Karin Fischer: Über zwei wollen wir an diesem Tag des Rückblicks intensiver sprechen, über Frank Castorf natürlich, den Intendanten und Regisseur, und seinen Bühnenbildner Bert Neumann, der im August 2015 gestorben ist. Den Dramaturgie-Professor und langjährigen Dramaturgen der Volksbühne, Carl Hegemann, habe ich vor der Sendung gefragt, was das für eine besondere Konstellation war.
Carl Hegemann: Die beiden sind schon zusammen aufgewachsen, in Prenzlauer Berg, in einer ähnlichen Architektur, bei der man auch schon sehen kann, was Bert Neumann geprägt hat mit seinen Bungalows, die er gebaut hat, immer so viereckige Kästen. Sein Vater war Architekt und die beiden haben sich, glaube ich, in ihrer Jugend gar nicht so gut verstanden. 1992 haben sie sich an der Volksbühne kennengelernt, eigentlich schon 1990, und da zusammen "Das trunkene Schiff" gemacht, und diese Arbeitskonstellation war eigentlich das, was die Volksbühne geprägt hat.
"Doppelung von Schauspieler und Figur auf der Bühne"
Fischer: Inwiefern hat die Zusammenarbeit die Volksbühne geprägt?
Hegemann: Hier waren zwei Künstler am Werk, die sich auf ihre Realität eingelassen haben, die Kunst und Nichtkunst auf eine Weise zusammengebracht haben, die – ich glaube, das kann man ruhig sagen – das Theater revolutioniert hat. Es stand eben nicht nur der verkleidete Mensch, der dann einer anderen Figur, die er spielt, seinen Körper gibt, auf der Bühne, sondern es stand immer auch noch der Mensch, der Schauspieler selbst auf der Bühne, und der konnte seine Rolle, die Figur, die er spielte, kommentieren. Diese Doppelung von Schauspieler und Figur auf der Bühne, die zum Blühen zu bringen, das war der Anspruch von beiden. Da hat Bert Neumann mit seinen Bühnenbildern dran gearbeitet und Castorf mit seiner Arbeit.
Fischer: Wie sehen Sie Frank Castorf? Ist er ein Extremist? Ist er ein radikaler Übersetzer? Was für eine Wirklichkeit schafft er da mit seinen fünf- bis sechsstündigen Marathon-Abenden, die zuletzt ja immer sehr eigenständige Adaptionen von klassischen Romanen zum Beispiel von Dostojewski waren und aber immer auch nach schwer zähmbarem Chaos aussahen?
Hegemann: Ja, das Chaos ist kein reines Chaos. Das folgt schon einer Form. Der amerikanische Fotograf aus Kalifornien, Mr. Lumas, hat gesagt, das folgt alles dem Goldenen Schnitt, und das hat Heiner Müller vor 25 Jahren auch schon gesagt. Das Chaos wird schon in eine Form gebracht, aber ich glaube, was ihn eigentlich ausmacht erst mal ist, dass der es sich leistet, der Castorf, seine subjektive Wahrheit zu sagen, ohne sie zurecht zu biegen nach irgendwelchen herrschenden Konventionen. Das kann er im Rahmen und im Bereich der Kunst machen und ich glaube, das macht eine große Freude, wenn man in einem Medium tätig ist – das ist vielleicht ein bisschen anders als bei Ihnen im Rundfunk -, in dem man, ohne taktisch zu sein oder ohne eine Strategie zu verfolgen, erst mal seinen subjektiven Impulsen gegenüber einem Thema, einer Besessenheit, einem Stoff folgen kann.
Fischer: Sie sprechen von subjektiver Wahrheit. Trotzdem ist die Arbeit an der Volksbühne und das Theater an der Volksbühne ja extrem politisch aufgefasst worden und war es ja auch in gewisser Hinsicht. In welcher nämlich?
Hegemann: Es war natürlich hoch politisch, weil es sich mit der sozialen Lebenswelt auseinandersetzt, und zwar auf eine Weise, die nicht einfach nachbetet, was der übliche herrschende gesellschaftliche Konsens ist. Es war von Anfang an, und zwar bei allen Regisseuren, auch bei solchen wie Marthaler oder jetzt Peter Herbert Fritz - war es ein Theater gegen die Tendenz, ein subversives Theater, was sich mit den tiefen Strukturen beschäftigt, die normalerweise verdrängt oder verfemt sind.
"Kein Realismus, sondern Realität"
Fischer: Sie waren ja von Anfang an dabei, 1992, und schon damals war klar, dass die Volksbühne des spektakulärste Theater im wiedervereinigten Berlin sein würde. Was war das damals für ein Ort, was gab es da für eine Stimmung, wie sah die Ästhetik der Anfänge aus?
