Die westrumänische Metropole Temeswar am 17. Dezember 1989. Vor dem Gebäude des Kreisrates haben sich Tausende Menschen versammelt und rufen: "Freiheit! Freiheit!" Am Tag zuvor, am 16. Dezember, hat in Temeswar der Aufstand gegen das Regime des national-kommunistischen Diktators Nicolae Ceaușescu begonnen. Er ist der letzte Diktator, der sich im Ostblock an der Macht hält – noch. Und das, obwohl sein Regime das brutalste von allen ist. Die allmächtige Securitate terrorisiert die Menschen, Lebensmittel, Strom und Heizwärme sind streng rationiert. Derweil bejubelt das Staatsfernsehen den Diktator und seine Ehefrau täglich und feiert die angeblich "goldene Epoche" der rumänischen Geschichte.
Doch die Menschen im Land finden die Zustände immer unerträglicher. Es bedarf nur noch eines Fanals, damit der Aufstand gegen Ceaușescu in Gang kommt. Dieses Fanal setzt ein 37-jähriger Mann, der zur ungarischen Minderheit Rumäniens gehört: László Tőkés. In Temeswar ist er Pfarrer der ungarisch-reformierten Kirche. Die Securitate will ihn aus der Stadt abtransportieren, weil er in seinen Gottesdiensten gegen die Diktatur predigt. Doch Tőkés weigert sich, seine Gemeinde freiwillig zu verlassen. Er wird damit den Aufstand gegen den Tyrannen auslösen.
"Am Abend des 16. Dezember, es war ein Samstag, kamen die Ordnungskräfte mit Wasserwerfern zu unserem Haus. Da hatte sich auf der Hauptstraße schon eine große Menge versammelt. Die Leute hielten den Straßenbahnverkehr an und marschierten zum Parteihaus. Da ging es schon nicht mehr um mich, sondern die Leute skandierten Losungen gegen Ceaușescu und sangen die verbotene Hymne "Erwache Rumäne!". Innerhalb von Stunden verwandelte sich das Ganze in eine Demonstration gegen das System. Wir waren auf das Schlimmste vorbereitet. Überall wurden Ordnungskräfte eingesetzt, man hörte Schüsse in der Stadt. Diejenigen, die noch zu uns durchkamen, sagten, überall auf den Straßen herrsche vollkommenes Chaos. Aber wir konnten nicht glauben, dass das Ceaușescu-Regime stürzen würde."
Rückblick: Bukarest am 23. August 1989, der Nationalfeiertag der Sozialistischen Republik Rumänien. Kinder rufen die Losung: "Die Partei, Ceaușescu, Rumänien!" Für den Diktator und seine Frau Elena wird einer jener monströsen Aufmärsche inszeniert, die die beiden so lieben – Tausende von Kindern und Erwachsenen bieten choreografierte Propagandaauftritte dar, sie formen dabei das Staatswappen oder Worte wie "Goldene Epoche".
Securite sorgt für Klima des Schreckens
Die Realität ist nicht golden: Rumänien ist verarmt, sozial auf dem Niveau eines Drittwelt-Landes und, zusammen mit Nordkorea und Albanien, eine der düstersten Diktaturen der Welt. Ceaușescu hat sich in den Kopf gesetzt, auf Gedeih und Verderb sämtliche Auslandsschulden zurückzuzahlen – ein ökonomischer Irrsinn. Frauen stehen unter Gebärzwang, weil der Diktator ein Dreißig-, nicht ein Zwanzig-Millionen-Volk will. Zugleich steckt er Milliarden in gigantomanische Projekte. Er hat einen Großteil der Bukarester Innenstadt abreißen lassen, um Platz zu schaffen für einen riesigen Palast namens "Haus des Volkes" und einen fünf Kilometer langen Defilierboulevard. Unterdessen frieren die Menschen im Land, stehen tagtäglich Schlange nach den wenigen rationierten Lebensmitteln, haben zuhause nur stundenweise Wasser und Strom und kaum Heizwärme.
Doch eine organisierte Opposition gegen den Diktator gibt es nicht. Die Securitate sorgt für ein Klima des Schreckens. Die einzigen beiden Revolten unter seiner Herrschaft, einen Bergarbeiterstreik 1977 und Arbeiterunruhen im siebenbürgischen Kronstadt im November 1987, hat Ceaușescu mit großer Brutalität niederschlagen lassen. Nur noch vereinzelt erheben Menschen ihre Stimme gegen den Tyrannen.
