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Ende des INF-Vertrages
„Nicht in Kategorien des Kalten Krieges zurückfallen“

Abrüstung statt Aufrüstung. Das ist das Ziel des INF-Vertrages, den die USA und die Sowjetunion 1987 unterzeichneten. Nun läuft das historische Abkommen aus. Für Europa komme es jetzt darauf an „kühlen Kopf“ zu bewahren, rät Rüstungskontrollexperte Oliver Thränert von der ETH Zürich.

Oliver Thränert im Gespräch mit Bastian Rudde |
Auf dem militärischen Testgelände der US-Armee in Cape Canaveral (Florida) hebt eine Mittelstreckenrakete vom Typ Pershing II von der Startrampe ab. Aufnahme vom Mai 1988. |
Auf dem militärischen Testgelände der US-Armee in Cape Canaveral (Florida) hebt eine Mittelstreckenrakete vom Typ Pershing II von der Startrampe ab. Aufnahme vom Mai 1988. (picture-alliance / dpa / Photoreporters)
Bastian Rudde: Er ist der Vertrag, der dem nuklearen Wettrüsten im Kalten Krieg ein Ende setzte: der INF-Vertrag. Darin vereinbarten 1987 die USA und die damalige Sowjetunion, angsteinflößende Waffensysteme wie Pershing und SS20 zu vernichten sowie in Zukunft keine neuen landbasierten und atomwaffenfähigen Mittelstreckenraketen zu stationieren. Abrüstung statt Aufrüstung. Besonders bedeutsam damals für Europa und damit für Deutschland, das eingekesselt war in dieser bedrohlichen Situation.
Zeitlich befristet war INF nicht, hätte also ein Vertrag werden können für die Ewigkeit. Vor einem halben Jahr jedoch haben die USA INF gekündigt. Sie und die NATO werfen Russland vor, sich nicht mehr daran zu halten. Daraufhin kündigte auch Russland INF auf, am Freitag läuft der historische Vertrag offiziell aus.
Wird damit die Situation in Europa wieder bedrohlicher werden? Das habe ich vor dieser Sendung Oliver Thränert gefragt. Er ist Experte für Rüstungskontrolle und Leiter des Zentrums für Sicherheitsstudien an der ETH Zürich.
Oliver Thränert: Man sollte nicht wieder in Kategorien des Kalten Krieges zurückfallen. Russland ist nicht die Sowjetunion. Es geht nicht darum, dass wir mit einer umfassenden, militärischen Invasion, mit der Gefahr einer solchen, konfrontiert sind. Aber Russland stellt eine Bedrohung für die Flanken der NATO, für die Flanken der Europäischen Union dar, insbesondere für das Baltikum, für Polen. Und da ist das Ende des INF-Vertrages sicherlich ein sehr schlechtes Zeichen. Denn Russland ist auf Grund des Endes dieses Vertrages frei, konventionelle oder nuklearbewaffnete Mittelstreckenraketen zu stationieren, die dann auch Ziele bis weit hinein nach Westeuropa erreichen kann.
Vertragbruch "recht eindeutig" auf Seiten Russlands
Rudde: Es geht ja um das russische Waffensystem 9M729, im NATO-Jargon SSC8. Die NATO und die USA sagen, es verstößt gegen INF, weil die Reichweite deutlich über der Obergrenze von 500 km liegt. Russland bestreitet das. Wem glauben Sie eigentlich?
Thränert: Ich denke, das ist recht eindeutig. Es gibt ja eine Erklärung aller NATO-Außenminister, die gesagt haben, dass Russland mit diesem System, das es bereits auch an wahrscheinlich vier Standorten stationiert hat, gegen den INF-Vertrag verstößt. Hinzu kommt, dass wir ja auch wissen, dass der Streit um dieses System nicht erst unter Präsident Trump angefangen hat, sondern das bereits zu Zeiten von Barack Obama hier die Sorge vorherrschte, dass Russland mit diesem System, dass Sie genannt haben, mit der SSC8, gegen den INF Vertrag verstößt. Und von daher denke ich, dass es doch recht eindeutig ist, dass hier das Problem bei Russland liegt.
Rudde: Jetzt haben Sie den Rand der EU, das Baltikum schon angesprochen. Was ist denn da in Zukunft zu erwarten? Noch mehr NATO-Soldaten auch aus Deutschland?
Thränert: Es wird sicherlich darauf ankommen, vor allen Dingen auch die konventionelle Verteidigungs- und Abschreckungsfähigkeit der NATO zu verbessern. Da hat es ja verschiedene Maßnahmen bereits gegeben. Unter anderem die Stationierung, die Sie angesprochen haben, von Bundeswehrsoldaten und anderen NATO-Soldaten im Baltikum. Es geht vor allen Dingen auch darum, diesen relativ geringen Umfang an Soldaten, der dort im Baltikum stationiert ist, zu unterstützen mit Streitkräften, die dort in die Region verschoben werden könnten, wenn es denn im Rahmen eines Konfliktes notwendig wird. Und ich glaube, die NATO ist da auf einem recht guten Weg, aber man muss auch da am Ball bleiben sozusagen.
