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Ende der Mission "Sophia"
Sea-Watch: "EU sollte Migration als Fakt begreifen"

Wenn die EU künftig keine Schiffe mehr im Rahmen der Mission "Sophia" aufs Mittelmeer schicke, dann führe das nur zu einer Verlagerung der Fluchtrouten, sagte Ruben Neugebauer von Sea-Watch im Dlf. Angesichts der Lage in Libyen hätte die Menschen keine andere Möglichkeit, als "auf diese Boote zu gehen".

Ruben Neugebauer im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker |
Migranten verlassen die "Sea Watch 3" im Hafen von Catania
Migranten verlassen die "Sea Watch 3" im Hafen von Catania (ANSA via dpa/Orietta Scardino)
Ann-Kathrin Büüsker: Das Ziel war und ist, Schleusern das Handwerk zu legen. Seit 2015 waren im Rahmen der "Mission Sophia" Schiffe der Europäischen Union auf dem Mittelmeer unterwegs, um Schlepperboote abzufangen und damit das Schleppertum zu unterbinden, und natürlich auch, um dabei Menschen zu retten. Die "Mission Sophia" wurde jetzt zwar verlängert, aber in Zukunft wird die EU keine Schiffe mehr schicken, weil diese keine Häfen mehr zum Anlaufen hatten. Italien weigert sich weiterhin, die Flüchtlinge anzunehmen, weil die Verteilung nicht geklärt ist. Mit Malta ist es ebenso. Die Folge dieser Entscheidung fasst die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europaparlament, Ska Keller, so zusammen:
O-Ton Ska Keller (Grüne): "Das Ende der 'Sophia-Mission' erinnert uns daran, dass keine Seenotrettung de facto mehr stattfindet im Mittelmeer. Denn die Menschen, die gerne Menschen aus Seenot retten würden, die dürfen es nicht mehr. Die NGO-Boote dürfen nicht auslaufen. Und von offizieller staatlicher Seite, diejenigen, die eigentlich Seenotrettung betreiben müssten, da passiert nichts mehr."
Büüsker: Das Ende der "Mission Sophia", dazu die Regierung in Rom, die den privaten Hilfsorganisationen die Einfahrt in die Häfen verweigert. Was heißt das jetzt für die Situation im Mittelmeer? – Darüber möchte ich mit Ruben Neugebauer sprechen, einer der Mitgründer der Organisation Seawatch, einem Verein, der in den letzten Jahren mit mehreren Schiffen auf dem Mittelmeer im Einsatz war – privat organisierte Flüchtlingsretter. Schönen guten Morgen! Herr Neugebauer, wenn keine Schiffe mehr auf dem Mittelmeer unterwegs sind, um Menschen zu retten, wird das auch bedeuten, dass sich weniger Flüchtlinge auf den Weg machen, also auch weniger Menschen sterben?
"Eine halbe Million Menschen sitzen in Libyen fest"
Ruben Neugebauer: Nein, das wird es nicht bedeuten. Es ist lediglich so, dass sich die Routen verlagern. Wir sehen das jetzt schon. Während die letzten Jahre die Hauptroute über das Mittelmeer über Libyen ging, weil da aufgrund der Abwesenheit staatlicher Strukturen es für Schlepperbanden relativ leicht war, dort Boote loszuschicken, sehen wir jetzt schon eine Verlagerung in Richtung zum Beispiel Marokko-Spanien. Es ist natürlich so: Wenn man aus Ländern wie zum Beispiel Nigeria flieht, dann überlegt man sich das zweimal, welche Route man nimmt. Man hat zwar auch Fluchtgründe im Heimatland; gleichzeitig ist es aber so, dass ja bekannt ist, was in Libyen passiert mit den Leuten. Dennoch ist es so, dass nach wie vor über eine halbe Million Menschen in Libyen festsitzen, und die Bedingungen sind ja bekannt. Es war ja der deutsche Auswärtige Dienst, der diese Lager mit KZs verglichen hat. Das waren jetzt nicht wir.
