Die Geschichte vom Kapital als scheuem Reh, das dorthin flieht, wo die Steuersätze am niedrigsten sind, wird häufig erzählt. Die Globalisierung zwinge Staaten eben dazu, die Steuern für Konzerne und Vermögende zu senken, weil ihr Kapital sonst das Weite suchen würde. Die Ökonomen Emmanuel Saez und Gabriel Zucman schreiben über die Entwicklung, Lage und Handlungsmöglichkeiten, die Staaten bei Steuern haben. Sie präsentierten Fakten vor allem für die USA. Ihre Befunde gelten aber tendenziell auch für andere Länder.
"Die Meinung, Steuerkonkurrenz sei unvermeidlich, ist falsch. Der Unterbietungswettbewerb, der heute wütet, ist nur eine Option von vielen. Ein Überbietungswettbewerb eine andere. Globalisierung und moderne Technologie sind vereinbar mit Steuerprogressivität."
Die Autoren wollen zu einer Erneuerung der "fiskalischen Demokratie" beitragen, was sie für notwendig erachten, damit Demokratien elementare Aufgaben wie Bildung, Gesundheit und Altersvorsorge bewältigen könnten.
In den USA blieb das Kapital zunächst trotz hoher Steuern
Prinzipiell können Staaten überhaupt nur Kapital oder Arbeit besteuern. Dabei setzte sich - seit Ende des 19. Jahrhunderts – im Westen der Grundsatz durch, dass Bürger nach ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit besteuert werden sollten. Mit solchen progressiven Steuersystemen sollte auch gezielt die Ungleichheit in Gesellschaften begrenzt werden. Mit dem New Deal schuf US-Präsident Franklin D. Roosevelt in den 1930er Jahren das progressivste Steuersystem der Welt. Einkommen wurden mit Spitzensteuersätzen von 90 Prozent, Nachlässe mit 80 Prozent und Unternehmensgewinne mit 50 Prozent besteuert. Die Ungleichheit in den USA sank nachweislich und das Kapital floh keineswegs.
Mittlerweile hat sich die Lage drastisch verändert, was die Wissenschaftler mit Daten belegen, die bis ins Jahr 1913 zurückgreifen.
"Im Jahr 1970 zahlten die reichsten US-Amerikaner über 50 Prozent ihres Einkommens an Steuern [...], doppelt so viel wie die Angehörigen der Arbeiterschicht. Infolge der Trump´schen Steuerreform zahlten Milliardäre im Jahr 2018 zum ersten Mal in den vergangenen 100 Jahren weniger Steuern als Stahlarbeiter, Lehrer und Rentner […] Es ist, als ob ein ganzes Jahrhundert Geschichte der Steuerpolitik ausradiert worden wäre. […] Für die Steuern, die die Reichen nicht zahlen, muss aber der Rest von uns aufkommen."
Das progressive Steuersystem hatten die Nachfolger von Roosevelt zunächst belassen - Demokraten und Republikaner. Steuerschlupflöcher schlossen sie, verboten etwa die heute wieder erlaubten und bei Konzernen beliebten Aktienrückkäufe.
Die Auswüchse der Wende
Die Wende kam unter dem republikanischen Präsidenten Ronald Reagan, der bei Amtsantritt erklärte: "Die Regierung ist nicht die Lösung unseres Problems, die Regierung ist das Problem". Seiner drastischen Steuerreform stimmten nicht nur seine Partei, sondern auch fast alle Demokraten zu. Die Vorstellung vom schlanken Staat und von gewinnmaximierenden Unternehmen als Motor des Fortschritts setzte sich im Mainstream durch. Infolgedessen blühte die Steuervermeidungsindustrie auf. Die Autoren machen ein Muster aus.
"Als erstes nimmt die Steuerumgehung massiv zu. Dann folgt die Klage von Regierungen, die Reichen zu besteuern sei unmöglich geworden. Anschließend werden deren Steuersätze gekürzt."
"Nötig ist ein System geteilter Überzeugungen: dass kollektives Handeln Vorzüge hat [...]; dass dem Staat bei der Organisation dieses kollektiven Handelns eine zentrale Rolle zukommt; und dass die Demokratie wertvoll ist."
Dann gäbe es sehr wohl Instrumente für Staaten, eine höhere Besteuerung von Konzernen und Ultrareichen durchzusetzen. Notwendig dafür seien eine Kooperation von Staaten bei Steuern statt dem heutigen Wettbewerb, Sanktionen gegen Steueroasen und vor allem die Erhebung einer Mindeststeuer von 25 Prozent auf die gesamten Gewinne von Konzernen.
Steuerkoordinierung als Teil von Handelsabkommen
Wenn etwa Apple in Irland einen wesentlich geringeren Steuersatz zahle, könne das Hochsteuerland USA den Rest einziehen. Die notwendigen Daten dafür gibt es mittlerweile. Denn die Politik hat durchgesetzt, dass Konzerne gegenüber Steuerbehörden offenlegen müssen, in welchem Land sie welchen Gewinn erzielen. Wegweisend wäre vor allem eine weitreichende Kooperation zwischen den USA und Europa, finden Saez und Zucman.
"Würden sie gemeinsam das von uns vorgeschlagene System übernehmen, dann würden bis zu 75 Prozent der weltweit erzielten Gewinne mit 25 Prozent oder mehr besteuert: sämtliche Profite US-amerikanischer und europäischer Multis (50 Prozent der Profite weltweit) plus die Hälfte der Gewinne aller anderen Unternehmen. […] Um politische Fortschritte zu erzielen, sollten Steuerfragen im Mittelpunkt der Handelspolitik stehen. Zukünftige Handelsabkommen sollten nicht unterzeichnet werden, solange sie kein Abkommen über Steuerkoordinierung enthalten."
Es würde sich lohnen, schreiben die Autoren. Denn dann wäre das Geschäftsmodell der Steuervermeidungsindustrie am Ende, und Unternehmen würden dorthin gehen, wo die Arbeiter produktiv und die Infrastruktur hochwertig ist und die Verbraucher über genügend Kaufkraft verfügen, um ihre Produkte zu kaufen. Statt durch Steuerkürzungen würden die Länder durch höhere Infrastrukturausgaben, Investitionen in Bildung und Forschung miteinander konkurrieren.
Die Ökonomen haben ein wichtiges, gut begründetes und überzeugendes Buch geschrieben. Eine gerechte Besteuerung ist auch in einer globalisierten Welt möglich – sie muss aber gesellschaftlich gewollt sein. Dafür braucht es politischer Überzeugungsarbeit.
Emmanuel Saez; Gabriel Zucman: "Der Triumph der Ungerechtigkeit! Steuern und Ungleichheit im 21. Jahrhundert",
Suhrkamp Verlag, 279 Seiten, 22 Euro.
Suhrkamp Verlag, 279 Seiten, 22 Euro.