Einer der Furchtlosen ist der reformierte-ungarische Pfarrer László Tőkés. In einem aufsehenerregenden Interview für das ungarische Fernsehen prangert er im Juli 1989 die sogenannte Dorfsystematisierung an – Ceaușescu will 7.000 Dörfer niederwalzen und an ihrer Stelle 500 sogenannte agro-industrielle Zentren errichten lassen. Schon oft hat Tőkés seine Stimme gegen die Diktatur erhoben. Doch dass er den Sturz Ceaușescus auslösen wird, ahnt er nicht:
"Ganz ehrlich, ich wollte keine Revolution machen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass diese Diktatur bald endet oder dass wir mit unserer Gemeinde das Ende der Diktatur herbeiführen könnten. Was ich tat, barg wirklich ein großes Risiko. Hätte ich gewusst, dass die Diktatur bald endet, hätte ich mich anders verhalten. So handelte ich einfach aus religiösen und moralischen Gründen heraus. Die Situation war unerträglich. Die rumänische Gesellschaft war in den 1980er-Jahren in einer Lage, in der es einfach nicht mehr ging, nichts zu sagen. Ein Pfarrer hätte sich selbst bespucken müssen, wenn er einerseits über das Opfer Christi plapperte und anderseits nicht seinen Mund aufgemacht hätte. Was für Christen wären wir gewesen, wenn wir nur gesprochen und nichts getan hätten?!"
Düsteres Reich des "Karpatengenies" soll sich nicht ändern
László Tőkés, geboren 1952, stammt aus einer Theologenfamilie und ist schon als Student offen antikommunistisch eingestellt. Als junger Pfarrer gerät er mit seinem Bischof László Papp aneinander, der ein Erfüllungsgehilfe und Spitzel der Securitate ist. Tőkés schreibt Anfang der 1980er-Jahre für die rumänisch-ungarische Untergrundzeitschrift "Ellenpontok" Artikel. 1988 beginnt er, von der Kanzel herab gegen die geplante Dorfzerstörung zu predigen. Daraufhin wird er von der Securitate immer wieder drangsaliert. Sein Bischof will ihn Anfang 1989 zwangsweise in ein entlegenes Dorf in Nordsiebenbürgen versetzen. Tőkés widersetzt sich, verbarrikadiert sich im Pfarrhaus in Temeswar.
"Metaphorisch gesprochen, saßen wir seit April 1989 in einem Loch, in einer Falle. Draußen auf der Straße war ständig ein Auto der Securitate. Ich hatte mich in eine freiwillige Verbannung begeben und verließ das Haus nicht mehr, weil ich dachte, man würde mich verschleppen, wenn ich heraus ginge. Es war ein Belagerungszustand im wahrsten Sinne des Wortes. Es ging wirklich darum, wie lange wir durchhalten. Sogar unsere Lebensmittel gingen uns manchmal aus. Eine Zeit lang hatten die Glöcknerin oder der Buchhalter für uns eingekauft, aber dann wurden sie nicht mehr zu uns gelassen. Ab September 1989 ließen sie auch Gläubige nicht mehr in das Gemeindebüro. So waren meine Frau, unser kleiner Sohn und ich völlig isoliert. Doch dann brachten die Gläubigen Essen und Feuerholz in die Kirche, oft mehr, als wir benötigten. Diese Gesten waren berührend, sie zeugten von einer Solidarität und Brüderlichkeit, wie sie nur in einer Kirchengemeinde vorstellbar sind."
Bukarest, 20. November 1989, der 14. Parteitag der KP Rumäniens. Ceaușescu spricht sechs Stunden lang, immer wieder wird er von Ovationen unterbrochen. Der Jubel summiert sich während der Rede des Diktators auf sage und schreibe 100 Minuten. Die Botschaft des kafkaesken Theaters ist klar: Im düsteren Reich des "Karpatengenies", wie sich Ceaușescu nennen lässt, wird sich nichts ändern.
Dreieinhalb Wochen später, am 15. Dezember 1989, läuft in Temeswar die Frist für László Tőkés ab – er soll das Pfarrhaus und die Stadt verlassen. Da er sich weigert, rückt die Securitate an, um ihn gewaltsam wegzubringen. Doch die Geheimdienstleute haben nicht mit der Solidarität vieler Menschen gerechnet. Tőkés ist in der Stadt und längst auch über ihre Grenzen hinaus bekannt, sein Beispiel ermutigt viele. An diesem 15. Dezember kommen Hunderte Menschen zum Pfarrhaus und protestieren solange, bis die Securitate-Mitarbeiter verunsichert abziehen. Viele Demonstranten bleiben über Nacht und auch bis zum nächsten Abend, als Ordnungskräfte mit Wasserwerfern auffahren.
