Nelly, Gladys, Charonne - drei Frauen, drei Generationen, die alle unter einem Dach in Marseille wohnen. Emmanuelle Bayamack-Tams Roman ist das Psychogramm einer scheinbar völlig kaputten und doch ganz alltäglichen Familie - analytisch, unerbittlich, kalt bis zur Grausamkeit. Und dabei hochironisch, oft komisch bis zur Karikatur. Ein pointiert geschriebenes Buch über emotionale Verwahrlosung, Egoismus und die Unfähigkeit zu lieben - und gleichzeitig über die französische Kolonial-Vergangenheit und tief sitzenden Rassismus.
"Übrigens bin ich in Marseille, wo jeder Einwohner mindestens einen arabischen, italienischen, armenischen, komorischen oder griechischen Vorfahren aufweist, nur selten diejenige mit der schwärzesten Haut und dem schwärzesten Haar, was aber noch nie jemanden davon abgehalten hat, mich als dreckige Negerin oder Bamboula zu beschimpfen."
So wie es sogar ihr "falscher" Großvater tut, der Briefmarken aus den ehemaligen französischen Kolonien sammelt und - wie sehr viele in und um Marseille - den Front National wählt.
"Übrigens bin ich in Marseille, wo jeder Einwohner mindestens einen arabischen, italienischen, armenischen, komorischen oder griechischen Vorfahren aufweist, nur selten diejenige mit der schwärzesten Haut und dem schwärzesten Haar, was aber noch nie jemanden davon abgehalten hat, mich als dreckige Negerin oder Bamboula zu beschimpfen."
So wie es sogar ihr "falscher" Großvater tut, der Briefmarken aus den ehemaligen französischen Kolonien sammelt und - wie sehr viele in und um Marseille - den Front National wählt.
Ihr Name - eine Verballhornung von Sharon Stone
Charonnes Vater oder Mutter stammte aus Afrika oder der Karibik, das vermutet jedenfalls das Jugendamt. Ihr Name, eine Verballhornung von Sharon Stone, klingt im Französischen etwas bizarr - vergleichbar etwa mit "Mandy" im Deutschen. Der Name "Charonne" auf einem Zettel war das einzige Kennzeichen, als das ausgesetzte Baby gefunden wurde. Nach fünf Jahren im Heim wird das Mädchen von einem wohlhabenden Ehepaar aus Marseille adoptiert.
"Denn ich habe sie nicht nur über meinen Hauttyp hinweggetäuscht, sondern, einmal adoptiert, fing ich an, in ungeheurem Maße fett zu werden. (…) Ich darf nunmehr alles essen und verzichte darauf auch nicht. Tatsächlich schlage ich mir, sobald meine Eltern mir den Rücken zugekehrt haben, und sie haben die Tendenz, ihn mir häufig zuzukehren, schamlos den Bauch voll. Essen ist die Lust meines Lebens, aber ich lasse nichts davon durchscheinen, denn Lust und Essen sind in meinem neuen Heim verrufen."
Hier hört man Oskar Matzerath sprechen - ein Kind, das sich weigert, den Wünschen der Erwachsenen gerecht zu werden und sich entschließt, seinen Körper zu deformieren. Der Held von Günter Grass hörte auf zu wachsen. Charonne macht das Gegenteil, sie isst jede der in dem großbürgerlichen Haushalt üppig aufgetragenen Schüsseln leer - aus Protest gegen ihre Adoptiveltern, die sich rigorosem Vegetariertum und dem Buddhismus verschrieben haben.
Die asketische Adoptivmutter hat bald genug
Die asketische Adoptivmutter hat bald genug von der widerspenstigen und immer adipöser werdenden Tochter. Sie versucht daher, sie bei der Behörde zurückzugeben - vielleicht die grotesk-verstörendste Szene in diesem Buch, das reich ist an solchen, zunächst unglaubwürdigen Momenten, die letztlich aber doch plausibel dargestellt werden.