Es ist völlig bekannt, was dort passiert. Es kam gerade wieder eine Studie raus, wo eben von ganz systematischer Folter und Misshandlung gesprochen wird. Das heißt, es ist ganz klar: Diese Leute werden sich auf den Weg machen, ganz egal ob da Rettungsschiffe unterwegs sind oder nicht. Wir haben das gesehen, gerade letzte Woche. Da gab es eine ganz interessante Situation. Es war vor Norwegen ein Kreuzfahrtschiff in Seenot geraten. Natürlich ist sofort die Rettungskette losgegangen. Das ist auch richtig so. Da wurde mit Hubschraubern, mit Schiffen, mit allem, was man hat, reagiert, um diese Menschen, so wie es das Seerecht vorsieht und so wie es ja auch moralisch nur richtig ist, von Bord, von diesem in Seenot geratenen Kreuzfahrtschiff zu bringen. Gleichzeitig war es aber so, dass auf dem zentralen Mittelmeer ein Schlauchboot mit über 40 Menschen in Seenot geraten war, und da war es so, dass über einen Tag lang, länger als 24 Stunden, sich überhaupt niemand auf den Weg gemacht hat. Da war die Position von diesem Schlauchboot bekannt. Natürlich fahren diese Menschen nach wie vor los, um den schrecklichen Bedingungen in Libyen zu entkommen. Gleichzeitig war es dann aber so, dass niemand losgefahren ist, um die dann zu retten.
Büüsker: Wenn wir aber mal auf die Zahlen schauen, die der UNHCR, das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen herausgibt. Die sagen schon, dass die Zahl der Flüchtlinge, die über das Mittelmeer kommen, deutlich zurückgegangen ist. 2018 nur noch 117.000. Und es sind auch "nur" noch, auch wenn es nach wie vor eine schlimme Zahl ist, 2300 Menschen ertrunken im Mittelmeer 2018 – im Vergleich zu 2017, wo es 3100 waren. Man könnte auf dieser Zahlenbasis schon argumentieren, dass, wenn weniger Schiffe unterwegs sind, auch weniger Flüchtlinge kommen.
"Es gibt noch ein zweites großes Massengrab, die Sahara"
Neugebauer: Zunächst mal ist es so, dass man auch überlegen muss, wo kommen diese Zahlen eigentlich her. Wir sind jetzt wieder auf einem Niveau, das ungefähr dem Niveau vor 2014 entspricht. Wir haben ja Migration übers Mittelmeer immer gehabt. Das hat es die letzten Jahre eigentlich immer gegeben. Natürlich gab es mit der Eskalation des libyschen Bürgerkrieges in den letzten Jahren da einen Peak, was die Zahlen angeht. Auch 2015 war es so, dass zum Beispiel über die Ägäis sehr viel mehr Menschen gekommen sind, als das jetzt der Fall ist. Gleichzeitig ist es aber so – und das sagt auch die Internationale Organisation für Migration -, dass die Push-Faktoren und eben nicht die Pull-Faktoren bestimmend sind.
Das ist das eine und das andere ist ganz einfach eine moralische Frage. Wenn man jetzt sagt, man muss die Schiffe da wegnehmen, weil sich dann irgendwie weniger Leute auf den Weg machen, mit derselben Argumentation könnte man zum Beispiel auch die Bergwacht abschaffen, weil die rettet letztendlich auch überwiegend Menschen, die sich selber und freiwillig in Gefahr gebracht haben, mit der Hoffnung, dass es eine Bergwacht gibt, die sie dann gegebenenfalls rettet. Genauso falsch wie die Argumentation da ist, ist die Argumentation falsch zu sagen, na ja, dann soll man die Menschen auf dem Mittelmeer einfach ertrinken lassen.