"Zwei Tage lang dauerten die Demonstrationen vor unserem Haus. Vom Fenster aus sprach ich halbstündig zu den Leuten. Ich sagte, sie sollten nach Hause gehen und nicht ihr Leben riskieren. Ich wollte ja kein Abenteurer sein, der seine Gläubigen in ein Unglück stürzt, bei dem sie nur den Kürzeren ziehen können. Aber die Menge war schon nicht mehr beherrschbar. Ich dachte selbst in diesen beiden Tagen nicht an das Ende des Regimes, ich glaubte, Ceaușescu würde alles in Blut ertränken."
Schießbefehl - und die Armee schießt tatsächlich
Temeswar am 16. Dezember 1989. Der Diktator hat den Schießbefehl erteilt. Und – die Armee schießt tatsächlich. Bald liegen Dutzende Tote auf den Straßen Temeswars. Am 17. Dezember, einem Sonntag, werden László Tőkés und seine Frau Edit aus der Kirche heraus verhaftet und in das entlegene nordsiebenbürgische Dorf Mineu gebracht, wo sie unter Hausarrest stehen. Doch in Temeswar lässt sich die Revolte gegen den Tyrannen nicht mehr aufhalten. Am 20. Dezember verlieren Armee und Ordnungskräfte die Kontrolle – und Aufständische erklären Temeswar zur ersten befreiten Stadt Rumäniens.
Der Aufstand lässt sich nun nicht mehr verbergen. Am Abend des 20. Dezember hält der Diktator eine Fernsehansprache. Er sagt, in Temeswar finde eine "faschistische Provokation" statt, die von ausländischen Geheimdiensten und insbesondere aus Ungarn gesteuert sei. Ohne auf die Ermordeten einzugehen, rechtfertigt Ceaușescu auch den Schießbefehl gegen die Aufständischen. Nun weiß es das ganze Land offiziell – es gibt Unruhen und der Diktator lässt auf das Volk schießen. Am nächsten Tag beruft Ceaușescu in Bukarest noch einmal eine riesige Jubelversammlung von Werktätigen ein. Sie wird vom Fernsehen live übertragen – doch während seiner Rede wird der Tyrann plötzlich von der Menge ausgepfiffen. Das ganze Land sieht und hört die Szene.
Das ist das Signal – nun beginnt auch in Bukarest und in anderen Orten der Aufstand. Der Diktator und seine Frau bleiben noch ganze 24 Stunden an der Macht. Am Mittag des 22. Dezember fliehen sie im Hubschrauber aus Bukarest und werden einige Stunden später gefangen genommen. Am 25.Dezember werden Ceaușescu und seine Frau Elena von einem eilig zusammengestellten Militärgericht zum Tode verurteilt und erschossen.
László Tőkés wird im In- und Ausland zum Helden und zum Symbol der rumänischen Revolution. Der Interims-Staatschef Ion Iliescu beruft ihn in den provisorischen Führungsrat Rumäniens. Doch schon bald bricht der Pfarrer mit den Machthabern. Sie sind in der Mehrheit ehemalige Funktionäre der Diktatur, allen voran Iliescu – er war einst ein Zögling von Ceaușescu gewesen, dann in Ungnade gefallen, hatte jedoch nie offen mit dem System gebrochen. Was für Tőkés noch schwerer wiegt: Ceaușescus rumänozentristische Ideologen aus Partei und Geheimdienst haben sich regruppiert und führen extrem schmutzige nationalistische Kampagnen. Im März 1990 gelingt es ihnen, in Siebenbürgen Teile der rumänischen Bevölkerung gegen die dortige ungarische Minderheit aufzuhetzen. In der Stadt Neumarkt kommt es zu blutigen Zusammenstößen zwischen Rumänen und Ungarn, die fast in einen Bürgerkrieg münden. Als Tőkés seine Stimme gegen den Nationalismus und für mehr Minderheitenrechte erhebt, wird er, das Symbol der Revolution, von den Machthabern um Iliescu öffentlich zu einem Feind Rumäniens und zu einem Separatisten erklärt.
Schmutzige Gerüchte über Tőkés
"Es hieß, die Ungarn würden ins Land kommen und ich sei ungarischer Agent. Später war ich dann amerikanischer Agent, KGB-Agent, sogar Agent der Securitate. Ich war schon der Agent von allen, je nachdem, welche Spekulationen man damit untermauern wollte. Also, es hieß, ich sei ein bezahlter Agent, der den Auftrag hatte, Ceaușescus Sturz herbeizuführen. Es ist jedoch so, dass die Ereignisse von Temeswar unerwartet kamen. Diese Spekulation, dass alles vorher geplant war, stimmt nicht. Ich habe das Ganze von innen miterlebt, und ich weiß, dass Temeswar sich von selbst entwickelte. Die Ereignisse hatten einen neunmonatigen Vorlauf, und die Dezember-Tage waren ihr End- und Höhepunkt."