"Unser Fehler wird es sein, zu spät zu reagieren. (…) Aber eben, wir wollen so sehr, dass es funktioniert, dass wir beinahe ein Jahr brauchen, um uns darüber zu verständigen, dass es nicht der Fall ist und wir einen schüchternen Rückgabeversuch gegenüber den Leuten vom Heim der Kindersozialhilfe wagen."
Für Gladys scheint Mutterschaft etwas zu sein, das man kaufen und bei Nichtgefallen wieder zurückgeben kann - so wie eines der Möbelstücke, mit denen sie die ererbte Marseiller Villa vollstopft. Diese Herzlosigkeit erklärt sich, so meint sie selbst, durch die Vernachlässigung, die sie selbst durch ihre Eltern erfahren hat.
"Mit mehr als fünfzig Jahren suchen wir für uns noch immer nach Gründen, warum wir überhaupt existieren sollten und nicht etwa verschwinden - entsprechend dem Verdrängungsprogramm unserer Eltern. (…) Die Gegenstände, das Kunstgewerbe, all das mag ja hübsch sein, aber es wird niemals das ersetzen, woran es uns gemangelt hat: Liebende und unsere Kindheit respektierende Eltern anstelle dieser Schundväter und -mütter, die immer bei irgendwelchen Filmen waren, auf irgendwelchen Abendgesellschaften, auf Reisen; immer darum bemüht, uns eiligst an Dienstmädchen, Kindermädchen oder junge Au-pair-Mädchen weiterzureichen.."
Großbürgertum, Machismo, verkümmerte Gefühle
Gladys’ Mutter verkörpert die perfekte großbürgerliche Dame - elegant, stets gut frisiert, eloquent, immer mit Haltung. Ihr Ehemann war ein Grandseigneur von altem Schlag - mit zahllosen Affären und unehelichem Kind. Eine Art Macho-Klassiker der gehobenen Gesellschaft Frankreichs - François Mitterrand mit seiner Zweitfamilie oder Dominique Strauss-Kahn lassen grüßen.
Der diskrete Charme der Bourgeoisie, deren Übermaß an Reichtum die Gefühle verkümmern lässt, wird in diesem Roman erbarmungslos bloßgestellt - aber nicht moralisch verurteilt.
Das Buch besteht aus drei etwa gleich langen Teilen, in denen nacheinander die 20-jährige Charonne, die 80-jährige Nelly und die 60-jährige Gladys ihre jeweils eigene Sicht auf ihr mehr oder weniger verpfuschtes Dasein schildern.
"Das Leben, nun, ich wüsste jedenfalls nicht, was ich damit anfangen sollte, außer es noch einmal von vorn zu beginnen."
Drei Generationen Frankreich
Für die Mutter ist es das Leben hohl, für die Großmutter sind die schönsten Tage vorbei und sie denkt an Selbstmord. Nur für Charonne - die wegen der ständigen Diskriminierung wegen ihrer Hautfarbe, ihres Leibesumfangs und des ulkigen Namens den stärksten Grund zur Depression hätte - fängt das Leben erst an. Sie gewinnt bei einem Superstar-Wettbewerb im Fernsehen - trotz oder gerade wegen ihrer ungeheuren Fettleibigkeit.
"Ich komme" ist ein psychologisch eindringlich geschriebener, fesselnder Roman. Die mitunter komplizierten, ironisch grundierten Sätze hat Christian Ruzicska treffsicher ins Deutsche übersetzt.
"Ich komme" verknüpft drei Welten: Das großbürgerliche, alte Frankreich, die "Generation Sinnsuche" - und die Gegenwart mit ihren "multikulturellen" Herausforderungen. Das Buch ist auch eine Hymne auf die Andersartigkeit: Schwarz sein, dick sein - die alte Marseiller Villa mit ihren versteinerten Bewohnern und Traditionen ist dem Untergang geweiht. Die Zukunft ist bunt und heißt – Charonne.
Emmanuelle Bayamack-Tam: "Ich komme"
Aus dem Französischen von Christian Ruzicska. Secession-Verlag, Zürich und Berlin 2017. 400 Seiten, 25 Euro.
Aus dem Französischen von Christian Ruzicska. Secession-Verlag, Zürich und Berlin 2017. 400 Seiten, 25 Euro.