Lange waren die Stadien in den letzten Monaten verwaist, es gab vielerorts lediglich "Geisterspiele". Zur Europameisterschaft wurden die Spielstätten wieder voller, manch einem zu voll. Der Schriftsteller Wolfram Eilenberger glaubt, dass sich in den vergangenen Monaten in Bezug auf unsere Wahrnehmung des Fußballspiels vieles verändert habe. Sie sei in gewisser Weise reiner und asketischer geworden, aber auch stark verlangsamt. Das Spiel selbst habe durch die Abwesenheit von Zuschauern an Intensität verloren.
"Ich kann nicht sagen, dass der Schock, den ich mir ausgemalt hatte, aufgrund der Geisterspiele wirklich eingetreten ist, sondern das Spiel hat sich anders und in dem Sinne auch interessanter gezeigt."
Für Eilenberger gibt es verschiedene Arten, ein Fußballspiel wahrzunehmen. Eine dionysische, die sich ganz dem Rausch der Masse und des Ereignisses hingebe, und eine eher analytische und kältere.
Fussball wie Ballett
"Gerade wenn man sich selbst als analytischen Zuschauer sieht und das Spiel von innen heraus verstehen und sehen will, ist das Geisterspiel vielleicht sogar die höhere kulturelle Form. Sie gleicht dann eher der Oper oder dem Ballett. Das heißt, man wird nicht in dieser Weise aufgewühlt und mitgenommen und hat mehr Wahrnehmungsbereitschaft für die Details und die kleinen Finessen."
Auf die Frage, ob sich seine Ungeduld bezüglich des Starts der EM in diesem Sommer in Grenzen hielt, unterscheidet Eilenberger zwischen Ungeduld und Vorfreude. Ungeduld sei mit Angst belegt und habe immer etwas damit zu tun, dass man vielleicht etwas nicht bekomme, was einem versprochen war. Die Vorfreude sei die geläuterte und klare Form, ein Ereignis vor sich zu sehen, das positiv belegt ist. In einem solchen Sinne habe er die EM als eine Zone der Vorfreude erfahren, meint Eilenberger.
Die Fans auf den Rängen haben immer noch eine große Bedeutung für das Spiel, auch wenn man sich einen Fußball der Zukunft vorzustellen könne, so Eilenberger, in dem die Stadien faktisch leer, die Fans simuliert, digitalisiert und eingespielt sind. Für den Fernsehzuschauer mache es fast keinen Unterschied mehr, ob es ein tatsächlich volles Stadion gebe oder ob das simuliert sei. Aber die Resonanz, die sich durch die Anwesenheit von Zuschauern einstellt, sei nicht zu ersetzen:
"Viele Spieler haben das ja auch als eine Art Nahtod-Erfahrung beschrieben. Es ist so, als ob man spricht und sich nicht mehr hört. Und ich glaube, das Spiel in seiner Intensität, in seiner Entwicklung, auch in seiner Offenheit kann die Zuschauer nicht entbehren. Und die Zuschauer sind eben nicht ein Zusatz zu diesem Spiel, sondern ein inhärenter Teil des Geschehens, die durch ihre bloße Anwesenheit auch auf das Platzgeschehen eingreifen und einwirken."
Konsole versus Rasen
Andererseits wird Fußball schon längst auch als digitales Ereignis vermittelt, junge Menschen begeistern sich für den Sport, die vielleicht gar nicht selbst auf dem Rasen spielen, aber dennoch Spielkonsolen zum Fussballspielen benutzen.
"Das heißt, der Fußball wird vermittelt durch ein anderes digitales Medium, das nicht mehr leiblich ist. Die Rezeption, die Erwartungen an den Fußball werden sich ändern und es kann sein, dass die Stadion-Erfahrung für eine gewisse kommende Generation beim Genuss des Fußballs nicht mehr so entscheidend sein wird."
Aber auch eine umgekehrte Entwicklung hält Wolfram Eilenberger für denkbar: Nachdem die Geisterspiele die Bedeutung der Fans für das Spiel gezeigt haben, wurde deutlich, wie wenig dieses Spiel ohne die Präsenz von Fans faktisch wert ist. Dadurch würde die soziale Macht der Fans gestärkt werden.
Was bleibt, ist das Warten aufs nächste Tor. Eigentlich sei, so Eilenberger, Fussball ein relativ ereignisarmes Spiel. Besonders das Torereignis sei selten.