"Hier hat Tőkés gewohnt, hier ist auch die Kirche. Das Gebäude hat siebzehn Wohnungen und einen einzigen Eingang. Tőkés hatte keinen Hausarrest, ich habe damals lediglich jemanden dort postiert, der kontrollierte, wer ins Haus ging, denn es kamen viele Provokateure aus dem In- und Ausland. Wir wollten unerwünschte Konflikte vermeiden. Jeder durfte zu ihm. Die Leute kamen bloß einfach nicht mehr, weil sie Angst vor dem Polizisten hatten, der vor dem Haus stand. Auch Tőkés konnte gehen, wohin er wollte, niemand hat ihn jemals aufgehalten."
Autofahrt durch Temeswar mit Radu Tinu. Er war 1989 der stellvertretende Chef der Securitate im Kreis Temeswar und verantwortlich für die Überwachung von László Tőkés. Heute genießt Tinu als wohlhabender Geschäftsmann die Annehmlichkeiten des Kapitalismus – er ist Direktor eines Versicherungsunternehmens. Nach 1990 war er einer der ersten, die schmutzige Gerüchte über Tőkés in Umlauf brachten. An den Behauptungen hält er bis heute fest:
"Wir haben Tőkés beschattet. Er war und ist ein erbitterter Chauvinist und er wurde von den ungarischen Geheimdiensten rekrutiert. Er hat den Zwiespalt zwischen Ungarn und Rumänen propagiert und das macht er auch heute noch. Er ist niemals verhaftet oder geschlagen worden. Wir haben einfach Informationen über ihn gesammelt und sie weitergeleitet. Geheimdienste sind die besten Meinungsforschungsinstitute. Der Securitate ging es um Informationen, selbst im Dezember 1989, am 16., am 17. Alle Informationen über die Ereignisse in Temeswar kamen zu mir ins Büro. Das waren Informationen über Leute, die weder verfolgt noch geschlagen oder erschossen wurden, nichts von alledem."
1.100 Menschen starben beim Aufstand gegen Ceaușescu
Vom 16. bis zum 20. Dezember 1989 wurden in Temeswar 73 Menschen ermordet und 253 verletzt. Schon Tage später kamen die ersten mutmaßlichen Verantwortlichen in Haft, darunter auch Radu Tinu. Er saß zwei Jahre in Untersuchungshaft, dann wurde er freigelassen, weil man ihm keine direkte oder indirekte Beteiligung an der Umsetzung des Schießbefehls nachweisen konnte. Erst Jahre später wurden zwei Generäle zu Gefängnisstrafen verurteilt, weil sie die Unterdrückung des Aufstandes von Temeswar koordiniert hatten. Doch die meisten Verantwortlichen für die Toten von Temeswar sind nach wie vor unbekannt oder wurden nicht verurteilt. Dasselbe gilt auch für ganz Rumänien: Insgesamt starben mehr als 1100 Menschen beim Aufstand gegen Ceaușescu – die Mörder der allermeisten sind bis heute unbekannt oder wurden nie verurteilt.
László Tőkés ist bis heute in den Augen der meisten rumänischen Politiker und auch eines großen Teils der rumänischen Gesellschaft ein Feind des Landes. Tatsächlich fordert er oft in polarisierender Weise mehr Rechte für die Minderheiten in Rumänien ein, vor allem für die 1,3 Millionen Ungarn im Land. Nicht immer zu Recht. So etwa haben die Ungarn in Rumänien ein muttersprachliches Bildungswesen vom Kindergarten bis zur Universität, von dem Minderheiten in den meisten anderen Ländern der EU, auch in Deutschland, nur träumen können. Anderseits sind in Rumänien rationale Diskussionen über Regionalisierung oder über eine Autonomie für Minderheiten, wie sie Tőkés gerne führen würde, unmöglich – sie werden als Separatismus abgestempelt. Auch nationalistische Kampagnen gegen die ungarische Minderheit finden nach wie vor statt. Dennoch hat bei den diesjährigen Präsidentschaftswahlen eine Mehrheit der Rumänen einen Kandidaten gewählt, der selbst nicht Rumäne, sondern ein Siebenbürger Sachse ist – ein wahrhaft historisches Ereignis in der rumänischen Geschichte. Auch László Tőkés hat Klaus Iohannis im Präsidentschaftswahlkampf unterstützt. Er ist allerdings skeptisch, ob Rumäniens neuer Präsident das Land wirklich von Grund auf ändern kann:
"Es gibt keine Partei in Rumänien, die den Systemwechsel wirklich weiterführen würde. Alle postkommunistischen Parteien sind mehr oder weniger Satelliten der ehemaligen Kommunistischen Partei. Der Wandel in Rumänien ist nie wirklich vollzogen worden. Oder, wie der rumänische Volksmund sagt: Die Revolution wurde gestohlen."