Wenn man das wirklich beenden will – und wir wissen jetzt noch gar nicht, wie sich die Situation dort entwickelt, mit dem Klimawandel und so weiter. Die Europäische Union würde gut daran tun, Migration einfach mal als Fakt zu begreifen und die zu gestalten, und nicht immer nur eindämmen zu wollen. Was man nämlich auch nicht sieht ist, dass es noch ein zweites großes Massengrab gibt. Das ist die Sahara, wo noch sehr viel mehr Menschen sterben als auf dem Mittelmeer sehr wahrscheinlich. Und was auch jetzt eine Entwicklung ist – da hat es gerade eine neue Studie dazu gegeben -, dass es so ist, dass die Misshandlungen in Libyen ganz massiv zugenommen haben von den Menschen, die dort festsitzen, und das wird auch damit zusammengebracht, …
Büüsker: Auf Libyen können wir gleich noch mal gemeinsam schauen. Ich würde jetzt gerne noch mal kurz beim Mittelmeer und auch bei Europa bleiben. Sie haben die Frage der Moral angesprochen und auch die europäische Flüchtlingspolitik. Da landen wir ganz schnell bei Verteilungsfragen. Italien beispielsweise argumentiert ja, dass das Land ganz lange alleine gelassen wurde, weil die europäische Flüchtlingspolitik gescheitert ist und die Verteilung nicht geklärt wurde. Die ganzen Flüchtlinge, die im Mittelmeer aufgegriffen wurden, gerettet wurden, sind in Italien gelandet. Da hat die Regierung in Rom durchaus einen Punkt, oder?
"Europa hat Italien jahrelang im Stich gelassen"
Neugebauer: Es ist tatsächlich so, dass, glaube ich, die Regierung Salvini letztendlich eine Folge auch des Dublin-Abkommens ist, für das die Bundesregierung auch ganz maßgeblich mitverantwortlich ist. Deswegen ist es jetzt natürlich ein Stück weit wohlfeil, sich da über Italien zu beschweren. Es ist natürlich völlig inakzeptabel, was der Innenminister in Italien macht. Die Staatsanwaltschaft in Rom ermittelt jetzt zurecht gegen Salvini wegen Freiheitsberaubung, weil er unser Schiff mit Geretteten an Bord nicht hat anlegen lassen. Da muss man ganz klar sagen, da hat er geltendes Recht gebrochen.
Gleichzeitig ist es so, dass man Italien natürlich schon ein Stück weit verstehen kann. Europa hat Italien jahrelang im Stich gelassen, und ich glaube, dass der Rechtspopulismus in der Stärke, wie wir den jetzt in Italien haben, sicherlich eine Folge davon ist.
Büüsker: Im Stich gelassen fühlen sich jetzt auch die Reeder, die auf dem Mittelmeer unterwegs sind, weil die befürchten, dass sie letztlich die einzigen sein werden, die noch Flüchtlinge retten aus Seenot. Wir haben das erst gestern gesehen: Da haben Flüchtlinge ein Schiff, ich sage mal, gekapert, das sie aufgenommen hatte, um das nach Malta umzulenken, um nicht wieder zurück nach Libyen zu müssen. Halten Sie das für realistisch, dass es jetzt die Reeder sind, die die einzigen sind, die noch Menschen im Mittelmeer retten?
