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Emotionsgeschichte schwul-lesbischen Lebens
Schlüsselmoment auf der Bahnhofstoilette

Schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik wird oft als erfolgreiche Emanzipationsgeschichte erzählt. Als geradlinig haben es homosexuelle Menschen allerdings nicht empfunden. In seiner Emotionsgeschichte beschreibt Historiker Benno Gammerl, wie homophile Gefühle Geschichte schrieben.

Benno Gammerl im Gespräch mit Miriam Zeh |
Buchcover: Benno Gammerl: „anders fühlen. Schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik. Eine Emotionsgeschichte“
Emotionen sind von sozialen und kulturellen Kontexten geprägt, in denen sie entstehen. Das zeigt Benno Gammerls Gefühlsgeschichte. (Buchcover: Carl Hanser Verlag, Hintergrund: IMAGO / Westend61)
Unbestreitbar hat sich die Situation gleichgeschlechtlich liebender Menschen in den letzten 70 Jahren fundamental verändert. In der frühen Bundesrepublik stand einvernehmlicher Sex zwischen Männern nach §175 StGB unter Strafe. Allein bei den sogenannten Homosexuellenprozessen in Frankfurt am Main 1950/51 wurden 100 Menschen verhaftet, 75 angeklagt. Sechs von ihnen nahmen sich aus Angst vor der Gefängnisstrafe oder geschaftlicher Ächtung das Leben. Heute feiern in vielen deutschen Städten Christopher Street Days laut und bunt die Akzeptanz sexueller Vielfalt. "Wenn in der RTL-Show 'Bauer sucht Frau' ein schwuler Landwirt seinen zukünftigen Ehemann trifft, dann ist das ein Ausdruck von Normalisierung", schreibt Historiker Benno Gammerl in seiner Emotionsgeschichte "ander fühlen". Der Scham gegenüber Homosexualität ist einem Stolz gewichen, so scheint es.

besonders, homophil oder schlicht: anders

Doch ganz so geradlinig haben männerliebende Männer und frauenliebende Frauen diese Entwicklung nicht empfunden, sagt Gammerl. Der Professor für Gender- und Sexualitätengeschichte am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz sprach für seine Studie mit 32 gleichgeschlechtlich liebenden Menschen aus unterschiedlichen Milieus, Religionen und Generationen. Zwischen 1935 und 1970 sind seine Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner geboren und bezeichnen sich folglich nicht alle offensiv als schwul oder lesbisch.
"Das hat natürlich auch mit der generationellen Erfahrung zu tun", erklärt Gammerl. "Das Wort 'schwul' als positive Selbstbezeichnung ist etwas, das erst in den 1970er Jahren aufkommt. Davor war es eher ein Schimpfwort. Gleichgeschlechtlich liebende oder gleichgeschlechtlich begehrende Männer haben von sich eher als 'besonders' gesprochen oder als 'homophil', um die sexuelle Dimension nicht zu sehr zu betonen." Das Wort 'anders' - bewusst gesetzt als Titel seiner Emotionsgeschichte über schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik - empfindet der Historiker als "angenehm schlicht".

Cruising-Orte und Schwulenbars

Was dieses Anderssein im Einzelnen beudeutet, zeigen Gammerls Interviewpartnerinnen und Interviewpartner, deren Lebensbiografien vom Forscher mit viel Empathie wiedergegeben werden. Zwei Menschen sind dabei - in den berührendsten Stellen dieses erzählenden Sachbuchs - auch immer wieder im O-Ton zu lesen. So berichtet ein Mann, genannt Herr Meyer, wie er Anfang der 60er Jahre als Teenager zufällig eine Bahnhofstoiletten als Schwulentreffpunkt erkennt: "Ich war sprachlos, aber doch bewundernd. Also verrückt, bunt, unerhört, bis hin zu: 'Gott, so was machen die.' Ich dachte, ich mach mal so was alleine nur. Das war ein Schlüsselmoment. Ich wollte das wieder erleben, aber diesmal ohne Koffer und Eile."
Orte wie öffentliche Toiletten, Lesben- oder Schwulenbars nehmen eine zentrale Rolle in vielen Biografien ein. "Es geht immer wieder um die Frage, wo man überhaupt Kontakte finden konnte", erklärt Benno Gammerl. "Zeitliche und räumliche Einschränkung prägte die Art und Weise wie männerliebende Männer und frauenliebende Frauen einander näher kamen. Es gab immer nur diese ganz bestimmten Räume, ganz bestimmte Zeitpunkte - und dann musste es schnell gehen. Das beschreibe ich als Plötzlichkeit der Annäherung." Als in den 1970er Jahren §175 entschäft (allerdings erst 1994 erst ganz abgeschafft) wird, entwickeln sich in feministischen Buchläden, schwul-lesbischen Café oder Beratungszentren auch andere, allmählichere Formen des Kennenlernens.

Politische Gefühle

Eine gefühllose Politik wollten die meisten Schwulen- und Lesbenbewegungen nicht betreiben. Sie setzten sich seit den 1970er Jahren verstärkt für eine prominentere Platzierung ihrer Empfindungen, für eine Emotionalisierung des Politischen ein. Gleichzeitig wurden aber auch einige ihrer Gefühle ein Mittel im Kampf um Emanzipation, so Gammerl: "Ein Beispiel ist die feministische Wut über die Abhängigkeit der Ehefrauen von ihren Ehemännern, die Wut über Abtreibungsverbot, die Wut über Diskriminierung am Arbeitsplatz. Das ist politisch ein unglaublich wichtiges Gefühl und wurde auch für politisierbar gehalten, weil es klar ausgerichtet war und strategisches handeln ermöglichen konnte."
Der Emotionsforscher plädiert für ein Nachdenken über Emotionalisierung des Politischen und Politisierung der Emotionen im Allgemeinen: "Man sollte nicht zu viel Angst haben vor Gefühlen in der Politik. Denn eine rein vernünftige Politik gibt es nicht, wird es auch nie geben. Gefühle waren immer wichtig als Mittel in der Kommunikation, gerade von gesellschaftlich benachteiligten Gruppen im Kampf um Emanzipation. Deswegen geht es darum, Gefühle besser zu verstehen. Damit man nicht so besorgt sein muss, wenn Gefühle plötzlich auftauchen im vermeintlich immer rational-deliberativen Diskurs."
Benno Gammerl: "anders fühlen. Schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik. Eine Emotionsgeschichte"
Carl Hanser Verlag, München, 416 Seiten, 25 Euro