines Gerichtsreporters Romands Leben. Hier merkt man Carrère stilistisch den routinierten journalistischen Reporter an, als der er auch immer wieder arbeitet.
    Jean-Claude Romand stammt aus einer Förster-Familie im Jura. Die Mutter war offenbar depressiv, was man damals nicht so benannte, aber was Vater und Sohn dazu brachte, vorzugeben, "dass immer alles glatt laufe". Das Einfallstor für Romands eigene Depression, wie er im Prozess nahelegte:
    "Ich war immer heiter, und ich glaube, meine Eltern haben von meiner Traurigkeit nie etwas geahnt ... Ich hatte damals nichts anderes zu verbergen, doch diese Angst, diese Traurigkeit, die habe ich verborgen ... Sie wären sicher bereit gewesen, mir zuzuhören, auch Florence hätte mir sicher zugehört, aber ich konnte nicht sprechen ... und wenn man einmal in dieser Mühle gefangen ist, niemanden enttäuschen zu wollen, dann zieht eine Lüge die nächste nach sich, und daraus wird dann ein ganzes Leben ..."
    Seine depressiven Phasen erklärt Romand seiner Frau Florence und seiner Umgebung mit einer immer wieder ausbrechenden Krebserkrankung. Doch diese Lüge ist bei weitem nicht die einzige, das Lügen wird in Romands Leben zur Methode. Von dem Tag an, als er - wahrscheinlich aus Angst - nicht zu einer Zwischenprüfung erscheint und dies nicht zugibt, webt er ein ganzes Netz aus Lügen um seine Person. Er schließt sein Medizinstudium nicht ab, behauptet aber, ein renommierter Forscher bei der Weltgesundheitsorganisation zu sein. Er geht jeden Morgen aus dem Haus und streift danach durch verschiedene Städte oder durch den Wald. Das Geld für seinen immer teureren Lebenswandel stammt von Verwandten, die es ihm anvertrauen, weil er vorgibt, es unter günstigen Bedingungen für sie anzulegen. 18 Jahre lang hat Romands Lügengebäude Bestand - unglaublich, dass er mit dieser Köpenickiade durchkam.
    Angst vor dem Einsturz der sozialen Fassade
    Doch dann verlangt Romands Geliebte ihr angeblich gut angelegtes Geld zurück, um sich ein Auto zu kaufen. Dies und ein paar andere Faktoren setzen ihn so sehr unter Druck, dass er keinen Ausweg mehr sieht, als seinem Leben ein Ende zu setzen. Seinem Leben? Im Prozess äußert der Richter Zweifel daran, ob Romand sich überhaupt umbringen wollte – der Selbstmordversuch war allenfalls halbherzig. Bei der Auslöschung seiner Familie hingegen zeigte er große Gründlichkeit. Er wollte ihnen die Schmach ersparen, den geliebten Vater, Ehemann und Sohn vom Sockel ins Bodenlose stürzen zu sehen. Vielleicht wollte Romand auch eher sich selbst diese Schmach ersparen.
    Der "Widersacher", den Emmanuel Carrère mit seinem Roman aufspüren will, ist also eigentlich schnell ausgemacht: eine verkappte Depression, gekoppelt mit einer maßlosen Angst vor der Entlarvung, vor dem Einsturz der sozialen Fassade. Und hinter dieser Fassade: Leere.
    "Eine Lüge dient normalerweise dazu, eine Wahrheit zu verbergen, etwas vielleicht Beschämendes, aber Wahres. Die seine verbarg nichts. Hinter dem falschen Doktor Romand gab es keinen echten Jean-Claude Romand."
    Mit der Aufdeckung von Romands psychischen Defiziten könnte die Suche nach dem "Widersacher" auf Seite 76 zu Ende sein. Das Buch hat aber mehr als doppelt so viele, und gerade in der zweiten Hälfte begibt Carrère sich auf schwankenden Boden.
    Sein Roman streift (mindestens) zwei moralische Problemstellungen: Zum einen muss der Autor sich vor sich selbst und der Öffentlichkeit rechtfertigen, warum er sich auf die Seite des Täters und nicht der Opfer schlägt. In einem anderen Buch, im "Brief an eine Zoowärterin aus Calais" hat Carrère dieses Dilemma so formuliert: Er sei einer dieser "Sensationskünstler, die nur kommen, um den Schrecken in ein Werk zu verwandeln." Diesem Vorwurf haben sich auch schon Carrères französische Schriftsteller-Kollegen Jonathan Littell, Laurent Binet und Olivier Guez stellen müssen, die Nazi-Größen zu Protagonisten ihrer Romane gemacht haben. Darauf kann man leicht mit der künstlerischen Freiheit kontern und mit den Möglichkeiten der Literatur, die jenseits von Reportage und Geschichtsschreibung in andere Erkenntnis-Dimensionen vorstoßen kann. Wenn sie gelingt. Ob "Der Widersacher" dieses selbstgesetzte Ziel allerdings erreicht, ist fraglich, und das ist das eigentliche Problem des Romans.
    Ein Spielzeug dämonischer Kräfte
    Zu der Zeit, als Carrère an "Der Widersacher" arbeitete, war er gerade in einer Phase der intensiven Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche. So erklären sich wahrscheinlich Formulierungen wie die, dass ihn "diese grauenhafte Geschichte erwählt" habe und die Frage, ob die Beschäftigung mit Romands "Widersacher" seine "Berufung" geworden sei. Und in dieser spirituellen Verfassung traf Carrère nun auf Jean-Claude Romand, der im Gefängnis durch seinen Glauben geläutert worden war. Oder dies zumindest vorgab. Carrère gesteht selbst an einer Stelle ein, dass ihm zuweilen die Perspektive verrutscht sei:
    "Es gibt gewiss nicht x-beliebig viele Formen der Ansprache an jemanden, der seine Frau, seine Kinder und seine Eltern ermordet und selbst überlebt hat, doch im Nachhinein wird mir bewusst, dass ich mich von Anfang an mit diesem betulichen, mitfühlenden Ernst bei ihm einzuschmeicheln versuchte und ihn nicht als jemanden betrachtete, der etwas Grauenhaftes getan hatte, sondern als einen, dem etwas Grauenhaftes zugestoßen war, als unseliges Spielzeug dämonischer Kräfte."
    Wie um sich dafür zu entschuldigen, flicht Carrère auch zwei Kapitel ein, in denen er von Jean-Claudes bestem Freund Luc und dessen Familie erzählt, die durch die monströsen Taten des vermeintlich Vertrauten in eine tiefe Krise stürzten. Immer wieder stellt Carrère außerdem den eigenen Standpunkt in Frage - dennoch: Gerade der Schluss des Buches ist mit den ausführlichen Erzählungen von Romands Läuterung durch seinen Glauben wirklich zu weihevoll geraten. Da geht dem Autor die selbstreflektierende Distanz ab, die er über weite Strecken des Buches eingehalten hat.
    Carrère erzählt im Buch auch immer wieder davon, wie ihn sein Protagonist und die Frage des literarischen Umgangs mit seiner Geschichte über Jahre hinweg gequält haben. Diese Qualen übertragen sich auf den Leser. Mindestens genauso quälend sind jedoch die Zweifel daran, ob es legitim ist, so wie Emmanuel Carrère über einen mehrfachen Mörder zu schreiben.
    Emmanuel Carrère: "Der Widersacher"
    Aus dem Französischen übersetzt von Claudia Hamm
    Mit einem Gespräch zwischen Emmanuel Carrère und Claudia Hamm
    Verlag Matthes & Seitz Berlin, 196 Seiten, 22 Euro