"Rückführungen nach Libyen sind völkerrechtswidrig"
Neugebauer: Das ist absolut anzunehmen. Das ist ja auch die Situation, die wir vorher hatten, weil es nicht richtig ist, dass niemand mehr losfährt, wenn man da nun die Rettungsschiffe rausnimmt. Was da gestern passiert ist vonseiten der Flüchtlinge, ist letztendlich auch nichts anderes als Notwehr. Wir wissen, was in Libyen passiert. Wir wissen, dass dadurch, dass die Leute nicht mehr aus Libyen rauskommen, die jetzt vor Ort im Land ausgepresst werden von diesen kriminellen Banden und das dort die Misshandlungen ganz massiv zugenommen haben. Natürlich wollen die Leute von dort weg und natürlich wollen die zurecht nicht mehr dorthin zurück. Rückführungen nach Libyen sind auch völkerrechtswidrig, und das ist auch, wenn man sich jetzt die Mission Sophia anschaut. Die hat ja letztendlich nicht jetzt die Schiffe abgezogen; das hat sie schon vor einem halben Jahr gemacht. Sie hat jetzt nur das Mandat der völkerrechtswidrigen Praxis angepasst, die sie seit über einem halben Jahr verfolgt, nämlich dass man mit Flugzeugen diese Boote nur noch aufspürt und dann entweder die sogenannte libysche Küstenwache dafür einsetzt, oder Handelsschiffe, zu versuchen, diese Leute völkerrechtswidriger Weise nach Libyen zurückzubringen. Gestern war es jetzt so, dass Flüchtende auf dem Schiff protestiert haben und sich die Crew dann entschieden hat, nicht nach Tripolis, sondern nach Malta zu fahren. Das ist genau die richtige Entscheidung gewesen von der Crew. Hut ab vor der Crew dieses Handelsschiffs, die als einzige seit Monaten endlich mal wieder sich ans Völkerrecht gehalten hat, Leute aus Seenot gerettet hat, wie es ihre Pflicht ist, und sie dann auch, so wie es das Seerecht vorsieht, an einen sicheren Ort gebracht hat. Libyen ist kein sicherer Ort. Die Crew da hat also genau richtig gehandelt.
Büüsker: Die Menschen, die im Mittelmeer in Seenot geraten, haben ein Recht darauf, gerettet zu werden. Sie haben jetzt argumentiert, dass wir in Europa alle wissen, wie die Situation in Libyen ist. Aber wissen das nicht letztlich auch die Flüchtlinge, die sich auf den Weg machen und in Libyen mehr oder weniger freiwillig dann landen?
"Man kann aus Libyen nicht einfach wieder zurück"
Neugebauer: Na ja. Genau diese Annahme ist sicherlich richtig. Die Frage ist allerdings, wie freiwillig das ist, wenn man aus anderen Gründen dazu gezwungen ist zu fliehen. Es ist ja so eine Mär, dass man glaubt, dass diese Leute irgendwie freiwillig kommen. Ich habe mit sehr vielen Menschen gesprochen und ich habe nicht eine Person getroffen bei uns auf den Schiffen, die keinen legitimen Grund gehabt hätte, diese Flucht anzutreten. Ob der dann hier formell anerkannt wird, ist dann noch mal eine ganz andere Frage. Was aber vor allem wichtig ist, aus egal welchem Grund die losgegangen sind: Wenn die erst mal in Libyen sitzen, dann gibt es keinen Weg zurück. Das ist auch etwas, was viele hier nicht wissen. Man kann aus Libyen nicht einfach wieder zurück. Wir haben zum Beispiel zahlreiche Menschen – das ist ganz witzig, das wissen viele nicht -, die kommen dann aus Bangladesch und sitzen dann plötzlich auf den Booten. Dann fragen wir die, wollt ihr eigentlich nach Europa, und dann sagen die, nee, wir wollen eigentlich nur zurück nach Bangladesch, aber wir kommen aus Libyen nicht anders raus als mit diesen Booten. Das ist auch etwas, was da reinspielt. Die Menschen, die schon in Libyen sind – und da ist davon auszugehen, dass das weit über eine halbe Million ist -, die haben quasi gar keine andere Möglichkeit, als auf diese Boote zu gehen, und die sind in Libyen diesen schrecklichen Bedingungen ausgesetzt. Das ist absolut inakzeptabel und deswegen ist es dringend nötig, dass diese Leute die Möglichkeit bekommen, von dort auf sicherem Weg nach Europa zu kommen. Wir haben jetzt ein paar Schiffe frei, die jetzt nicht mehr für die Mission Sophia eingesetzt sind. Die könnte zum Beispiel die Bundesregierung auch einfach nutzen, um die Leute von dort zu evakuieren, dass sie gar nicht erst auf diese Boote müssen.
Büüsker: … sagt Ruben Neugebauer, der Mitgründer der Organisation Seawatch – private Seenotretter im Mittelmeer. Vielen Dank für das Gespräch heute Morgen hier im Deutschlandfunk.
Neugebauer: Sehr gerne.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.