Hegemann: Seit '92 war ich dabei. Das was ich gerade erzählt habe, das stellte sich damals schon deutlich heraus. Wir sind so weit gegangen, das damals so zu beschreiben – Castorf hat es später auch so gemacht: Es ist kein Realismus, der gezeigt wird an dieser Bühne, sondern Realität. Die Leute, um ein plattes Beispiel zu nehmen, die spielen nicht, dass sie auf Kartoffelsalat ausrutschen, sondern sie rutschen auf der schrägen Bühne wirklich aus. Die Vorgänge werden, wenn sie gespielt sind, sichtbar gespielt, sodass man dabei sagt, ich spiele jetzt nur. Und wenn die Schauspieler aus ihren Rollen spielen, dann gehört das zwar zur Inszenierung, sie haben aber trotzdem jede Freiheit, sich da zu verhalten. Das hat es dann in vielen Vorstellungen beim Publikum selbst auch gegeben. Das wurde provoziert von den Schauspielern.
Im Übrigen ist das Ganze, was dahinter steckt, die Bereitschaft, nicht nur das Publikum zu provozieren, sondern auch sich selbst zu provozieren. Die Volksbühnen-Produktionen, die frühen wie, ich finde, auch die späten, haben den Charakter, dass man sich mit Problemen beschäftigt, für die man selbst keine Lösung hat und mit denen man sich selbst auch aufs Glatteis führt.
Fischer: Es ging los, wenn ich mich richtig erinnere, mit saufenden "Räubern", die allgemein als radikaler Abgesang auf alles Revolutionäre gelesen wurden, aber eben auch, wie Sie gerade geschildert haben, auf jede gewöhnliche Theatertradition.
Hegemann: Die "Räuber" waren ja noch vor dem offiziellen Beginn der Volksbühne. Da war die Prämiere, glaube ich, 1990. Das war auch eine ganz freche Auseinandersetzung mit den DDR-Bürgern, die dachten, es würde jetzt in der Bundesrepublik mit dem Schlendrian weitergehen, sie würden nur mehr D-Mark haben zum Konsumieren. Auf diesen Widerspruch oder auf diese trügerische Hoffnung nach der Wende, die Bundesrepublik würde sie jetzt an die Mutterbrust nehmen oder so, da hat sich Castorf stark von abgesetzt, und Henry Hübchen hat das aus persönlichem Interesse, glaube ich, gemacht - deshalb war das auch so eindrucksvoll -, dass er seinen ehemaligen DDR-Mitbürgern kräftig und natürlich auch extrem lustig die Leviten gelesen hat.
"Es lebt von der Selbstprovokation und von der Selbstironie"
Fischer: Schlingensief, Marthaler, Pollesch, Fritsch, die Namen sind in der letzten Zeit sehr häufig gefallen, alles eigenwillige Künstler und Handschriften, trotzdem hat die Volksbühnen-Ästhetik auch Eingang gefunden ins normale Stadttheater, und eines ihrer maßgeblichen Kennzeichen in meinen Augen ist das der Ironie, das nicht ganz Ernstnehmen auch der eigenen Mission. Womit natürlich das, was Sie beschrieben haben, diese gewollte Dekonstruktion von Texten und Figuren einhergeht.
Hegemann: Es lebt von der Selbstprovokation und von der Selbstironie. Das ist ganz klar. Man stellt sich immer selbst mit infrage. Der Ausdruck, wir sind die Guten, kann an der Volksbühne nur ironisch verstanden werden. Und Leute, die von sich selbst behaupten, sie sind die Guten, sind uns hier sehr suspekt. Der Künstler ist kein besserer Mensch, und das führt dazu, dass er die ganzen Probleme, mit denen er sich konfrontiert, nicht von sich selbst abziehen kann. Es lohnt sich überhaupt nur mit existenziellen Problemen zu dealen, die man auch selber hat. Sonst ist es äußerlich und von oben herab. Das ist kein purer Narzissmus; das ist einfach die Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzung. Deshalb haben wir ja auch schon im allerersten Programm, um da noch mal drauf zu kommen, also 1992 - das hatten wir ja selbst totalitäre Strategien genannt -, da haben wir den Totalitarismus in uns selber untersucht, nicht wie die Antifa bei den anderen, von denen wir uns absetzen, und das ist immer die Arbeitsweise gewesen, dass man das Grauen auch in sich selber sucht.
Fischer: Das war Carl Hegemann, langjähriger Dramaturg und Chefkokmmunikator der Berliner Volksbühne, zum Ende einer Ära.
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