"Dekonstruktion der Rüstungskontrollarchitektur"
Rudde: Wie groß ist denn jetzt die Herausforderung für die EU, sich nicht in eine mögliche Aufrüstungsspirale mit reinziehen zu lassen?
Thränert: Ich glaube, es kommt sehr darauf an, dass man jetzt kühlen Kopf bewahrt. Deswegen habe ich zu Anfang dieses Gesprächs auch darauf verwiesen, dass es jetzt nicht darum gehen kann in Denkkategorien des Kalten Krieges zurückzufallen. Die Situation ist schon problematisch, weil wir vor allen Dingen sehen, dass mit dem Ende des INF-Vertrages hier die völlige Dekonstruktion der einstmaligen Rüstungskontrollarchitektur droht. Es gibt ja dann nur noch einen Vertrag zwischen Russland und den USA über die Begrenzung von strategischen Kernwaffen. Ansonsten haben wir ja praktisch fast nichts mehr von dem, was wir ja während des Kalten Krieges zwischen Ost und West mal aufgebaut haben.
Das ist eine bedrohliche Situation. Und die EU, die NATO, die Europäer sollten versuchen, hier initiativ zu werden, um diese Rüstungskontrollarchitektur wieder auf den Weg zu bringen. Aber es ist ein sehr schwieriges Unterfangen, unter anderem weil es heute eben nicht nur um nukleare Technologien geht, sondern auch um viele nichtnukleare Technologien. Und hinzukommt, dass ein Grund, warum weder Amerika noch Russland mit dem INF Vertrag schon seit einiger Zeit zufrieden waren, war, dass Staaten wie China gerade in dem Reichweitenband dass durch den INF–Vertag verboten worden war, aufrüsten. Und das zeigt, dass es heute nicht mehr nur um Europa geht, sondern dass es um globale Probleme geht.
Rudde: Was bedeutet diese ganze Diskussion für die Debatte in Deutschland um das Zwei-Prozent-Ziel der NATO, also dass Deutschland zwei Prozent seines Bruttoinlandsproduktes fürs Militär ausgibt? Momentan ist es ja deutlich weniger?
Thränert: Ja, die zwei Prozent des Bruttosozialproduktes sind eine mehr oder weniger künstliche Zielmarke, die man dort innerhalb der NATO mal definiert hatte auch zu Zeiten noch als Barack Obama im Weißen Haus saß. Es geht darum, die Bundeswehr, die anderen Streitkräfte in und für Europa zu stärken, besser auszubilden. Da gilt es einiges zu tun. Ob das nun bei zwei Prozent rauskommt oder weniger, das ist nicht das Entscheidende. Das Entscheidende ist, dass die Streitkräfte effizienter werden.
"Mix aus Verteidigungsfähigkeit und Dialog"
Rudde: Was Sie eben genannt haben, das geht aus Sicht der EU und der NATO doch aber in Richtung Aufrüstung. Was wäre, wenn Europa ein ganz anderes Signal senden würde, nämlich eines der Abrüstung sozusagen. Würde Russland das als ein Signal der Schwäche wahrnehmen? Ist es deswegen keine Alternative?
Thränert: Das könnte sicherlich gut sein, wenn man mit Russland in eine solche Richtung marschieren könnte. Dafür gibt es allerdings im Moment keinerlei Hinweise. Für den Moment denke ich, wie auch während des Kalten Krieges sollte man durchaus zweigleisig vorgehen. Also man muss die eigene Verteidigungs- und Abschreckungsfähigkeit sicherstellen und eben auf der anderen Seite versuchen, den Dialog mit Russland aufzunehmen, wenn man einseitig abrüsten würde, würde das glaube ich in der Tat von Russland eher als Zeichen der Schwäche aufgenommen werden und würde sicherlich am Ende in mehr Instabilität und möglicherweise sogar in mehr Kriegsgefahr münden.
Rudde: Morgen läuft INF offiziell aus. Einen Tag haben wir also noch. Sehen Sie irgendwelche Zeichen, wie INF am letzten Tag noch gerettet werden könnte?
Thränert: Nein, die sehe ich leider nicht. Das würde ja voraussetzen, dass Russland sich bereit erklären würde tatsächlich das System, die SSC8 wieder abrüsten zu wollen und da sehe ich jetzt keinerlei Hinweise. Moskau hat das ganz bewusst getan. Sie wollen Unruhe säen zwischen den Europäern innerhalb der NATO und da muss man eben kühlen Kopf bewahren und muss sehen, dass Russland das Ziel, die europäischen die transatlantische Einheit zu gefährden, nicht erreicht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.